Tab. 1.
Überblick über die Kanadischen Konsensuskriterien, Haupt- und Nebenkriterien, mögliche entsprechende Symptome, unterstützende Fragebögen und Untersuchungsmethoden und -werkzeuge, die im Rahmen von Studien auf eine verbesserte Diagnostik hindeuten
Kanadische Konsensuskriterien | Mögliche entsprechende Symptome | Unterstützende Fragebögen | Differenzialdiagnostik und Untersuchungsmethoden, die in Studien auf eine verbesserte Diagnostik hindeuten |
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Post-exertionelle Malaise (PEM) |
Belastungsintoleranz, Symptomexazerbation, Zustandsverschlechterung nach Überlastung, physiologische Aktivitäts-Erholungs-Dysfunktion Diese Verschlechterung tritt meist zeitverzögert (12–72h) auf und dauert in der Regel mind. 14–24h an, kann aber auch Tage oder länger anhalten. Auch eine permanente Verschlechterung ist möglich. Für weitere Information siehe auch: https://www.mecfs.de/was-ist-me-cfs/pem/ |
DePaul-Symptom Questionnaire für PEMa (DSQ-PEM) [76] Munich Berlin Symptome Questionnaireb (MBSQ) [75], Teil II |
a) Abklärung von pathologischen Befunden in Ruhe (eingeschränkte Sauerstoffversorgung der Muskulatur, gestörter Energiestoffwechsel, Amyloidablagerungen, Mikrogefäßschäden, mitochondriale Dysfunktion, arterieller Gefäßsteifigkeit) (in Studien): [38, 40, 42, 77] |
Angiologische Untersuchungen mittels EndoPAT bzw. flussvermittelter Vasodilatation (FDM) an der A. brachialis oder mittels postocclusiver-reaktiver Hyperämie (PORH) – Messung, Oxygen-To-See (O2C), Nagelfalzmikroskopie, venöses Pooling | |||
Analyse der retinalen Mikrozirkulation [78] | |||
Blutuntersuchung auf zirkulierende Mikroclots [79–82] | |||
Blutuntersuchung oder Muskelbiopsie zur Abklärung einer mitochondrialen Dysfunktion [1, 83–86] | |||
Blutuntersuchung auf erhöhte Laktatwerte [87–89] | |||
b) Abklärung einer pathologische physiologische Aktivitäts-Erholungsreaktion: | |||
Doppelte Handkraftmessung [41] mit jeweils 10 Zügen im Abstand von mindestens einer Stunde | |||
Kardiopulmonaler Belastungstest an zwei aufeinander folgenden Tagen im Abstand von 24 Stunden: [42, 44] Da dieser Test bei ME/CFS-Erkrankten zu einer dauerhaften Verschlechterung des Gesundheitszustandes führen kann, soll das Verfahren außerhalb von Studien nicht [39, 43] und auch dann nur wie von Faghy et al. 2024 beschrieben, adaptiert angewendet werden [90] | |||
Blutuntersuchung auf inadäquate Laktatakkumulation [87–89] | |||
Pathologische Fatigue mit Einschränkungen der Alltagsfunktion | „Zu den vorausgegangenen Anstrengungen unverhältnismäßige, durch Schlaf nicht zu beseitigende körperliche, geistige und/oder seelische Erschöpfung“ [12] |
Fatigue Assessment Scalec (FAS) Fatigue Skala (FS) [91] Fatigue Severity Scale (FSS) [92] Chalder Fatigue Questionnaire (CFQ) [93] MBSQ [75], Teil I |
Differentialdiagnostik/Abgrenzung anderer Ursachen für Fatigue, falls entsprechende klinische Hinweise vorliegen, [6] z. B. Sarkoidose, Lupus erythematodes (LE), Morbus Bechterew, Psoriasisarthritis, Sjögren-Syndrom, Kollagenosen, Fibromyalgie, Diabetes mellitus, Hypothyreose, Hashimoto-Thyreoiditis, Morbus Addison, Hyperkalzämie, Endometriose, Anämie, Eisenmangel, Vitaminmangel, maligne Erkrankungen („Tumorfatigue“), Z. n. onkologischer Therapie, angeborene Immundefekte (z. B. CVID), postinfektiöse Fatigue ohne ME/CFS, posturales Tachykardiesyndrom (POTS) und andere Dysautonomie-Syndrome, ZNS-Borreliose, AIDS, chronische Sinusitis, chronische Hepatitis, Mastzellaktivierungssyndrom (MCAS), Depression |
Anmerkung: [6] Es ist entscheidend, stets nach dem Vorliegen von PEM zu fragen, um ME/CFS von anderen Erkrankungen mit Fatigue zu unterscheiden (z. B. Fibromyalgie, Depression). Jedoch schließen Komorbiditäten wie z.B. Hashimoto-Thyreoditis, Fibromyalgie, POTS oder ein hypermobiles Ehlers-Danlos-Syndrom eine ME/CFS auch nicht aus | |||
Schlafstörungen |
Einschlafstörung, Durchschlafstörung, Verschobener Schlaf‑/Wachrhythmus, Nicht erholsamer Schlaf |
Jenkins Sleeping Scale [94] (kurz) MBSQ [75], Teil III |
Abklärung anderer Ursachen von Schlafstörungen: |
Overnight Oxymetrie zu Hause [95] | |||
Screening auf obstruktive Schlafapnoe (OSAS) bei V. a. Monotonie-Intoleranz | |||
Schlaflabordiagnostik bei sehr ungewöhnlichen Schlafmustern oder Verdacht auf obstruktive Schlafapnoe [6] | |||
Schmerzen | Kopfschmerzen, Muskel‑/Gelenkschmerzen, Nervenschmerzen, Knochenschmerzen, Parästhesien, Temperaturstörungen, Sensibilitätsstörungen, „pins and needles“, Muskelzucken, „restless legs“, Hypermobilität [96] |
MBSQ [75], Teil IV Somatic Symptom Scale – 8 (SSS-8) [97] SFN-SIQ Fragebogen zur Einschätzung einer Small-Fiber-Neuropathie [98] |
a) Differentialdiagnostik/Abgrenzung anderer Ursachen, v. a. Migräne, HWS-Syndrom, Polyneuropathie (PNP), ZNS-Borreliose, Durchführung neuroorthopädischer Status [99] |
b) Abklärung einer Small-Fiber-Neuropathie (SFN) | |||
Hauptbiopsie und neuropathologische Untersuchung in einem spezialisierten Labor (PGP 9.5), ev. zusätzlich mit Beurteilung der Mastzellen [50, 100] | |||
Testung der Schweißsekretion oder der elektrischen Leitfähigkeit der Haut, z. B. mittels Sudoscan oder Biofeedback-Untersuchung | |||
c) (Re‑)Infektionsdiagnostik und -Labor, v. a. bei chronischen Kopfschmerzen | |||
d) Abklärung einer Hypermobilität: [101] | |||
Beighton-Score, Checkliste für hypermobiles Ehlers-Danlos-Syndrom (hEDS) [102] | |||
evtl. Zeichen einer kraniozervikalen Instabilität (CCI) [103] | |||
e) Abklärung des Tethered-Cord-Syndroms (TCS): | |||
Sakrale Grübchen/Haaren, evtl. LWS-MRT in Bauchlage (wenn verfügbar) [104] | |||
f) Abklärung eines POTS (mögliche Erklärung für Kopf- und Nackenschmerzen) (siehe auch „autonome Manifestationen“) [102, 105] | |||
g) Abklärung von Mastzellüberaktivität/MCAS als mögliche Ursache für Kopf- und andere Schmerzen [102, 106] | |||
Neurologische/kognitive Manifestationen |
Kurzzeitgedächtnis-, Konzentrationsstörungen, Aufmerksamkeitsstörungen, „brain fog“, Wortfindungsstörungen, Reizempfindlichkeit (Licht, Geräusche Berührungen), Ataxien, Muskelzuckungen, Muskelschwäche |
MBSQ [75], Teil V MoCA-Test, [107] Reaktionszeit-Test [108] |
a) Differentialdiagnostik/Abgrenzung anderer Ursachen von kognitiven Defiziten: [99] z. B. MS, Demenz |
cMRT, (Re‑)Infektionsdiagnostik, neurologische/psychiatrische Diagnostik | |||
b) Abgrenzung von sekundären, reaktiven psychischen Problemen/Störungen (z. B. Depression, Ängste): Siehe dazu Grande et al. 2023 [71] und Gole 2023 [109] | |||
c) Neuropsychologische Untersuchung mit Fokus auf ME/CFS-typische Probleme bzgl. Konzentration, Aufmerksamkeit, Kurzzeitgedächtnis, verlangsamte Informationsverarbeitung [110–112] | |||
Cave: Auch hier ist es wichtig, PEM zu berücksichtigen und den MoCA-/Reaktionszeit-Test im Abstand von einer Stunde wiederholt durchzuführen | |||
d) Screening auf Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS), [113] v. a. im Hinblick auf die Adhärenz in Bezug auf Medikamenteneinnahme und Pacing | |||
e) Abklärung eines POTS, da dabei Probleme mit Konzentration, Aufmerksamkeit, Kurzzeitgedächtnis, verlangsamter Informationsverarbeitung häufig sind: [112] | |||
Schellong-Test | |||
NASA-Lean-Testd | |||
Kipptischuntersuchung (mit Near-Infrared Spectroscopy oder Carotis – Sono um Durchblutungsstörungen zu erkennen) [45, 46] | |||
f) Abklärung von Mastzellüberaktivität/MCAS als mögliche Ursache für kognitive Einschränkungen | |||
g) Blutuntersuchung auf zirkulierende Mikroclots (kognitive Einschränkungen durch z. B. eingeschränkte Sauerstoffversorgung) (Studien) [79–82] | |||
h) Bildgebung zur Feststellung von metabolischen oder Perfusionsstörungen, z. B. PET-MRT (nur in Studien) | |||
Autonome Manifestationen, v. a. orthostatische, aber auch vasomotorische, sekreto-/sudomotorische, gastrointestinale, urogenitale, pupillomotorische Dysfunktionen |
Palpitationen, Tachykardie, Schwindel, Ohnmachtsneigung, kognitive Dysfunktionen, Kurzatmigkeit, vermehrtes Schwitzen, Temperaturregulationsstörungen, Schluckstörung, Verdauungsstörungen, Sehstörung, Lichtempfindlichkeit, Harnblasendysfunktionen |
COMPASS31-Fragebogene [114] MBSQ, [75] Teil VI SFN-SIQ [98] |
a) Differentialdiagnostik/Abgrenzung anderer Ursachen siehe auch Frontera et al. 2023 [99] und Blitshteyn et al. 2022 [115] |
b) Abklärung von POTS und OH: | |||
Schellong-Test | |||
NASA-Lean-Testd | |||
Kipptischuntersuchung (mit Near-Infrared Spectroscopy oder Carotis-Sono um Durchblutungsstörungen zu erkennen) [45, 46] | |||
Bei OH auch Abklärung einer Nebenniereninsuffizienz | |||
c) Abklärung von Mastzellüberaktivität/MCAS als mögliche Ursache von Palpitationen, Tachykardie, Schwindel, vermehrtem Schwitzen, Verdauungsstörungen etc. | |||
d) Abklärung einer SFN als Ursache von sekreto-/sudomotorischer Dysfunktion | |||
Hauptbiopsie und neuropathologische Untersuchung [50, 100] | |||
Testung der Schweißsekretion oder der elektrischen Leitfähigkeit der Haut, z. B. durch Sudoscan oder Biofeedback | |||
Neuroendokrine Manifestationen | Durstregulationsstörungen, Blutdruckstörungen, Schwitzen, Störungen des Tag-Wachrhythmus, Temperaturregulationsstörungen, Appetitlosigkeit, Schilddrüsenfunktionsstörungen, Nebennierenstörungen, Insulinresistenz |
MBSQ, [75] Teil VII |
a) Differentialdiagnostik/Abgrenzung anderer Ursachen |
b) Abklärung von Laborauffälligkeiten, die mit ME/CFS einhergehen können [116, 117] | |||
Thyreotrope Achse (HPT): z. B. niedrige Schilddrüsenhormonaktivität [118] | |||
Somatotrope Achse (HPS): z. B. mangelhafte Regulierung des Wachstumshormons (GH), [119] was zu Muskel- und Knochenschwund, Muskelschwäche, Glukose- und Fettstoffwechselstörung führen kann | |||
Gonadotrope (HPG)-Achse: evtl. frühere Menopause [120], Immundysregulation [121] | |||
Störungen der adrenokortikalen (HPA) Achse sollte niedrigschwellig getestet werden durch z.B.: Synacten-Test, Cortisol-Tagesprofil im Speichel, Osmolalität im Harn und Blut [116, 122, 123] | |||
c) Insulinresistenz (HOMA-Index) [124, 125] | |||
d) Neurotransmitteranalyse im Harn: [126] evtl. verminderte Katecholamine, Aminosäuren | |||
e) MRT-Hypophyse bei anamnestischen/laborparametrischen Hinweisen | |||
Immunologische Manifestationen |
Symptome, die einer Mastzellüberaktivität/einem diagnostizierten Mastzellaktivierungssyndroms (MCAS) entsprechen wie kardiale Symptome (Palpitation, Tachykardie, Synkopen), kutane Symptome (Urtikaria, Pruritus, Flush und Angioödem), respiratorische Symptome (Asthma, erschwertes Atmen, nasale Kongestion) und gastrointestinale Symptome (Schmerzen, Durchfall, Übelkeit und Erbrechen) [127–130]. Immunologische Dysfunktionen wie deutlich häufigere und/oder schwere Infektionen |
MBSQ, [75] Teil VIII |
a) Differentialdiagnostik/Abgrenzung anderer Ursachen wie z. B. Allergien, Asthma, Nahrungsunverträglichkeiten, chronisch-entzündliche Darmeerkrankungen, Zöliakie, Small Intestinal Bacterial Overgrowth (SIBO), Leaky-Gut-Syndrom bei gastrointestinalen Symptomen bzw. POTS und kardiale/pulmologische Ursachen bei den kardialen/pulmologischen Symptomen |
b) MCAS-Diagnostik laut Konsensus [127–130] (Messung von Tryptase, Histamin und DAO-Aktivität im Blut unter Beachtung der entsprechenden Präanalytik sowie von Histamin-Abbauprodukten und Leukotrienen im Urin). Histamin und DAO-Aktivität hauptsächlich zur Abgrenzung einer Histaminintoleranz | |||
Anmerkung: Bei den meisten ME/CFS-Patient:innen liegt keine MCAS, sondern eine Mastzellüberaktivität vor [131] | |||
c) Abklärung humoraler/zellulärer Immundefekte bei pathologischer Infektionsanfälligkeit entsprechend des Erregerprofils | |||
d) Infektionsdiagnostik bei spezifischen Infekt-assoziierten Symptomen | |||
e) Abklärung weiterer Autoimmun- bzw. rheumatologischer Erkrankungen: [6] | |||
z. B. Hashimoto-Thyreoiditis, bei ANA-Erhöhung Screening auf Antikörper gegen extrahierbare nukleäre Antigene (ENA) und auf Anti-dsDNS-Antikörper [132] | |||
Bei Sicca-Symptomatik Sjögren-Syndrom ausschließen [6] | |||
f) In Studien: Autoantikörper gegen adrenerge, muskarinerge und andere G‑Protein-gekoppelte Rezeptoren (GPCR); sie lassen sich bei einem Teil der Patient:innen nachweisen, sind aber nicht erkrankungsspezifisch | |||
g) In Studien: Dysbioseanalyse | |||
h) In Studien: Immuno-PET [133] |