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. 2023 Apr 20;35(2):8–11. [Article in German] doi: 10.1007/s15014-023-4844-8

"Kinder profitieren von früher Intervention"

S3-Leitlinie gibt Tipps zur Therapie von Sprachentwicklungsstörungen

Dagmar Kraus 1,
PMCID: PMC10115478

Eine Sprachtherapie startet vielfach zu spät und wird oft nicht konsequent genug durchgeführt, bedauert Prof. Katrin Neumann. Die Fachärztin für Phoniatrie und Pädaudiologie ist die Koordinatorin der weltweit ersten S3-Leitlinie zur Therapie von Sprachentwicklungsstörungen. Über die wichtigsten Aspekte des mehr als 600 Seiten umfassenden Werkes haben wir mit ihr gesprochen.

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Ende letzten Jahres ist die erste interdisziplinäre S3-Leitlinie zur Therapie von Sprachentwicklungsstörungen erschienen. Warum erst jetzt?

Prof. Katrin Neumann: Tatsächlich ist diese Leitlinie weltweit ein Novum, es gibt bislang nichts Vergleichbares. Zwar publizierte die American Speech-Language-Hearing Association (ASHA) eine Practice Portal Page, die basiert aber nicht auf einer gezielt dafür ausgeführten systematischen Literaturrecherche. Unsere Leitlinie ist somit die erste evidenzbasierte Leitlinie weltweit. Ein Grund für die Verzögerung liegt sicherlich in der über eine lange Zeit verbreiteten Annahme, in Deutschland gäbe es zu dieser Fragestellung zu wenige Studien und die Evidenz könne nicht aus fremdsprachigen Analysen übernommen werden, da die Sprachtherapie äußerst sprachspezifisch ist. Das sehe ich anders: Es gibt immer Generalisierbares in der Sprachtherapie, sodass es sinnvoll ist, das Wissen zusammenzutragen. Es lohnt sich, über den Tellerrand zu schauen und zu überlegen, was andere machen und was funktioniert.

Der enorme Arbeitsaufwand war ein weiterer Grund: Sprache besteht ja aus zahlreichen Ebenen, neben Wortschatz und Wortbedeutung müssen die Wort- und Satzgrammatik sowie das Problem der Aussprache beachtet werden. Bei den Aussprachestörungen wiederum ist zwischen den phonologischen Aussprachestörungen, die zu den sprachsystematischen Störungen in der Gehirnrepräsentation von Sprache gehören, und den phonetischen, also rein sprechmechanisch bedingten Aussprachestörungen zu differenzieren. Dann gibt es die Pragmatik und die Sprachentwicklungsstörungen mit und ohne Komorbiditäten. Wir haben die Arbeit nicht gescheut und konnten nach sieben Jahren endlich die fertige Leitlinie publizieren.

Welche Zielstellung hat die Leitlinie?

Neumann: Die Zielstellung ist, auf den Punkt gebracht, die bestmögliche Therapiequalität zu gewährleisten. Nach dem Motto: Das Bessere ist der Feind des Guten. Immerhin sind Sprachtherapien eine der häufigsten Therapien im Kindesalter. Da muss garantiert sein, dass die Therapien dem bestverfügbaren Standard entsprechen. Teils beschleicht einen aber das Gefühl, dass Sprachtherapie in Deutschland nicht sehr effektiv ist.

Ich nenne ihnen ein Beispiel: Üblicherweise gehen Kinder einmal die Woche für 45 Minuten zur Logopädin oder zum Logopäden. De facto findet die Therapie, wie aktuelle Studiendaten belegen, aber nur alle zehn bis 14 Tage statt, mal ist das Kind krank, mal die Logopädin, mal kommt der Urlaub dazwischen oder es gibt eine Therapiepause. Doch wie soll ein Kind neue Sprachstrukturen erwerben, Laute unterscheiden lernen oder den Wortschatz erweitern, wenn es nur alle zehn Tage für 45 Minuten den entsprechenden Input bekommt. Das ist möglicherweise zu extensiv. Weitaus wirksamer scheint im Vergleich die ambulante Therapie in Kleingruppen mit intensiven Therapieblöcken zu sein. Der Heilmittelrichtlinienkatalog beinhaltet bereits die Gruppentherapie, sie wird nur bislang zu wenig umgesetzt.

Ein weiterer wichtiger Aspekt: Deutschland ist meines Wissens das einzige Land, in dem Sprachtherapie für Kinder im stationären Setting angeboten wird. Das hat sich ebenfalls als sehr effektiv erwiesen. In der aktuellen Leitlinie findet sich eine entsprechende Empfehlung, wobei wir mittlerweile die Indikation sehr viel weniger von vorausgegangenen ambulanten Behandlungsversuchen abhängig machen. Kinder mit ausgeprägten persistierenden Sprachentwicklungsstörungen, bei denen lang dauernde Folgen und Beeinträchtigungen zu befürchten sind, sollten stationär behandelt werden. Im Rahmen der THESES-Studie überprüfen und vergleichen wir aktuell die Wirksamkeit der drei verfügbaren Therapieformen: die Standardtherapie in Form einer ambulanten "extensiven" Einzeltherapie, die stationäre intensive Therapie sowie die ambulante Kleingruppentherapie mit einem intensiven Therapieblock von sechs Wochen plus Auffrischungstherapie. Erste Zwischenergebnisse belegen die gute Wirksamkeit einer ambulanten Kleingruppentherapie, aber auch einer stationären Therapie.

Ab dem 18. März 2020 ermöglichten die Krankenkassen und der Gemeinsame Bundesausschuss abweichend von der bis dato gültigen Heilmittelrichtlinie eine sprachtherapeutische Behandlung auch als Videosprechstunde. Ist das virtuelle Üben eine gleichwertige Alternative?

Neumann: Diese Maßnahme galt nur vorübergehend während der COVID-19-Pandemie. Sie ist nicht generalisiert in den Heilmittelkatalog eingeführt worden, weil eine ausreichende Evidenz in Deutschland fehlt. Wir kümmern uns nun darum, Nachweise zu liefern, etwa mit dem Projekt "Wirksamkeit einer Online-Intervall-Kleingruppentherapie für Kinder mit umschriebenen Sprachentwicklungsstörungen". In dieser randomisiert-kontrollierten Studie erhalten Kinder im Alter von drei bis maximal sechs Jahren mit einer umschriebenen Sprachentwicklungsstörung über zehn bis zwölf Monate 30-mal über 45 Minuten entweder einer Online-Intervall-Kleingruppen- oder eine Einzel-Präsenz-Therapie. Sprachtestungen erfolgen vor Therapiebeginn sowie zwölf und 18 Monate später.

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Wie können niedergelassene Pädiaterinnen und Pädiater zu einem bestmöglichen Therapieerfolg beitragen?

Neumann: Lange Zeit hatten Pädiaterinnen und Pädiater Bedenken gegenüber Frühinterventionsmaßnahmen: Man befürchtete eine Übertherapie. In diesem Punkt gibt es in der Wissenschaft ein Umdenken, was sich auch in der Leitlinie widerspiegelt. Mittlerweile ist der Nutzen von Frühinterventionsmaßnahmen in einem zeitlichen Risikostadium für Sprachentwicklungsstörungen bewiesen, etwa bei den "Late Talkern", also bei Kindern mit eingeschränktem expressivem Wortschatz ohne erkennbare Primärbeeinträchtigungen.

Als besonders wirksam hat sich dabei das Elterntraining herausgestellt, das von den Krankenkassen in Deutschland bisher leider nicht übernommen wird. Mittlerweile weiß man aber, und das findet sich in der Leitlinie entsprechend wieder, dass Eltern äußerst effektiv die sprachliche Leistung ihres Kindes − zumindest bis zum Alter von sechs Jahren - verbessern können, vorausgesetzt sie sind in strukturierte Elternprogramme eingebunden. Sollte das Elterntraining bei Late Talkern nicht ausreichen oder haben die Kinder Sprachverständnisstörungen, spricht sich die Leitlinie für eine frühe Sprachtherapie aus. Das ist ebenfalls neu, bis dato war in Deutschland eine frühe Sprachtherapie bei Kindern ohne gravierende Komorbiditäten kein Thema. Die Umsetzung dieser Empfehlungen kann aber nur in Zusammenarbeit mit Pädiaterinnen und Pädiater gelingen, schließlich sind sie diejenigen, die eine Sprachtherapie verordnen.

Was müssen Eltern wissen und wie sollte man sie unterstützen?

Neumann: Aktuell arbeiten wir an einer Patientenleitlinie, die es Eltern ermöglichen soll, sich umfassend darüber zu informieren, welche Therapieformen es für welche Störungsbilder gibt und welche möglicherweise für das eigene Kind infrage kommen könnten. Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Punkt aber auch den Pädiaterinnen und Pädiatern sowie den Fachärztinnen und Fachärzten für Phoniatrie und Pädaudiologie zu. Im besten Fall stehen sie den Eltern beratend zur Seite und helfen ihnen, auf Basis der Leitlinienempfehlungen evidenzbasierte Entscheidungen zu treffen.

Auf welche Besonderheiten sollte in welchem Alter geachtet werden? Wie steht es etwa um das Kriterium eines aktiven Wortschatzes von 50 Wörtern im Alter von zwei Jahren?

Neumann: Aus weltweit erhobenen Daten ist bekannt, dass im Alter von zwei Jahren nur etwa 10 % der Kinder noch keine 50 Wörter sprechen. Die Evaluation des Wortschatzumfangs hängt aber entscheidend von der Art des verwendeten Elternfragebogens ab, das heißt, je länger die Wörterliste des Fragebogens ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, die Mindestmenge zu erreichen. Insgesamt gibt es fünf deutschsprachige Elternfragebögen zur Ermittlung des Wortschatzes zum Zeitpunkt der U7, die unterschiedlich aufgebaut sind. Daher lautet die aktuelle Empfehlung: Mit welchem exakten Wert der Wortschatzumfang eines Kindes als auffällig zu bewerten ist, hängt vom Geschlecht und vom verwendeten Ermittlungsverfahren ab. Die kritischen Wortschatzwerte sind in der Leitlinie einzeln nach Erhebungsbogen gelistet.

Welche Sprachentwicklungsstörungen treten am häufigsten auf?

Neumann: Am häufigsten sind Aussprachestörungen zu beobachten. Dabei muss, wie bereits erwähnt, zwischen den phonologischen Aussprachestörungen, die zu den sprachsystematischen Störungen in der Gehirnrepräsentation von Sprache gehören, und den phonetischen, rein mechanisch bedingten Aussprachestörungen unterschieden werden. Phonetische Aussprachestörungen zählen nicht zu den Sprachentwicklungsstörungen, werden aber in der Leitlinie besprochen, um sie von phonologischen Störungen abgrenzen zu können.

Wann ist das optimale Zeitfenster für Interventionen oder Therapien?

Neumann: Interventionsmaßnahmen oder Therapien sollten optimalerweise vor der Einschulung abgeschlossen sein. Die Realität in Deutschland sieht leider anders aus. Der überwiegende Teil der Kinder erhält erst im Alter von sechs Jahren eine Intervention oder Sprachtherapie, also zu einem Zeitpunkt, zu dem der größte Teil der Sprachentwicklung bereits abgeschlossen ist. Damit wird die Therapie aufwendiger und dauert länger. Gelänge es uns, früher anzusetzen - das Wesentliche der Sprachentwicklung ist bis zum Alter von vier Jahren bereits abgeschlossen -, könnten wir weitaus effektiver sein.

Kann man davon ausgehen, dass nach erfolgreicher Therapie der weitere Spracherwerb ebenso reibungslos abläuft wie bei Kindern ohne Sprachverzögerung oder -entwicklungsstörung?

Neumann: Nein, leider nicht immer. Man hat gerade bei Late Talkern gezeigt, dass manche Kinder, die die Sprachentwicklungsverzögerung in jungen Jahren aufgeholt hatten, später beim Schriftspracherwerb eine Reihe subtiler Schwierigkeiten aufwiesen, eventuell mit Konsequenzen für die Bildungschancen. Eine Studie aus dem Jahr 2016 von Kühn et al. beispielsweise besagt, dass die Sprachfähigkeiten ehemaliger Late Talker trotz Besserungstendenzen auch im Einschulungsalter unter dem Niveau gleichaltriger Kinder liegen. Rescorla et al. kamen zu dem Schluss, dass obwohl die meisten ehemaligen Late Talker im Vor- und Grundschulalter annähernd durchschnittliche Sprachleistung zeigen, sie als Gruppe in vielen Sprachtests schlechter abschneiden als Vergleichsgruppen von Kindern mit typischer Sprachentwicklung. Für dieses Phänomen wurde der Begriff "illusionary recovery" geprägt. Das Risiko, ob ein Kind im weiteren Spracherwerbsprozess Schwächen entwickelt, hängt aber entscheidend davon ab, wie in der Familie mit Sprache umgegangen wird, also von der "literacy". Dazu gehört beispielsweise, ob und wie in der Familie vorgelesen wird. Wichtig ist, dass die Eltern beim Lesen in Interaktion mit dem Kind treten.

Kann eine Sprachtherapie auch Nachteile mit sich bringen?

Neumann: Für meine Begriffe der größte Nachteil ist der mit einer Therapie verbundene große Ressourcenaufwand der Eltern, vor allem dann, wenn die Maßnahmen nicht ausreichend wirksam sind. Die Gefahr, dass Kinder durch die Therapie ein Defizitgefühl entwickeln könnten, wird heutzutage durch die professionelle Therapie und das Einbeziehen der Eltern so gut abgefangen, dass dieser Aspekt kaum mehr als Nachteil aufgeführt werden kann. Manche Kinder können aber noch nicht ausreichend zugänglich für Therapien sein. Bei jungen Kindern stehen daher zunächst implizite Methoden im Vordergrund. Zu achten ist sicherlich auf ein möglicherweise entstehendes Defizitbewusstsein der Eltern. In diesem Fall sind die Eltern zu stärken, damit sie auch weiterhin unverkrampft und positiv mit ihrem Kind kommunizieren. Die fehlenden langfristigen Wirksamkeitsnachweise, die bislang ebenfalls als Nachteil aufgeführt werden, versuchen wir gerade nachzureichen.

Spracherwerb funktioniert nur im sozialen Kontext. Doch der soziale Austausch war während der Pandemie stark eingeschränkt. Welche Folgen hatte das für die Sprachentwicklung? Gibt es nun mehr Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen?

Neumann: Ein Störungsbild, das hochgradig genetisch bedingt ist, nimmt nicht innerhalb von zwei bis drei Jahren sprunghaft zu. Dennoch gibt es weitreichende indirekte Folgen der Pandemie. Wir nehmen an, dass das Homeschooling verschiedene Auswirkungen auf die Sprachfähigkeiten von Kindern gehabt hat oder haben wird, dass bestehende Sprachentwicklungsstörungen nicht ausreichend erkannt und behandelt, Lese- und Rechtschreibschwächen nicht ausreichend adressiert werden konnten oder die Aufrechterhaltung bestimmter Störungen, wie des selektiven Mutismus, begünstigt wurden. Kinder mit nicht deutscher Erstsprache und geringen Sprachkompetenzen im Deutschen konnten durch den mangelnden direkten oder nur verkürzten Kontakt zu gut deutschsprechenden Gleichaltrigen ihre Sprachkompetenz nicht weiter ausbauen.

Frau Prof. Neumann, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Dr. Dagmar Kraus.

Die Therapie von Sprachentwicklungsstörungen.

S3-Leitlinie: Therapie von Sprachentwicklungsstörungen

AWMF-Registernummer: 049 - 015

Gültig bis: 21.12.2027

Federführende Fachgesellschaft(en): Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e.V (DGPP)

https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/049-015


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