Liebe Kolleginnen und Kollegen,
die COVID-19-Pandemie hat unseren Alltag verändert, schonungslos Missstände aufgedeckt und gleichzeitig anstehende Veränderungen katalysiert. Sie hat uns gewissermaßen als Lackmustest Unzulänglichkeiten in Gesellschaft und Gesundheitssystem und auch die eigenen Grenzen vor Augen geführt. Wir mussten lernen, wissenschaftliche Daten "mundgerecht" für jedermann darzustellen, zu interpretieren und notwendige Maßnahmen daraus abzuleiten - nicht nur in verständigen, sondern auch und gerade in ambivalenten und kritischen Bevölkerungsschichten. Auch mussten wir selbstkritisch anerkennen, dass wir, die wir uns wissenschaftlich oder wissenschaftsnah verstehen, in dieser Einschätzung auf die Kompetenz und Erfahrung von Experten angewiesen sind, dass uns das tägliche Studium des Corona-Tickers nicht zu Viro- oder Epidemiologen macht, und dass selbstverständlich die Auswahl der uns zur Verfügung stehenden Medieninformation einen Bias hat.
Worin unsere Expertise liegt, durften wir im zweiten Quartal unter Beweis stellen. Wir waren gefordert, mussten viele etablierte und "liebgewonnene" Routineabläufe über Bord werfen und uns in kurzer Zeit neu organisieren. Unsere Fachgruppe hat sich dem gestellt, dabei hat vieles sehr gut funktioniert. Kollegen, die in separierten Teams gearbeitet haben, erfuhren, welchen Nutzen es hat, Patienten praxisfern per Telefon oder Video zu erreichen. Um ehrlich zu sein, war auch ich selbst bis März diesbezüglich zögerlich, hatte ich doch den Standpunkt vertreten, dass der limitierende Faktor, nämlich meine Arbeitszeit, nicht dadurch beeinflusst wird, ob ich den Patienten in der Praxis oder per Video kontaktiere. Mit der Notwendigkeit von Beschränkungen physikalischer Kontakte hatte ich schließlich Gelegenheit, weitere Vorteile zu erkennen: Plötzlich gelang es, in der Praxis nur noch Patienten zu sehen, die dort auch untersucht und behandelt werden mussten. Beratungen und Verlaufskontrollen fanden vorzugsweise an meinen praxisfernen Tagen per Telefon oder Video statt, zu geplanten Zeiten. Der einzige Unterschied zu einem herkömmlichen Praxistermin bestand darin, dass die Patienten nicht im Warte-, sondern zuhause im Wohnzimmer warteten. In dieser Aufteilung konnte ich so viel Bereicherung für meinen Arbeitsalltag erkennen, dass diese (neue) Art der Organisation auch anschließend für definierte Zeitslots beibehalten wurde. Von Vorteil war auch, dass Patientenvorstellungen wegen Anspruchsverhalten oder Befindlichkeiten in den Hintergrund rückten, die Terminvergaben durch Terminservicestellen deutlich ausdünnten, und es stattdessen endlich wieder um "echte" medizinische Notwendigkeit ging. "Nicht auf jeden Nerv gehört ein Nervenarzt" war das Credo eines älteren zuweisenden Hausarztes, der sich nun leider im Ruhestand befindet. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Nachfolger weiter auf diese Haltung besinnen: fachärztliche Über- und Zuweisung gern auch niederschwellig, bei konkreter Fragestellung und Notwendigkeit, nicht aber per "Laufzettel" zur Entlastung der eigenen Praxis.
Wir durften auch erleben, wie wichtig die Schnittstellen zwischen Kompetenzbereichen sind. Als Negativbeispiel sei exemplarisch die Testung von Reiserückkehrern in Bayern genannt, als die epidemiologischen Hinweise auf einen Anstieg der Fallzahlen in den Urlaubgebieten von politischer Seite mit dem Wunsch nach Demonstration einer "harten Hand" angeordnet wurden, ohne dabei auf Testkapazitäten und logistische Strukturen des öffentlichen Gesundheitswesens Rücksicht zu nehmen. Der Vorteil unserer Gesellschaft gegenüber autokratischen Strukturen ist das gemeinsame, sich gegenseitig verstärkende Zusammenwirken. Es muss gelingen, Akteure auf allen Ebenen mitzunehmen und zur Mitgestaltung zu ermutigen. In unseren Praxen ist das alltägliche Routine.
Entscheidende Fragen bleiben offen: Wie lange noch? Wird es eine Zeit nach Corona geben? Wie wird die aussehen? Die Drostens und Schmidt-Chanasits dieser Welt können uns im Augenblick hierauf keine vollständigen Antworten geben. Eine Frage lässt sich aber aus den bisherigen Erfahrungen bereits beantworten: Was nehmen wir mit? Aus gesellschaftlicher Sicht, dass wir beispielsweise unser Mobilitätsverhalten überdenken, etwa mit Blick auf Kurzstreckenflüge im Inland. Viele der früher zwingend notwendigen Gespräche in Flughafennähe werden sicherlich als Zoom-Meeting organisiert bleiben. Unweigerliche Erkenntnis ist aber auch, dass der persönliche Kontakt abseits des Protokolls durch nichts zu ersetzen ist. So werden wir zukünftig für Ihre Belange Berufspolitik gestalten: medial präsent und prägnant vor Ort.
Bleiben Sie weiter umsichtig und gesund, Ihr

