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Springer Nature - PMC COVID-19 Collection logoLink to Springer Nature - PMC COVID-19 Collection
. 2020 Oct 16;31(10):16–25. [Article in German] doi: 10.1007/s15016-020-7523-9

COVID-19-Pandemie als Weckruf für einen Strategiewechsel

Klaus Piwernetz 1,, Edmund Neugebauer 2,
PMCID: PMC7545800

Die COVID-19-Pandemie hat zwei Seiten unseres Gesundheitssystems aufgezeigt: Erstens zählt unser System zu den Besseren auf dieser Welt. Das gilt zumindest dann, wenn man absolute Zahlen betrachtet. Wird aber, zweitens, die Qualität auf die verfügbaren Mittel einbezogen, sieht die Sache schon anders aus.

In der Bewältigung der COVID-19-Pandemie hat unser Gesundheitssystem seine grundsätzlich hohe Leistungsfähigkeit gezeigt. Mit ihrem hohen Engagement und ihrer großen Kompetenz konnten die Leistungsträger in Klinik und Praxis die gesundheitlichen Auswirkungen auf die Bevölkerung während der exponentiellen Phase in Grenzen halten. Die niedergelassenen Ärzte haben dafür gesorgt, dass nur Patienten mit höheren Schweregraden zur stationären Behandlung eingewiesen wurden. Kliniken haben mit hohem Einsatz schwerkranke COVID-19-Patienten auf Intensivstationen und Beatmungsplätzen behandelt. Sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich haben die Einrichtungen eigenständig Lösungen aufgebaut, um die Behandlungen trotz widriger Umstände aufrechtzuerhalten und dennoch Mitarbeiter und behandelte Patienten vor Ansteckung zu schützen.

Andererseits haben eklatante Mängel die Arbeit der Leistungsträger erheblich behindert. An erster Stelle stehen die gleich zu Beginn aufgetretenen Defizite an Schutzkleidung, Masken und Desinfektionsmittel. Jeder erinnert sich noch an die Berichte über horrende Preisentwicklungen für Cent-Artikel und gekaperte Lieferungen in einem wild gewordenen Markt. Alle haben wir auch die Bilder vor Augen, wie sich Politiker stolz der Presse präsentierten, wenn wieder einmal Paletten mit Schutzmaterial eingetroffen waren. Weiter war rasch sichtbar, dass niemand einen Überblick über Kapazitäten zur Intensivbehandlung oder Beatmung hatte. Bereits ausgesonderte Beatmungsgeräte wurde reaktiviert, Flugzeug- und Automobilbauer begannen, neue Geräte zu bauen. Die Initiative DIVI [1] verfügte über eine Plattform, um Kapazitäten im Intensivbereich zu managen. Erst eine Verordnung des BMG sorgte schließlich dafür, dass alle Einrichtungen freie Kapazitäten meldeten.

Neben dieser fehlenden Transparenz wurde der informationstechnische Flickenteppich im Gesundheitswesen schmerzhaft sichtbar. Weder gab es eine einheitliche medizinische Dokumentation, noch war eine einfache Kommunikation zwischen Einrichtungen möglich. Die Personalknappheit in allen Bereichen sei nur am Rande erwähnt. Glücklicherweise wurden einige kürzlich erlassene Gesetze und Verordnungen zügig außer Kraft gesetzt. Schlimm war die Situation auch im Bereich des öffentlichen Gesundheitswesens in Bezug auf Personal und technische Ausstattung. Die Berichte über handschriftliche Übertragungen vom Bildschirm auf Papier, Übermittlung per Fax, händisches Übertragen in Excel-Tabellen und manuelle Zusammenführung zu "Pseudo-Datenbanken" werden wohl noch lange in Erinnerung bleiben.

Dass die Bevölkerung trotz dieser dunklen Seiten unseres Gesundheitssystems diese erste Welle relativ gut überstanden hat, ist nicht zuletzt der Kompetenz, dem Engagement und der Fähigkeit der Leistungsträger in Klinik und Praxis zu verdanken, sich selbst zu organisieren. Praxen haben einen Mehrschichtenbetrieb aufgebaut, Kliniken den Zugang infektionssicher gemacht und getrennte Teams gebildet. Dieser Wille zur Selbstorganisation ist ein hervorragendes Merkmal innerhalb der Gesundheitsversorgung, auf dessen Grundlage auch größere Herausforderungen bewältigt werden können. Er wurde allerdings in letzter Zeit insbesondere durch eine Überbetonung ökonomischer Aspekte arg strapaziert.

Nicht vergessen werden sollte die zusätzliche Krankheitslast der Patienten, die selbst in extremen Situationen wie akutem Herzinfarkt und Schlaganfall oder für notwendige onkologische Eingriffe keine Klinik aufsuchten - aus Angst sich anzustecken oder weil elektive Eingriffe abgesetzt wurden. Es wird eine der Aufgaben der Versorgungsforschung sein, diese Last a-posteriori abzuschätzen.

Erstarrung trotz wachsender Herausforderungen

Angesichts der zum Teil dramatischen Umstände während der COVID-19-Pandemie vergisst man leicht, dass sich das Gesundheitssystem bereits im Vorfeld zahlreichen Problemen gegenübersah. Man hat noch den Gesundheitsminister vor Augen, wie er im Ausland händeringend nach Pflegekräften suchte. Verordnungen und Gesetze zur Verbesserung der Situation der Pflegekräfte wie die Pflegepersonal-Untergrenzen-Verordnung (PpUGV) oder das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz (PpSG) lösen das Problem nicht wirklich, zumindest nicht kurzfristig. Eine Studie zur Krankenhaussituation in NRW [2] weist in einem Modell auf eine Lösungsoption hin, nach der eine Reduktion der Zahl von Krankenhausbetten die kritische Situation im Pflegebereich deutlich entschärfen würde und dabei die Qualität in folgenden Aspekten bewahrt bliebe: Zugang, Spezialisierung, Qualität und Wohnortnähe. Die digitale Transformation im Gesundheitswesen ist insgesamt noch eine einzige große Baustelle.

Die Herausforderungen der COVID-19-Pandemie haben einige offensichtliche Probleme unseres Gesundheitssystems in den Hintergrund des Interesses geraten lassen:

  • Unter-, Über- und Fehlversorgung,

  • fehlende Gesundheits- und Versorgungsziele,

  • mangelhafte Steuerbarkeit des Gesundheitssystems,

  • Ökonomie statt Patientenorientierung und Versorgungsqualität,

  • erheblicher Mangel an Pflegekräften,

  • rückständige Digitalisierung,

  • unzureichende Transparenz über Ergebnisse und Ressourceneinsatz,

  • qualitätsfeindliches Vergütungssystem,

  • strukturelle Selbstblockade der Selbstverwaltung im G-BA,

  • fehlende Integration durch Sektorierung,

  • unzureichende Investitionen in Krankenhäusern,

  • zu viele Krankenhausbetten,

  • unzureichende Sicherstellung der ambulanten Versorgung auf dem Land.

Als Folge dieser ungelösten Probleme ist der Gesetzgeber gezwungen, mit immer neuen Gesetzen zu versuchen, einige Auswüchse zu korrigieren. Beim Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) griff die Politik sogar bis in die unterste Versorgungsebene durch, um Wartezeiten zu reduzieren [3]. Das könnten die Leistungserbringer zusammen mit der Selbstverwaltung eigentlich selbst lösen. Das kann nicht wirklich Aufgabe des BMG sein.

Nachhaltige Verbesserungen werden durch Gesetze, Verordnungen und Richtlinien aber nicht wirklich erreicht, solange grundlegende Webfehler nicht korrigiert werden. Dies ist dadurch bedingt, dass das Gesundheitssystem aus Sicht der Systemtheorie komplex ist. Komplex bedeutet zum Beispiel, dass Wirkungen von gesetzlichen Maßnahmen nicht zuverlässig vorhergesagt werden können. Eigentlich haben solche Maßnahmen ja das Ziel, etwas zu verbessern. Die Ziele werden aber in aller Regel nicht konkret genannt, sie bleiben implizit. Gesetze greifen vielmehr in Versorgungsstrukturen mit der Erwartung ein, dass nach dem Inkrafttreten des Gesetzes Abläufe in der Gesundheitsversorgung geändert werden. Die Betroffenen des Gesetzes müssten dazu ihr Verhalten ändern, manchmal sogar ihre Einstellung. Unter diesen Umständen entwickeln sie aber bevorzugt sogenannte Escape-Strategien. Dabei werden zwar die gesetzlichen Vorgaben beachtet, parallel werden aber die Aussagen des Gesetzes zunächst neu interpretiert. Dann erst werden Prozesse so eingerichtet, dass den gesetzlichen Forderungen zwar Genüge getan wird, die eigenen Ziele aber weiterhin ungestört verfolgt werden können [4].

Im Ergebnis wird der Zweck des Gesetzes scheinbar erfüllt oder es treten Nebenwirkungen auf, auf die wiederum reagiert werden muss. Ein Beispiel dafür findet man in den Anreizen, die "über Nacht" für die ausgelobt wurden, die Kapazitäten für Intensiv- oder Beatmungspatienten schafften und elektive Eingriffe verschoben. Die vorhandenen Kapazitäten kannte man nicht, hatte aber Sorge, dass sie nicht ausreichen würden. Die Folgen sind oben beschrieben.

Bewertung nach der ersten Welle

In Deutschland war, verglichen mit vielen anderen Ländern, die Situation für COVID-19-Patienten deutlich besser als befürchtet. Gemessen am Aufwand und an den eigentlich vorhandenen Möglichkeiten unseres Gesundheitssystems ist jedoch immer noch einiges zu tun. Für Selbstgefälligkeit gibt es keinen Anlass.

Es besteht also kein Grund, sich selbst auf die Schultern zu klopfen und zu deklamieren "Unser Gesundheitssystem hat sich bewährt", "Gut, dass wir so viele Krankenhäuser haben", denn nur ein Drittel der Intensivplätze war wirklich mit Intensivpatienten belegt.

Wir müssen die Erstarrung des Gesundheitssystems überwinden und uns auf die Herausforderungen vorbereiten. Wir haben engagierte und kompetente Leistungsträger, ausgewiesene wissenschaftliche Fachleute, belastbares technisches Knowhow und ausreichende Mittel. Mit Gesundheits- und Versorgungszielen können wir zu einer neuen Verantwortlichkeit kommen. Selbstorganisation statt Selbstverwaltung. Mit Mut, Entschlossenheit und Energie können wir jetzt beginnen: Stategiewechsel jetzt! [4]

Pandemien gab es schon früher

"Deutschland ist bestmöglich vorbereitet!" schreibt das Innenministerium auf seiner Homepage [5]. Das ist richtig und falsch zugleich. Deutschland war gut vorbereitet, weil es

  • eine gesetzliche Grundlage für den Umgang mit Pandemien gibt,

  • seit langem ein Bundesamt für Bevölkerungs- und Katastrophenschutz (BBK) gibt,

  • ein bestens ausgestattetes und eingeübtes "Gemeinsames Melde- und Lagezentrum (GMLZ) von Bund und Ländern" gibt,

  • im RKI eine Abteilung "Ausbruchsmanagement" gibt,

  • einen aktuellen Nationalen Pandemieplan [6] gibt,

  • zahlreiche Landespandemiepläne gibt,

  • umfangreiche Vorerfahrungen aus früheren Pandemien gibt,

  • mehrere Übungen zum Ausbruch einer Pandemie gab,

  • Berichte zu den zahlreichen Übungen gibt, was zeitnah optimiert werden sollte (BBKS) [7],

  • nach Berichten des RKI mit ServNet ein funktionierendes IT-Kommunikationsnetz für Pandemien gibt.

Andererseits war Deutschland nicht gut vorbereitet, weil

  • die Hinweise aus den früheren Übungen nicht umgesetzt worden waren,

  • die Gesundheitsämter personell und technisch unzureichend ausgestattet waren,

  • die Verantwortlichkeiten nicht klar zugeordnet waren oder Verantwortung nicht erkennbar umgesetzt wurde,

  • die Verteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern ein stringentes, koordiniertes Vorgehen erschwert,

  • das GMLZ von Bund und Ländern kaum genutzt wurde,

  • die Kompetenzträger aus den unterschiedlichen Fachrichtungen nicht zeitnah, umfassend und koordiniert einbezogen wurden,

  • das ServNet und die Datenübermittlung insgesamt nicht wirklich funktioniert hat.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Deutschland war gut vorbereitet, aber sicher nicht bestmöglich. Leider wurden die guten Vorbereitungen nur unzureichend genutzt. Insbesondere die informationstechnische Grundlage und folglich auch die Datenlage waren einer führenden Industrienation nicht würdig.

Sehenden Auges in die erste Welle

Ernüchternd ist der Blick zurück auf die Entwicklung der COVID-19-Pandemie seit den ersten Berichten aus Wuhan. Die unzureichende Informationspolitik Chinas ist im internationalen Staatenverbund indiskutabel. Wir wollen uns hier jedoch nur auf das Geschehen in Deutschland konzentrieren.

Die Chronik des BMG beginnt am 27. Januar 2020 mit dem ersten bekannten COVID-19-Patienten in Deutschland. Die WHO erklärte den Ausbruch bereits am 30. Januar 2020 zu einem globalen Gesundheitsnotfall. Spätestens jetzt hätten die Betrachtungen zum Risikomanagement im Sinne von Best-case- und Worst-case-Analysen beginnen können. Alle Berichte vorheriger Übungen wiesen darauf hin, dass Pandemien nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens betreffen würden.

Am 28. Februar 2020 tagte der gemeinsame Krisenstab von BMI und BMG zum zweiten Mal. Anfang März steigen die Zahl der Erkrankten in anderen Europäischen Ländern sprunghaft an. Am 11. März 2020 ruft die WHO die Pandemie aus.

Am 16. März 2020 wurde in Deutschland die Anzahl von 1.000 bekannten Infizierten überschritten. Es standen also mehr als zwei Wochen Zeit zur Verfügung, um Lehren aus den Vorberichten zu analysieren und auf den aktuellen Verlauf anzuwenden. Jetzt wäre noch Zeit gewesen, um eine einfache, aber stabile IT-basierte Kommunikation und Vernetzung aufzubauen. Auf der spärlichen Datenbasis konnte man beginnen, erste Simulationen zur Entscheidungsunterstützung aufzubauen.

Die Vorinformationen hätten zusammen mit den Simulationen eindeutige Hinweise gegeben, welche Materialien in absehbarer Zeit erforderlich werden würden. Einerseits hätte man die Mitarbeiter besser schützen und andererseits viel Geld sparen können. Die Verantwortung lag eigentlich bei den Einrichtungen selbst, die allerdings angesichts der erforderlichen Mengen heillos überfordert waren. Die Dramatik konnten sie aber gar nicht erkennen, da sie weder über Daten noch über Methoden zur Hochrechnung verfügten. Folgende Anforderungen sind in Zukunft zur Bewältigung einer ausreichenden Bevorratung und Materialbeschaffung zu erfüllen:

  • Verantwortung für Vorratshaltung und Beschaffung,

  • Daten und Methoden zur Berechnung des Bedarfs,

  • Geldmittel und Personal für die Beschaffung,

  • Marktzugang und Verhandlungsstärke.

Die Einrichtungen konnten das zu Beginn der Pandemie sicher genauso wenig leisten wie heute, da man ihnen die Verantwortung erneut zugewiesen hat. Solche Widersprüche zwischen Verantwortung, erforderlichen Fähigkeiten, verfügbaren Daten und angemessenen Ressourcen kann man während der ganzen COVID-19-Pandemie an zahlreichen Beispielen beobachten:

Maßnahmen zum Infektionsschutz: Politik hat die Verantwortung, verfügt aber nicht über belastbare Daten, kann nicht die komplexe Situation insgesamt beurteilen (individuelle Gesundheit, wirtschaftliche Folgen, ethische Abwägungen, gesellschaftliche Implikationen), Uneinigkeit bei der praktischen Umsetzung zwischen Bund und Ländern, unzureichendes Monitoring, fehlende Sanktionierung.

Umsetzung der Massentestung: Logistik zur Organisation der Menschen, Technik zur Probennahme, Auswertungen und Dokumentation im Labor, Kommunikation zwischen Labor, Gesundheitsamt, Arzt und Patient sowie Nachverfolgung der positiv Getesteten, Evaluation der Wirksamkeit der Gesamtmaßnahme.

Intensivmedizinische Behandlung: Leitlinien von der Indikationsstellung bis zur Entlassung, Planung und Aufbau der Intensivkapazitäten, Monitoring der freien Plätze, Patientensteuerung, Verschiebung elektiver Eingriffe, begleitende Versorgungsforschung.

Ethische Implikationen: Die Politik muss Entscheidungen treffen, kann aber nicht abschätzen, welche Personen in welchem Ausmaß von der Krankheit betroffen sind, wie sich die einschränkenden Maßnahmen auswirken, wer welche Krankheitslast trägt und wie die beschränkten Mittel verteilt werden sollen.

Kitas, Schulen und Universitäten: Abwägung zwischen Infektionsschutz, psychologischen Folgen der Isolierung und geändertem Bildungsangebot, Verfügbarkeit von Schutzmaterialien und Daten, Eignung der Räume (beispielsweise Lüftung der Räume), fehlende methodische Unterstützung von Homeschooling.

"Wir sind doch die Besten"

Auf die Frage, warum die COVID-19-Pandemie in Deutschland vergleichsweise milde ablief, nannte Ferdinand Gerlach, der Vorsitzende des Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, folgende Gründe:

  • Kompetenz und Engagement der Leistungsträger (Ärzte, Pflege, öffentliche Gesundheitsdienste),

  • Schutz der Einrichtungen zur stationären Intensivbehandlung durch die ambulanten Versorger,

  • Patienten mieden Krankenhäuser selbst in dringlichen Situationen (Herzinfarkt, Schlaganfall, onkologische Operation) aus Angst vor Ansteckung,

  • frühes Handeln und Glück.

Zu den wirklichen Stärken unseres Gesundheitssystems zählen Kompetenz und Einsatzbereitschaft der Leistungsträger in der Gesundheitsversorgung. Ihnen galt zurecht ein besonderer Dank. Sie haben durch ihre Fähigkeiten zur Selbstorganisation die Hauptlast des Erfolges getragen.

Die Organe der Selbstverwaltung wirkten inhaltlich und organisatorisch ergänzend zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie mit. Die Schwerpunkte der Aktivitäten lagen darauf, die Finanzierung in ihren Bereichen sicherzustellen. Die gesetzlichen Krankenkassen haben während der Pandemie sogar weniger ausgegeben als in vergleichbaren Zeiträumen. Der G-BA hat mit zahlreichen Verordnungen dafür gesorgt, dass Einrichtungen in der Krisensituation nicht gegen gesetzliche Regelungen oder Richtlinien verstoßen.

Einige Funktionäre meldeten sich mit der These zu Wort, "Gut, dass wir so viele Krankenhäuser haben. Nur so konnten wir den Ansturm bewältigen." Ferdinand Gerlach [8] und Reinhard Busse [9] haben diese These bereits richtig gestellt: Nur ein Drittel der Krankenhäuser hat die Mehrzahl der schwerkranken COVID-19-Patienten behandelt, ein Drittel hat einige minderschwere Fälle betreut und ein Drittel kam gar nicht mit COVID-19-Patienten in Berührung, hat aber trotzdem Entschädigungen für das Freihalten von Betten erhalten. Unberufene sollten sich nicht selbstgefällig auf die Schultern klopfen nach dem Motto: "Unser Gesundheitssystem ist eben doch das Beste". Ist es eben nicht. Wir hatten bisher viel Glück. Aber zumindest vor der nächsten Welle sollten wir aus dem Verlauf der COVID-19-Pandemie die einschlägigen Lehren ziehen. Deren gibt es genug.

Es ist nur eine Frage der Zeit

Alle Experten sind sich darin einig, dass dies nicht die letzte Pandemie war. Ob jetzt die "zweite Welle" kommt oder nicht, darf uns nicht daran hindern, die Chancen, die die COVID-19-Pandemie bietet, für eine signifikante Neuausrichtung unseres Systems zu nutzen. Von der überfälligen Lösung einiger hinderlicher Zielkonflikte [4] bis hin zu einem konstruktiveren Umgang mit der digitalen Transformation ist wahrlich einiges zu tun.

Bis zur nächsten Pandemie müssen Verantwortlichkeiten klar geregelt sein. Und die Verantwortungsträger müssen belastbare Informationen und wirkmächtige Methoden als Entscheidungsunterstützung bekommen. Andererseits müssen politische Entscheidungen sachlich, transparent und für alle Bürger verständlich begründet werden. Frühzeitig sollte die wissenschaftliche Expertise zur Analyse und Bewertung der ausgesprochen komplexen Situation einer Pandemie frühzeitig koordiniert zusammengetragen werden. Die politischen Entscheider sollten sich auf die politischen Aspekte konzentrieren können und sich nicht von widersprüchlichen Verlautbarungen beeinträchtigen lassen. Andererseits empfiehlt das Thesenpapier Nr. 4 anerkannter Versorgungsforscher, der Versuchung zu widerstehen, das Pandemiegeschehen parteipolitisch zu instrumentalisieren [10].

Die informationstechnische Unterstützung der Gesundheitsversorgung bietet ein Bild des Jammers und ist einer Industrienation unseres Kalibers wirklich nicht würdig. Dass die Entwicklung einer elektronischen Gesundheitskarte nach zehn Jahren und Inverstitionen von mehr als 1 Milliarde € immer noch nicht weiter gediehen ist, dass die elektronische Patientenakte immer noch nicht voll einsatzfähig ist, dass die informationstechnische Vernetzung immer noch in den Kinderschuhen steckt, sind Paradebeispiele negativer Lobbyarbeit. An den medizinischen und pflegerischen Leistungsträgern und an der Kompetenz der wissenschaftlichen und technischen Fachleute liegt es wahrlich nicht. Die Leistungsträger müssen endlich wirksam in ihrer täglichen Arbeit unterstützt werden. Dabei müssen alle mitwirken.

Solche Defizite kosten nicht nur viel Geld, sondern inzwischen auch Menschenleben! So kann es nicht weitergehen!

COVID-19-Pandemie als Chance für eine Neuausrichtung

Die COVID-19-Pandemie hat einige Probleme des Gesundheitssystems wie unter einem Brennglas schonungslos sichtbar gemacht. Sie bietet deshalb einen hervorragenden Anlass, um das von salu.TOP vorgelegte Konzept zur Neuausrichtung unseres Gesundheitssystems auf den Weg zu bringen.

Dieser Artikel zeigt am Beispiel der COVID-19-Pandemie, wie das vorgeschlagene Referenzsystem salu.TOP mit den nächsten Pandemien umgehen würde (siehe Das Referenzsystem salu.TOP auf Seite 16f).

Entsprechend den Konstruktionsprinzipien des Referenzsystems sind schematisch drei Phasen zu unterscheiden: Planung, Übung und den Ernstfall (Abb. 3). Die Planung beginnt mit der Definition der Gesundheits- und Versorgungsziele für die Bewältigung einer Pandemie. Dazu könnte man etwa die Ziele aus dem Nationalen Pandemieplan Teil 1 erweitern. Die detaillierte Implementierung der 15 Regeln durch die fünf Ebenen sind in [4] konkret ausgeführt.

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Planung

In der Planungsphase (1) werden alle relevanten Aspekte des Pandemiemanagements identifiziert, analysiert und beschrieben. Grundlage bilden die Nationalen Pandemiepläne (NPP) Teil 1 und Teil 2 des RKI [6, 11]. Im Teil 1 sind zahlreiche Aufgaben und Verantwortlichkeiten beschrieben. Diese sollen jedoch erweitert und konkretisiert werden, um zum Beispiel klar zu stellen, wer nach welchen Kriterien definiert, dass eine Pandemie besteht und entsprechende Maßnahmen auslöst. Auch wäre zu ergänzen, wie geprüft wird, ob Festlegungen des NPP umgesetzt worden sind.

Beispielsweise findet sich in Tab. 4.2. des NPP Teil 1 der Satz "Die Ausstattung/Bevorratung mit Schutzkleidung und anderen Utensilien liegt in der Verantwortung der jeweiligen Einrichtung." [6]. Das ist gründlich schief gegangen, da nicht festgelegt war, wer dies überprüft. Auch ist nicht klar, ob die Einrichtungen fachlich überhaupt in der Lage sind, Art und Umfang der Ausstattung zu definieren und wer letztlich die Kosten dafür trägt. Pandemien sind gesamtgesellschaftliche Aufgaben und können nicht allein von der gesetzlichen Krankenversicherung finanziert werden.

Der NPP Teil 1 beschreibt folgende Ziele:

  • Reduktion der Morbidität und Mortalität in der Gesamtbevölkerung,

  • Sicherstellung der Versorgung erkrankter Personen,

  • Aufrechterhaltung essenzieller, öffentlicher Dienstleistungen,

  • zuverlässige und zeitnahe Information für politische Entscheidungsträger, Fachpersonal, die Öffentlichkeit und die Medien.

salu.TOP würde diese Ziele im Einzelnen operationalisieren und jeweils klare Verantwortlichkeiten zuordnen. Insbesondere ist die Aufgabe klar formuliert, wer die Forderungen des NPP an die Betroffenen kommuniziert, und ob diese verstanden und umgesetzt wurden. Dafür kommen ein neu zu schaffendes Nationales Institut für Gesundheit (NIG) und die Verantwortlichen in den Landesgesundheitsministerien infrage.

Die Fähigkeit des Gesundheitssystems, mit Pandemien umzugehen, wird dokumentiert und kommuniziert. Die Verantwortlichkeiten sind übersichtlich, verständlich und transparent dargestellt. Innerhalb der beteiligten Einrichtungen wird eine spezifische Dokumentation vorgehalten. Die informationstechnische Interoperabilität ist über alle Ebenen hinweg sichergestellt. Die Transparenz des Pandemiegeschehens wird hinsichtlich Umfang, zeitlicher Entwicklung und geopolitischer Zuordnung gewährleistet.

In den bisherigen Plänen werden Patienten eher als Objekte des Pandemiemanagements beschrieben und nur an wenigen Stellen als Individuen. Patientenorientierung ist nachzubessern!

Die NPP enthalten zahlreiche Aussagen zu inhaltlichen oder organisatorischen Vorgaben. Zur Vorbereitung auf die nächste Pandemie ist eine konkrete Beschreibung und quantitative Abschätzung der Versorgungsbedarfe auf Bundes- und Landesebene erforderlich. Dies betrifft insbesondere auch die öffentlichen Gesundheitsdienste. Die NPP sind also dringend hinsichtlich der Schlüsselelemente Patientenorientierung, Bedarfsorientierung, Verantwortung und Transparenz zu überarbeiten.

Übungen

Seit 2002 finden regelmäßig Übungen (2) für den Umgang mit Pandemien statt. Schwachstellen wurden identifiziert und Verbesserungsvorschläge formuliert. salu.TOP würde noch folgende Verantwortlichkeiten definieren: Wer setzt die Verbesserungen um? Wer überprüft die Umsetzung? Wer optimiert die NPP, damit sich die Probleme nicht wiederholen? Bei der nächsten Übung wird jeweils zuerst überprüft, ob die Verbesserungsvorschläge umgesetzt wurden.

Für das alltägliche Management sind dies eigentlich Selbstverständlichkeiten. Wenn so viele und so unterschiedliche Organisationen beteiligt sind, muss dies umso mehr konkret und verbindlich festgelegt werden.

Diese Erkenntnisse finden Eingang in die Rahmenbedingungen und den Ethikkodex (Regel G2). Die Umsetzung wird an das Nationale Institut für Gesundheit (NIG) delegiert.

Umsetzung im Ernstfall

Bei vergangenen Pandemien und Epidemien hat sich oft gezeigt, dass wesentliche Informationen über auslösende Viren oder Bakterien fehlen. Die Entscheidungsträger sahen sich also zu Beginn der Pandemie jeweils erheblichen Informationsdefiziten gegenüber. Dies ist weder ungewöhnlich noch überraschend, wurde also bei salu.TOP bereits bei der Planung berücksichtigt. Entsprechende Programme für epidemiologische Simulationen und die Entwicklung von Best-case und Worst-case-Szenarien sind vorbereitet und werden bei den ersten Hinweisen in Betrieb genommen und mit aktuellen Daten angepasst. Methodische Grundlagen von Simulationen beschreiben unter anderen Hälterlein [12] und Dehning et al. [13].

Keine Pandemie ist ausschließlich auf gesundheitliche Aspekte beschränkt, sie betrifft vielmehr nahezu alle Aspekte des Zusammenlebens [14]. Deshalb sieht salu.TOP vor, zeitnah entsprechende Fokusgruppen zu aktivieren. Sie sind aus Experten der einschlägigen Fachgebiete wie Infektiologie, Epidemiologie, Versorgungsmanagement, Risikomanagement, Krankenversicherung, Selbstverwaltung und Ethik zusammengesetzt. Übergeordnete Gremien aus Bereichen wie Gesellschafts- und Sozialpolitik, Wirtschaft und Finanzen ergänzen die Expertise. Gemeinsam aktualisieren sie die Entscheidungsgrundlagen für die politischen Gremien.

Die politischen Verantwortungsträger sehen sich also zwei Gruppen von Zielkonflikten gegenüber: denen innerhalb des Gesundheitssystems selbst (Abb. 4) und denen zwischen betroffenen Bereichen von Gesellschaft, Wirtschaft und Finanzen. Politisches Handeln in Pandemien besteht zu einem Großteil im Ausgleich von Zielkonflikten unter den Bedingungen unvollständiger und unsicherer Informationen.

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Angesichts dieser Situation berufen sich Politiker oft auf die Einmaligkeit des aktuellen Geschehens und beschreiben ihre Vorgehensweise mit dem Ausdruck "Auf Sicht fahren". Diese Beschreibung verkennt, dass zwar die konkrete Ausprägung des aktuellen Geschehens einmalig sein kann, dass jedoch die zur Bewältigung verfügbaren Methoden und Instrumente für Fachleute eher Standard und keineswegs einmalig sind. Diese Kompetenz und die Mächtigkeit der Methoden müssen die Experten aber verständlich sichtbar machen, denn manche der aktuell verantwortlichen Politiker sind vielleicht erstmals mit einer solchen Situation konfrontiert.

Die Bedeutung richtiger und rechtzeitiger Entscheidungen verdeutlicht die Simulation der Arbeitsgruppe um Viola Priesemann [13]. Sie konnten zeigen (Abb. 5), dass der Verlauf von Infektionen in Deutschland deutlich vom Umfang der Schutzmechanismen und vom richtigen Zeitpunkt ihres Einsatzes abhängt. Dies macht die Notwendigkeit richtiger und rechtzeitiger Entscheidungen deutlich. Solche Darstellungen sind wertvoll, um politisches Handeln zu unterstützen und um die Bevölkerung von der Notwendigkeit der Maßnahmen zu überzeugen. Aktuell können sie das Risiko einer zweiten Welle reduzieren. Als Vergleich für unterschiedliche Schutzmechanismen (linke Diagramme in Abb. 5) dient der Verlauf ohne soziale Distanzierung (rote Kurve). Der exponentielle Anstieg ist bei der Entwicklung der neuen Fälle (oben) und der kumulierten Fälle (unten) erkennbar. Bei einer ausgeprägten sozialen Distanzierung (grün) kann man innerhalb von 14 Tagen die neuen Fälle nahezu eliminieren (oben), die kumulierten Fälle steigen folglich nicht weiter an (unten). Ebenso drastisch sind die Effekte, wenn man den Zeitpunkt des Beginns dieser Maßnahmen verändert (rechte Diagramme in Abb. 5): Beginnen die Maßnahmen zum genau richtigen Zeitpunkt (grün), so sinkt die Zahl der Neuinfektionen innerhalb von 14 Tagen auf 0 (oben), die Zahl der kumulierten Fälle steigt nicht weiter (unten). Beginnen die Maßnahmen früher (grau), erkennt man einen günstigeren Verlauf. Bei einem um nur fünf (!) Tage verspäteten Beginn (violett) ändert sich die Entwicklung dramatisch: die exponentielle Entwicklung ist trotz richtiger Maßnahmen nicht mehr aufzuhalten.

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Ein weiteres Beispiel findet sich im Thesenpapier Nr. 4 einer Autorengruppe des DNVF [10]. In These 2 des Papiers zeigen die Autoren, dass entsprechend dem Bayes-Theorem bei einer ungezielten Ausweitung der Corona-Tests viele falsch positive Ergebnisse auftreten. In einer Bevölkerungsgruppe mit einer Prävalenz von 1 % ergibt der Test bei einer Spezifität von immerhin 95 % im Mittel bei insgesamt 1.000 getesteten Personen etwa 60 positive Ergebnisse. Davon sind aber etwa 50 (!) falsch positiv. Wohlgemerkt: Das ist kein Studienergebnis, sondern einfach nur Mathematik. Die Empfehlung "testen, testen, testen, …" ist also dann eine sinnvolle Vorgehensweise, wenn die positiv getesteten Personen zeitnah nachverfolgt werden können (zweiter Test und/oder Quarantäne). Anstrebenswert wäre aber insgesamt eine Erhöhung der Prävalenz in der untersuchten Bevölkerungsgruppe etwa durch spezifische Selektion. Der positiv prädiktive Wert würde dann von 16,8 % auf 29,0 % ansteigen.

Um solche Maßnahmen sinnvoll einsetzen zu können, bietet eine Einrichtung wie das Nationale Institut für Gesundheit einen zuverlässigen Rückhalt für ein methodisch gut begründetes, evidenzbasiertes Vorgehen. Dazu muss man es aber mit den erforderlichen Kompetenzen und Ressourcen ausstatten und von Beginn an gezielt und konsequent einschalten.

Zusammenfassung

Das Referenzsystem salu.TOP geht von folgenden Grundprinzipien aus:

  • Fünf hierarchisch gegliederte Ebenen werden zielorientiert und funktional miteinander verbunden.

  • salu.TOP kann mit 15 konkreten Regeln und fünf Schlüsselelementen unser Gesundheitssystem neu ausrichten.

Das Beispiel COVID-19-Pandemie zeigt konkret, dass das Konzept salu.TOP geeignet ist

  • eine umfassende Strategie zur besseren Bewältigung einer Pandemie zu erstellen,

  • mit den Möglichkeiten eines lernenden Systems Pandemiemanagement zu planen, einzuüben und für die Bewältigung des Ernstfalls zu gestalten,

  • Instrumente und Methoden zu identifizieren und sie für den Ernstfall vorzubereiten,

  • Probleme in der aktuellen Pandemie zu identifizieren (Zielformulierung, Patienten- und Bedarfsorientierung, Verantwortung, Dokumentation und Kommunikation).

Die wichtigsten Hinweise für die Umsetzung im aktuellen Gesundheitssystem sind:

  • Gesundheits- und Versorgungsziele sollten konkret formuliert und operationalisiert werden.

  • Das Gesundheitssystem orientiert sich konsequent an Patienten- und Versorgungsbedarfen.

  • Verantwortung wird klar zugewiesen, Selbstorganisation sichert den erforderlichen Handlungsspielraum.

  • Behandlungspfade und Versorgungsketten beschreiben Inhalte und Organisation einer durchgängig integrativen Versorgung.

  • Vergütung orientiert sich am Umfang der Aufgaben, der Zielerreichung und der Versorgungsqualität.

  • Rückkopplung und Transparenz unterstützen die Zielerreichung und zeigen die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems.

Das Referenzsystem salu.TOP.

Detaillierte Erläuterungen zum Referenzsystem salu.TOP sind in zwei Übersichten zu findet [4, 15]. Das Referenzsystem besteht aus fünf Elementen:

  • den fünf funktional verbundenen Ebenen,

  • den 15 Regeln,

  • den Schlüsselelementen,

  • den Organisationsprinzipien,

  • den beteiligten Menschen.

Die funktional verbundenen fünf Ebenen

Die fünf Ebenen des Referenzsystems salu.TOP stimmen auf den ersten Blick mit den aktuellen fünf Ebenen des Gesundheitssystems überein (Tab. 1). Allerdings sind sie bei salu.TOP durch ihre Funktion definiert und nicht durch die Einrichtungen oder Organisationen. Sie sind außerdem untereinander funktional über Ziele verbunden und nicht über Strukturvorgaben durch Gesetze, Verordnungen oder Richtlinien.

Nr. Kernfunktion Mitglieder
1 Ziele setzen Bundestag, Bundesrat, Bundesgesundheitsministerium
2 Operationalisieren Nationales Institut für Gesundheit (NIG), Patienten, Gemeinsamer Bundesausschuss mit den Bänken (GKV-SV, DKG, KBV)
3 Regionalisieren Landesgesundheitsministerien, Kommunen, regionale Planungseinrichtungen und regionale Selbstverwaltung
4 Organisieren Einrichtungen der integrativen Versorgung (Krankenhäuser, MVZ, Praxen, kommunale Gesundheitseinrichtungen)
5 Behandeln Patienten und Behandler-Teams

Abb. 1 gibt die Verbindung der fünf Ebenen des Referenzsystems salu.TOP wieder und verdeutlicht die Verschachtelung dieser Ebe nen. Beim Aufbau folgen wir den Definitionen von Luhmann (soziologische Systeme) und Bertalanffy (kybernetische Systeme). Entsprechend Luhmanns Prinzipien bestimmen die Bedingungen des umfassenderen Systems (z. B. Ebene 1 "Ziele setzen") die Bedingungen des jeweils darunterliegenden Systems (z. B. Ebene 2 "Operationalisieren") [16]. Bertalanffys Prinzipien verbinden die Ebenen mit Zielen und Transparenz über erreichte Ergebnisse und verwendete Ressourcen (in der Systemtheorie als "Rückkopplungen" bezeichnet) [17].

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Die Verbindung zwischen den Ebenen und die Vorgehensweisen innerhalb der Ebenen werden durch die 15 Regeln (Tab. 2) und die Konstruktionsprinzipien definiert.

Nr. Regeln
1 G1 Die Gesundheitspolitik definiert in breitem Konsens nationale Gesundheits- und Versorgungsziele, exekutive Rahmenbedingungen und ethische Maßstäbe.
G2 Die Gesundheitspolitik stellt angemessene Mittel bereit.
G3 Die Gesundheitspolitik delegiert die Erreichung der nationalen Gesundheits- und Versorgungsziele an die Selbstorganisation.
2 S1 Die Selbstorganisation setzt die Gesundheits- und Versorgungsziele um, erstellt operative Versorgungsziele und definiert generische Behandlungspfade.
S2 Die Selbstorganisation optimiert die Ressourcenzuordnung im Sinne allokativer Effizienz und gleicht Qualität, Humanität und Wirtschaftlichkeit aus.
S3 Die Selbstorganisation schafft die Grundlagen dafür, dass die Versorgungsaufgaben in allen Regionen und auf allen Ebenen unabhängig von Alter, Geschlecht und sozialer Schicht erfüllt werden können.
3 R1 Jede Region passt die operationalisierten Versorgungsziele den regionalen Gegebenheiten an; ihr Erreichungsgrad wird jährlich transparent berichtet.
R2 Regionale Versorgungsketten verbinden die Einrichtungen ziel- und patientenorientiert.
R3 Umfang und Qualität der Versorgung sind in allen Regionen angemessen und gleichmäßig.
4 E1 Die Einrichtungen erfüllen die bedarfsorientierten Versorgungsziele.
E2 Die Ziele werden über patientenorientierte und evidenzbasierte Prozesse erreicht.
E3 Effektivität und Effizienz werden regelmäßig und transparent berichtet.
5 P1 Der Patient entscheidet, was geschieht.
P2 Die Behandler entscheiden, wie die Maßnahmen durchgeführt werden.
P3 Der Nutzen muss immer größer sein als der Schaden.

Durchgehend gilt das Prinzip der Selbstorganisation, nach dem die Verantwortlichen in den Ebenen weitgehende Freiheiten bekommen, sich frei zu organisieren. Grenzen ergeben sich allein aus den definierten Zielen, den zur Verfügung stehenden Ressourcen, den Rahmenbedingungen und einem Ethikkodex. Sonst folgen sie allein den professionellen Anforderungen ihres Verantwortungsbereichs.

Die 15 Regeln

Die 15 Regeln sind ebenenspezifisch definiert. Details über die Herleitung und die Ausgestaltung finden sich in Piwernetz & Neugebauer 2020 [4].

Jede Regel ist mit Zweck und Ziel beschrieben und für die Umsetzung mit Aufgaben und Verantwortlichkeiten belegt (Tab. 2). Die Regeln beschreiben ein Referenzsystem und sind logischerweise im aktuellen Gesundheitssystem nicht sofort umsetzbar. Gelegentlich werden sie sogar auf massive Widerstände aktueller Verantwortungsträger stoßen. Aber das ist ja gerade der Zweck eines Referenzsystems: Es soll Unterschiede zwischen dem IST und einem anstrebenswerten, konsentierten SOLL aufzeigen.

Die Schlüsselelemente

Beim Aufbau des Referenzsystems sind fünf Schlüsselelemente axiomatisch zu beachten:

  1. Gesundheits-/Versorgungsziele und Werte

  2. Patientenorientierung

  3. Bedarfsorientierung

  4. Verantwortung

  5. Transparenz

Die gesellschaftlich konsentierten Gesundheits- und Versorgungsziele bilden das wichtigste Schlüsselelement. Sie sind entsprechend Regel G1 auf breitem gesellschaftlichem Konsens aufgebaut. Die Erfüllung dieser Ziele ist der erste und vornehmste Zweck unseres Gesundheitssystems. Für die Umsetzung dieser Ziele gelten unverrückbar die vier weiteren Elemente Patientenorientierung (2), Bedarfsorientierung (3), Verantwortung (4) und Transparenz (5). Ihre Implikationen finden sich in den Rahmenbedingungen und dem Ethikkodex nach Regel G2.

Die Verbindung der Schlüsselelemente des Referenzsystems salu.TOP verdeutlicht Abb. 2. Im Zentrum stehen die Gesundheits- und Versorgungsziele (1). Sie zu erfüllen ist der entscheidende Zweck des Gesundheitssystems: Um sie gruppieren sich die Forderungen, die bei der Umsetzung zu beachten sind: Der Patienten steht immer im Fokus (2), Versorgungsleistungen orientieren sich strikt am Bedarf (3), für alle Aufgaben wird Verantwortung eindeutig zugeordnet (4), umfassende und zeitnahe Transparenz (5) zeigt den Erfüllungsgrad der Ziele. So können Verantwortungsträger gegebenenfalls korrigierend eingreifen.

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Die Organisationsprinzipien

Die Organisationsprinzipien legen fest, wie das Referenzsystem aus den strukturellen und funktionalen Vorgaben für die fünf Ebenen und den 15 Regeln aufgebaut werden soll:

  1. Ein hohes Maß an Selbstorganisation

  2. Integrative Versorgung über alle Schnittstellen hinweg

  3. Belohnung von Qualität

  4. Lernendes System aus sich heraus

  5. Zukunftssicherheit

Die Organisationsprinzipien sprechen für sich und werden an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt.

Den beteiligten Menschen

Stefan Kühl [18] stellt aus Sicht eines Organisationssoziologen mit Recht fest, dass eine Einrichtung oder Organisation niemals allein mittels zweckrationaler Festlegungen definiert werden kann. Immer müssen die an Planung, Aufbau und Regelbetrieb beteiligten Menschen mit ihren individuellen Zielen und Wünschen sowie ihre individual- und gruppenpsychologischen Bedingtheiten und ihrer Sozialisierung berücksichtigt werden.

Dies geschieht im Referenzsystem salu.TOP in hohem Maße. Allerdings sollten sich alle Beteiligten bewusst sein, dass sie in einer regulierten Umgebung mit spezifischen Bedingungen handeln. Es gelten immer die Bedingungen des Gesundheitssystems und nicht die einer freien Marktwirtschaft. Christiane Woopen bringt dies zugespitzt auf den Punkt: Der Patient ist Zweck der Gesundheitsversorgung, nicht Mittel zur Erlösmaximierung [19].

Dr. med. Dr. rer nat. Klaus Piwernetz.

Mitglied im Beirat des BDN

Geschäftsführer medimaxx health management GmbH

Am Lehmbichl 13

83229 Aschau i.Ch.

Univ.-Prof. Dr. Prof. h.c. Dr. h.c. Edmund Neugebauer.

Medizinische Hochschule Brandenburg

Fehrbelliner Straße 38

16816 Neuruppin

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