4.1. Allgemeine Grundsätze |
Adipositas ist als eigenständige komplexe chronische Erkrankung einzuordnen und entsprechend zu behandeln |
Die Betreuung von Menschen mit Übergewicht oder Adipositas soll multidisziplinär durch entsprechend qualifizierte Fachkräfte (ÄrztInnen, DiätologInnen, PhysiotherapeutInnen, SportwissenschaftlerInnen und ErnährungswissenschaftlerInnen mit entsprechender Zusatzausbildung sowie PsychotherapeutInnen bzw. klinische PsychologInnen oder GesundheitspsychologInnen) erfolgen |
Der Umgang mit Menschen, die von Übergewicht oder Adipositas betroffen sind, soll respektvoll, empathisch und vorurteilsfrei erfolgen. Auf ihre Bedürfnisse und Ängste soll eingegangen werden |
Die Art und Intensität der Gewichtsinterventionen sollen angepasst an das persönliche Risiko der Person mit Übergewicht bzw. Adipositas, an ihre Präferenzen, sozialen Umständen und Erfahrungen mit vorangegangenen Versuchen, Gewicht zu reduzieren, und an ihr Potenzial zur Verbesserung des Gesundheitszustands erfolgen |
Die Betreuenden müssen sich des Aufwands, der notwendig ist, um Gewicht zu verlieren, Gewicht zu halten bzw. eine neuerliche Gewichtszunahme zu verhindern, und der Stigmatisierung, die Menschen mit Adipositas empfinden können, bewusst sein |
Jede geplante Intervention soll mit den betroffenen Personen besprochen und ihr Einverständnis im Sinne eines „Shared decision-making“-Prozesses eingeholt werden |
Das soziale Umfeld der betroffenen Personen soll, soweit möglich und gewünscht, unterstützend in die Betreuung miteinbezogen werden |
4.2. Diagnose |
Die Diagnose von Übergewicht und Adipositas erfolgt anhand des Body Mass Index (BMI). Von Übergewicht spricht man bei einem BMI ≥ 25 kg/m2, von Adipositas bei einem BMI ≥ 30 kg/m2 (Tab. 1) |
Bei Personen mit ungewöhnlich großer (darunter SportlerInnen) oder kleiner Muskelmasse muss die Interpretation des BMI mit Vorsicht erfolgen |
Eine Messung des Taillenumfangs sowie Bioimpedanzanalyse (BIA), wenn verfügbar, ist empfohlen zur Komplettierung der klinischen Untersuchung |
4.3. Abschätzung des Risikos für Adipositas-assoziierte Erkrankungen |
Die ausschließliche Verwendung des BMI ist für die Beurteilung der gesundheitlichen Relevanz von Übergewicht nicht ausreichend |
Zur individuellen Risikoabschätzung sollen BMI, Taillenumfang und das Vorliegen von Begleiterkrankungen herangezogen werden (Abb. 1; Tab. 2) |
Bei der Bestimmung des individuellen Gesamtgesundheitsrisikos sind zusätzlich weitere Risikofaktoren wie Ethnie, Alter, Geschlecht, Rauchen etc. zu berücksichtigen |
4.4. Spezifische Anamnese |
Zur Feststellung potenzieller Ursachen für Übergewicht/Adipositas und als Grundlage für die Entwicklung eines umfassenden strukturierten Behandlungsplans soll Folgendes erhoben werden: – Persönliche Einschätzung des eigenen Körpergewichts, der Adipositas-Diagnose und der Gründe für die Gewichtszunahme – Gewichtsverlauf – Bereits durchgeführte Gewichtsreduktionsversuche; welche Erfahrungen wurden damit gemacht? – Psychosozialer Stress, psychiatrische Störungen, Essstörungen – Familiäres und soziales Umfeld – Hinweise auf organische oder genetische Ursachen für Übergewicht/Adipositas – Familienanamnese hinsichtlich Übergewicht/Adipositas und damit assoziierten Komorbiditäten – Medikamentenanamnese (insbesondere im Hinblick als Ursache für Übergewicht/Adipositas); Möglichkeiten zur Optimierung der Medikation von Begleiterkrankungen (Tab. 2). – Inwieweit ist eine gewichtsreduzierende Intervention im Hinblick auf eine Verbesserung des individuellen Gesundheitszustands sinnvoll? – Sind Motivation und Bereitschaft abzunehmen gegeben? |
4.5. Indikationen zur therapeutischen Intervention |
Lebensstilmaßnahmen (s. Abschn. 4.7–4.9) sind indiziert bei – BMI ≥ 25 kg/m2 mit Begleiterkrankungen/Risikofaktoren (Tab. 2), die durch eine Gewichtsreduktion günstig beeinflusst werden können, oder – BMI ≥ 30 kg/m2 oder – BMI ≥ 25 kg/m2 bis < 30 kg/m2 ohne Begleiterkrankungen/Risikofaktoren (Tab. 2) können gewichtsreduzierende Maßnahmen empfohlen werden bei einem Leidensdruck der Betroffenen |
Pharmakologische Therapien (s. Abschn. 4.10) sind indiziert bei – BMI ≥ 30 kg/m2 oder – BMI ≥ 27 kg/m2 mit Begleiterkrankungen/Risikofaktoren (Tab. 2) |
Bariatrisch-chirurgische Eingriffe sind indiziert, wenn ein suffizienter Gewichtsverlust durch konservative Therapiemaßnahmen nicht erreicht werden kann – Bei Personen mit BMI ≥ 35 kg/m2, deren Gesundheit durch eine Gewichtsreduktion günstig beeinflusst werden kann – Bei Personen mit einem BMI ≥ 30 kg/m2 und Adipositas-assoziierten Komorbiditäten kann eine bariatrische Operation in Erwägung gezogen werden |
4.6. Lebensstilinterventionen |
Lebensstilmaßnahmen stellen die Basistherapie bei allen Personen mit Indikation zur gewichtsreduzierenden Intervention dar |
Therapieziel ist ein Gewichtsverlust von 0,25–1 kg pro Woche bzw. von 5–10 % des Ausgangsgewichts innerhalb von 6 Monaten |
Interventionen zur Lebensstiländerung sollen immer folgende Komponenten umfassen – Änderung der Essgewohnheiten, energiereduzierte Ernährung – Steigerung der körperlichen Aktivität – Unterstützende Maßnahmen zur Verhaltensänderung (s. Abschn. 4.11) |
Durch die Maßnahmen soll ein Energiedefizit entstehen, d. h. der tägliche Energieverbrauch ist größer als die tägliche Energieaufnahme |
Maßnahmen zur Lebensstiländerung sollen an die individuelle Situation (z. B. Fitnesslevel, Gesundheitszustand, aktueller Lebensstil) bzw. die Präferenzen der zu behandelnden Person angepasst werden. Das berufliche und persönliche Umfeld soll miteinbezogen werden |
Die Lebensstiländerung soll dauerhaft sein |
Die Betreuung muss jeweils durch Personen mit einer Ausbildung in den entsprechenden Gesundheitsberufen erfolgen |
Die Betreuung kann individuell oder in Gruppen erfolgen |
4.7. Energiereduzierte Ernährung |
Vor Beginn soll Folgendes erhoben werden: – Essverhalten, Lebensmittelpräferenzen, Zusammensetzung und Kalorienmenge der derzeitigen Ernährung – Nahrungsmittelallergien und -unverträglichkeiten – Ausmaß der körperlichen Aktivität – Energiegrundumsatz, kalorimetrisch ermittelt oder geschätzt z. B. nach der Harris-Benedict-Formel (Tab. 3) – Gesamtumsatz, geschätzt auf Basis des Grundumsatzes, korrigiert um einen aktivitätsabhängigen Faktor (Tab. 3) |
Durch die energiereduzierte Ernährung soll ein tägliches Energiedefizit von 500–600 kcal bezogen auf den Gesamtumsatz erreicht werden (Abb. 3) |
Die Ernährung soll an die individuellen Ernährungsgewohnheiten und Nahrungsmittelpräferenzen und an das Risikoprofil und das Alter angepasst sein |
Für die energiereduzierte Ernährung sind unterschiedliche Ernährungsformen gleich gut geeignet, sofern diese über einen ausreichenden Zeitraum zu einem Energiedefizit führen, ausgewogen sind und keine Gesundheitsschäden hervorrufen |
Mögliche zusätzliche Interventionen zur Unterstützung der Einhaltung einer energiereduzierten Ernährung sind: – Ein strukturierter Ernährungsplan – Vorgepackte Portionen für die einzelnen Mahlzeiten – Mahlzeitenersatz durch Formula-Produkte – Alleinige Ernährung mit Formula-Produkten (täglicher Energiegehalt min. 800–1200 kcal). Diese sollen nicht routinemäßig, nur unter ärztliche Aufsicht und nur zeitlich begrenzt eingesetzt werden – Modifiziertes intermittierendes Fasten |
Ernährungstherapie (inklusive Erstellung des Therapieplans und Monitoring) muss durch qualifizierte Ernährungsfachkräfte (z. B. DiätologInnen) in Form von Einzel- oder Gruppenberatung durchgeführt werden |
Betroffene Personen sollen über Ziele, Prinzipien und praktische Aspekte einer Ernährungsumstellung informiert werden |
4.8. Steigerung von körperlicher Aktivität und Fitness |
Betroffene Personen sollen darüber informiert werden, dass eine Steigerung der körperlichen Aktivität auch unabhängig von einer Gewichtsreduktion günstige Effekte auf die Gesundheit hat |
Für die Steigerung der körperlichen Aktivität sollen verständliche und realistische Ziele gesetzt werden |
Auf die Unterschiede zwischen der Steigerung der Alltagsaktivität und Training soll hingewiesen werden |
Die im Rahmen der Lebensstilintervention geplanten Aktivitäten sollen dem täglichen Leben angepasst sein (z. B. schnelles Gehen, Radfahren, Gartenarbeit, Stiegensteigen etc.) |
Die körperliche Aktivität soll mit insgesamt mittlerer Intensität für zumindest 150–300 min pro Woche (idealerweise 5 bis 10 Einheiten zu je 30 min) erfolgen |
Eine Kombination von Kraft- und Ausdauertraining wird empfohlen |
Krafttraining soll unregelmäßige kurze intensive Einheiten und längere, kontinuierliche Übungen umfassen (mindestens 2 Einheiten pro Woche unter Einschluss aller großen Muskelgruppen) |
Die Beratung (inklusive Erstellung des Therapieplans und Monitoring) soll nach Möglichkeit durch qualifizierte Fachkräfte in Bewegungs‑/Sporttherapie (Tab. 4, Empfehlungen 4.1) erfolgen |
4.9. Maßnahmen zur Verhaltensänderung |
Verhaltenstherapeutische Interventionen sollen von Personen aus Gesundheitsberufen mit psychotherapeutischer Kompetenz (z. B. klinische PsychologInnen, GesundheitspsychologInnen, PsychotherapeutInnen) im Rahmen von Einzel- oder Gruppensitzungen durchgeführt werden |
Verhaltenstherapeutische Maßnahmen sollen an die individuelle Situation angepasst sein und verschiedene Elemente enthalten, wie z. B.: – Motivierende Gesprächsführung – Selbstmonitoring des Verhaltens und des Therapiefortschritts – Stimuluskontrolle – Setzen und Evaluieren von individuellen Zielen – Gesundes Essverhalten (u. a. Geschwindigkeit, situative Faktoren) – Strukturierte Essenspläne (in Zusammenarbeit mit DiätologInnen) – Soziale Unterstützung – Problembewältigungsstrategien – Anleitung zur Selbstbehauptung – Kognitive Restrukturierung – Festigung von Veränderungen – Rückfallprävention und -management |
4.10. Pharmakologische Gewichtsreduktion |
Eine pharmakologische Intervention zur Gewichtsreduktion soll nur mit Medikamenten erfolgen, die in dieser Indikation zugelassen sind (Tab. 5) |
Missbräuchlicher Einsatz von Arzneimitteln mit gewichtsreduzierender Wirkung (z. B. Amphetamine, Diuretika, humanes Choriongonadotropin, Testosteron, Thyroxin, Wachstumshormone, Botox-Instillation) ist zu unterlassen |
Vor dem Beginn einer pharmakologischen Intervention zur Gewichtsreduktion sollen die zu erwartenden Effekte, Risiken und Nebenwirkungen sowie die für die Behandlung notwendigen Kontrollen besprochen werden |
4.11. Evaluierung gewichtsreduzierender Interventionen |
Bei Personen, die das Therapieziel (Gewichtsreduktion um ≥ 5 % des Ausgangsgewichts) nach 3 bis 6 Monaten nicht erreicht haben, soll eine (Re‑)Evaluation des Behandlungsplans erfolgen. Dazu sollen BMI und Taillenumfang und nach Möglichkeit auch die Körperzusammensetzung (mittels BIA) erhoben und mit der letzten vorangegangenen Untersuchung verglichen werden |
Medikamentöse Therapien haben zum Ziel, innerhalb von 3 bis 4 Monaten nach Erreichen der Zieldosis bzw. der höchsten verträglichen Dosierung eine Reduktion des Körpergewichts um zumindest 5 % zu erreichen [49–53] |
4.12. Gewichtserhaltende Interventionen |
Zur Prävention und zum Management von postinterventioneller Gewichtszunahme hat die Österreichische Adipositas Gesellschaft (2023) eigene Konsensusempfehlungen herausgegeben [17] |