Originalpublikation
Liu W, Zhang Q, Chen J et al (2020) Detection of Covid-19 in Children in Early January 2020 in Wuhan, China. N Engl J Med (March 12). 10.1056/NEJMc2003717
Die durch die neuartige Variante SARS-CoV‑2 (Severe Acute Respiratory Syndrome) des Coronavirus verursachte Erkrankung „coronavirus disease 2019“ (COVID-19) breitet sich auch in Europa rasch aus und hat bereits Pandemiestatus erreicht. Es wurden in nahezu allen Staaten Europas umfangreiche Quarantänemaßnahmen getroffen. Angenommen wird, dass die Entstehung dieser Erkrankung in Wuhan (China) stattgefunden hat, und nun liegen erste Daten für COVID-19 bei Kindern aus eben dieser Region Chinas vor. In einem „Letter to the editor“ des New England Journal of Medicine (NEJM) wird eine retrospektive Auswertung der Daten hospitalisierter Kinder aus Wuhan publiziert.
Zusammenfassung der Studie.
Im Rahmen dieser retrospektiven Auswertung wurden die Daten von 366 Kindern ausgewertet, die in den Abteilungen der inneren Medizin, der Infektionsmedizin oder Pädiatrie an 3 verschiedenen Standorten des Tongji-Krankenhauses in Wuhan zwischen dem 07. und 15.01.2020 aufgenommen worden waren. In dieser Population wurden bei 6,3 % der Kinder Influenza A und in 5,5 % Influenza B festgestellt. COVID-19 wurde in 1,6 %, also nur in 6 Patienten nachgewiesen; das mediane Alter betrug 3 Jahre. Keines dieser 6 Kinder hatte eine Grunderkrankung. Die häufigsten Symptome waren hohes Fieber über 39 °C bei allen Patienten sowie Husten und Erbrechen. Laborchemisch zeigte sich bei allen COVID-19-Kindern eine Lymphopenie und bei 3 Kindern gleichzeitig eine Neutropenie.
Von diesen sechs Patienten hatten vier eine Pneumonie, die radiologisch nachgewiesen wurde, wobei ein Kind auf die Intensivstation (ICU) aufgenommen werden musste. Alle Patienten wurden empirisch mit antiviralen (Ribavirin und Oseltamivir) und antibiotischen Medikamenten behandelt und konnten nach einer mittleren Behandlungsdauer von 7,5 Tagen aus der Klinik entlassen werden. Berichtet werden mittelgradig bis schwerwiegend verlaufende respiratorische Symptome, die bei einem der Patienten eine Intensivtherapie notwendig machten. Das deckt sich nicht unbedingt mit Beobachtungen aus Europa, wo generell eher von einer milden Verlaufsform bei Kindern gesprochen wird. Die Autoren schließen mit der Bemerkung, dass COVID-19 bei Kindern moderate bis schwere respiratorische Krankheitszeichen verursacht, und dass diese Infektionen bei Kindern sehr frühzeitig im Rahmen der Epidemie aufgetreten sind.
Kommentar
Aus folgenden Gründen liegt eine ganz erhebliche Verzerrung der Daten (Bias) aus Wuhan vor: Es erfolgt keine Nennung der Ein- und Ausschlusskriterien. 366 Kinder in der 10-Mio.-Metropole Wuhan sind nicht repräsentativ. Welche Kinder erreichten warum gerade dieses Krankenhaus? Gab es medizinische (z. B. nur sehr schwer kranke Kinder) oder nichtmedizinische (z. B. Bezahlung der Behandlung) Ein- oder Ausschlusskriterien für die Krankenhausaufnahme? Die Beobachtungsdauer der Studie ist willkürlich und unnötig kurz (7 Tage). Die Darstellung der Resultate ist sehr unpräzise in Bezug auf die Coronavirustestung (Anzahl der Tests mittels RT-PCR [Reverse-Transkriptase-Polymerase-Kettenreaktion] vs. „real time“ nicht genannt; unklare/unklarer Standort, Name, Qualität des „central laboratory“), das Management der Kinder (Warum musste ein Kind auf die ICU? Beatmung? Aufnahme in die innere Medizin von wie vielen Kindern? Wie viele wurden nicht vom Pädiater gesehen, sondern von Internisten?) und der Nachbetreuung der Kinder (Wurden die ursprünglich Corona-negativen Kinder im Verlauf nachgetestet?). Nur mit diesen Informationen wäre eine Einordnung der Daten möglich, alle diese Daten fehlen sowohl im Letter als auch in den 12 Seiten des Anhangs/Appendix.
Fazit
Die Qualität der Gesundheitsversorgung in China ist heterogen. In einem aktuellen Bericht der WHO von 2019 steht das Gesundheitssystem in China in Bezug u. a. auf Qualität der Versorgung („quality“), gleichen Zugang für alle („equity“), an der 144. Stelle der 191 WHO Mitgliedsländer [1]. In Bezug auf COVID-19 wurden kürzlich im Bereich der Erwachsenenmedizin Daten zu 54 Todesfällen (29.12.2019 bis 31.01.2020) veröffentlicht, bei denen nur etwas mehr als die Hälfte der verstorbenen chinesischen Patienten in Wuhan trotz akutem respiratorischem Versagen mechanisch beatmet wurden (54 %) oder Sauerstoff bekamen (61 %) [2]. In Bezug auf die klinische Präsentation, Infektiosität oder Morbidität zu COVID-19 bei Kindern aus Wuhan fällt eine Interpretation wegen der erheblichen Verzerrung dieser im NEJM veröffentlichten Daten sehr schwer. Es wäre wünschenswert gewesen, dass das sehr hochangesehene NEJM (z. B. im Rahmen eines kritischen Editorial) die Schwächen der Studie klar darlegt und eine bessere Analyse der so weitreichenden Epidemie in Wuhan fordert. Dennoch muss dem Bericht dieser ersten Daten aus China Raum gegeben werden; das sind wir der aktuellen Lage schuldig.
Interessenkonflikt
P. Voitl und T. Niehues geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Literatur
- 1.https://www.who.int/healthinfo/paper30.pdf. Zugegriffen: 19.3.2020
- 2.Zhou F, Yu T, Du R, Fan G, Liu Y, Liu Z, Xiang J, Wang Y, Song B, Gu X, Guan L, Wei Y, Li H, Wu X, Xu J, Tu S, Zhang Y, Chen H, Cao B. Clinical course and risk factors for mortality of adult inpatients with COVID-19 in Wuhan, China: a retrospective cohort study. Lancet. 2020 doi: 10.1016/S0140-6736(20)30566-3. [DOI] [PMC free article] [PubMed] [Google Scholar]
