6.1. Husten
Fallbeispiel.
Karl ist ein drei Monate alter Junge, der bislang gesund war. Seit gut einer Woche ist er erkältet, hat Schnupfen und HustenHusten, kein Fieber. Er wird gestillt, trinkt gut an der Brust, ist guter Dinge, lacht und erzählt. Jetzt am Wochenende ruft die Mutter in der Erste-Hilfe-Stelle einer Kinderklinik an, weil sie recht weit entfernt auf dem Lande lebt. Sie ist sehr besorgt, weil Karl einige Male so stark gehustet hatte, dass er „blau“ wurde. Die betreuende Kinder- und Jugendärztin hatte ihn gerade erst untersucht und laut Mutter „nichts gefunden“. Vorsorglich hat die Mutter einen Hustenanfall mit ihrem Smartphone aufgenommen und spielt der Ärztin den Husten am Telefon vor. Diese hört Stakkatohusten, gefolgt von einem inspiratorischen Ziehen, und bittet die Mutter, die nächstgelegene Kinderklinik aufzusuchen.
Fragen zum Fallbeispiel
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Wie kann Husten charakterisiert werden?
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Welche Merkmale unterscheiden einen unspezifischen „normalen“ von einem spezifischen „pathologischen“ Husten?
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Wie werden akute Infektionen der oberen und unteren Atemwege diagnostiziert?
6.1.1. Stellenwert in der Grundversorgung
Husten ist im Vorschul- und Grundschulalter der häufigste akute Vorstellungsanlass in der pädiatrischen Praxis. Erst im Jugendalter rückt Husten an die zweite Stelle der Vorstellungsanlässe. Meist sind sogenannte banale Infekte der oberen Luftwege die Ursache des akuten Hustens, von denen Kleinkinder jährlich im Mittel bis zu acht Episoden durchmachen. Da sich die Atemwegsinfekte in den Wintermonaten häufen, entsteht bei manchen Eltern der Eindruck, dass das Kind chronisch huste. Dies ist immer Anlass zu großer Besorgnis.
Auch bei der häufigsten chronischen Erkrankung im Kindesalter, dem Asthma bronchiale, ist anhaltender Husten oft das führende Symptom, das zur Klärung der Diagnose führt.
6.1.2. Definition
Als Husten wird das explosionsartige Ausstoßen von Luft aus den Atemwegen bezeichnet.
Husten ist ein physiologischer Schutzreflex zur Reinigung der Atemwege von Schleim und Fremdpartikeln („Hustenclearance“). Er wird ausgelöst durch entzündliche, mechanische, physikalische oder chemische Irritation der an vielen Stellen der Atemwege lokalisierten Hustenrezeptoren. Diese finden sich in der Nase, den paranasalen Sinus, in Pharynx, Trachea, Bronchien und Pleura. Hustenrezeptoren befinden sich auch außerhalb der Atemwege, z. B. in den Ohren, am Zwerchfell, Pericard und Magen. Das Lungenparenchym dagegen enthält keine Hustenrezeptoren, sodass eine Pneumonie nicht immer mit Husten einhergeht.
Klinisch wird der HustenHustenDauer HustenQualitäten u. a. charakterisiert durch seine Dauer: akut < 3 Wochen, subakut 3–8 Wochen und chronisch > 8 Wochen (eine von mehreren Definitionen) und durch Qualitäten wie bellend, trocken, stakkatoartig, feucht etc.
Die häufigste Ursache für akuten Husten sind Infektionen der oberen und seltener auch der unteren Atemwege, meist durch virale Erreger, aber auch durch Bakterien.
Rezidivierende oder saisonale Episoden von Husten oder chronischer Husten mit oder ohne Begleitung von Giemen und Atemnot sind verdächtig auf hyperreagible Bronchien oder Asthma bronchiale.
6.1.3. Klinisches Erscheinungsbild
Akuter Husten
Husten bei Infektionen der oberen Atemwege: „die Erkältung“
Je nach AlterHustenakuter Hustenbei Erkältung und verursachendem Erreger variieren die einzelnen Krankheitssymptome. Säuglinge und Kleinkinder haben oft Fieber, ältere Kinder weniger oft. Schnupfen steht als „laufende Nase“ (Rhinorrhö) oder „geblockte Nase“ (Obstruktion) im Vordergrund. Da junge Kinder ihre Nase nicht freimachen, d. h. weder schnäuzen noch „hochziehen“ können, führt bei ihnen Schnupfen insbesondere nachts oft durch den retronasalen „drip“ zu Husten. Eltern berichten dann besorgt über „schleimigen“ Husten und „rasselnde“ Atemgeräusche. Der Schlaf von Kind und Eltern kann nachhaltig gestört sein. Ältere Kinder und Jugendliche klagen oft zu Beginn der Erkältung über Halsschmerzen oder -kratzen (Kap. 6.6 Pharyngitis). Bei ihnen ist die Erkältung ebenfalls in zwei Drittel der Fälle von Husten begleitet, der oft noch ein bis zwei Wochen nach Sistieren des Schnupfens fortbesteht. Eine Änderung von Farbe und Konsistenz des Schnupfens im Verlauf der Erkrankung ist normal und bedeutet nicht, dass eine bakterielle Superinfektion stattgefunden oder sich eine Sinusitis entwickelt hat. Häufig treten Ohrdruckprobleme auf oder (virale) Bindehautentzündungen, besonders bei jungen Kindern.
Husten und Atemnot bei Infektionen der unteren Atemwege
Husten, AtemnotHustenmit Atemnot, oft auch Fieber und bei Kleinkindern Nahrungsverweigerung sind die häufigsten Krankheitssymptome, über die Eltern von Kindern mit Infektionen der unteren Atemwege (Bronchiolitis, obstruktive Bronchitis, Pneumonie) bei Vorstellung in der Praxis berichten.
Je nach Alter der Kinder und Schweregrad der Erkrankung ist der Allgemeinzustand mehr oder weniger ausgeprägt reduziert. Die Kinder sind blass, haben einen ängstlichen Gesichtsausdruck, sie sind auffallend ruhig oder auch wechselnd agitiert. Tachypnoe ist das konsistenteste Zeichen der Atemnot. Dazu kommen die Zeichen vermehrter mühsamer Atemarbeit mit jugulären, intercostalen und epigastrischen Einziehungen und Nasenflügeln. Eventuell ist eine stöhnende Ausatmung und Distanzgiemen zu hören (bei bronchialer Obstruktion) oder kurzer anstoßender Husten. Die thorakalen Atemexkursionen können beidseitig (Asthma; Bronchopneumonie) oder nur einseitig (lobäre Pneumonie) vermindert sein.
Die Auskultation von Kleinkindern mit Atemnot ist oft wenig ergiebig, da diese die Aufforderung „atme tief ein und aus“ nicht verstehen. Manchmal gelingen einige forcierte Exspirationen durch das „Ausblasen lassen“ eines Otoskopes. Ansonsten sind z. B. bei Säuglingen mit Bronchiolitis überall inspiratorisch, weniger exspiratorisch feinblasige feuchte Rasselgeräusche zu hören (Knistern), die nicht zur Diagnose einer Pneumonie führen sollten.
Bei Asthma bronchiale und obstruktiver Bronchitis hört man typischerweise ein verlängertes oder giemendes (pfeifendes) Atemgeräusch. Bei Kindern mit schwerer Obstruktion kann das Atemgeräusch sehr leise sein („stille Obstruktion“); diese Kinder zeigen ansonsten schwere Atemnotzeichen. Bei Pneumonie oder Bronchopneumonie kann das Atemgeräusch ebenfalls abgeschwächt oder Bronchialatmen zu hören sein. Nebengeräusche sind mittel- bis feinblasiges Rasseln.
Atemnot ist einer der häufigsten akuten stationären Einweisungsgründe für Kinder unter einem Jahr.
6.1.4. Diagnosen und Differenzialdiagnosen
Eltern, die ihr Kind mit „Husten“ vorstellen, berichten in der Regel spontan, ob es sich um einen neu aufgetretenen Husten handelt, der ihnen Sorgen macht, oder ob das Kind „schon seit Wochen hustet“. Zur Qualität des Hustens oder den nächtlichen Atemgeräuschen befragt, können viele Eltern keine gut verwertbaren Aussagen machen. Man hört oft Schilderungen wie „hustet so tief“, „hustet ganz schrecklich“, „bekommt keine Luft“, „macht so komische Atemgeräusche“, „hustet die ganze Nacht“. Elterliche Angaben zur Häufigkeit und Schwere von Hustenanfällen insbesondere in der Nacht korrelieren nicht gut mit objektivem Audiorecording. Dagegen stimmen elterliche und ärztliche Einschätzung zur Hustenqualität „feucht“ versus „trocken“ gut überein. Es ist hilfreich, wenn der Arzt z. B. einen inspiratorischen Stridor, Giemen oder auch einen Stakkatohustenanfall imitieren kann. Eltern können sich dann oft auf diese Begleitgeräusche festlegen. Wenn eine entsprechende Klärung nicht unmittelbar notwendig ist, kann man die Eltern bitten, den Husten zu Hause mit einem Smartphone aufzunehmen. Dies kann z. B. bei Keuchhustenanfällen zielführend sein.
Die Liste der häufigen und seltenen Ursachen für Husten ist lang. Die Erhebung anamnestischer DatenHustenAnamnese und Fakten hilft, die Ursachen einzugrenzen (Tab. 6.1 ).
Tab. 6.1.
Husten: Anamnestische Hinweise
|
Akuter Husten
Bei allen akuten Erkrankungen der Atemwege mit Husten wird die Diagnose nach Anamnese und symptombezogener Untersuchung klinisch gestellt. Begleitsymptome wie Schnupfen und Fieber machen eine virale Infektion wahrscheinlich. Im Einzelfall hat die Kenntnis der verursachenden Viren (Tab. 6.2 ) keine Bedeutung für das weitere therapeutische Vorgehen, auch wenn einige Viren bevorzugt bestimmte Erkrankungen auslösen. Trotzdem kann die Kenntnis der epidemiologischen Lage hilfreich sein für die zu erwartende Gesamtsituation in der Kommune, z. B. bei zirkulierenden RSV- oder Influenza-Viren oder in der Schule gehäuft auftretenden Mykoplasmen-Pneumonien. Die Vorhaltung entsprechender Schnellteste ist im Rahmen der Grundversorgung nicht sinnvoll.
Tab. 6.2.
Die häufigsten Erreger bei akuten AtemwegsinfektionenAtemwegsinfektionErreger
| Erreger von akuten Atemwegsinfektionen |
|---|
| 90–95 % durch Viren (> 200 verschiedene Viren) |
|
| 5–10 % durch Bakterien (primäre oder sekundäre Infektionen) |
|
Einige Viren verursachen gehäuft spezielle Krankheitsbilder (Tab. 6.3 ):
Tab. 6.3.
Diagnosen zu akuten infektiösen Erkrankungen der Atemwege
| Obere Atemwege | Untere Atemwege |
|---|---|
|
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Rhinoviren: Schnupfen/„Erkältungskrankheiten“; obstruktive Bronchitis; Exazerbation eines Asthma bronchiale.
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Respiratorische Synzytial-Virus-Infektionen (RSV): Bronchiolitis in 80 % bei Kindern < 2 Jahren.
-
•
Parainfluenza-, Influenza-Viren: Pseudokrupp, Bronchiolitis.
-
•
Humanes Metapneumovirus: Pneumonie; Bronchiolitis.
-
•
Oft liegen Mischinfektionen mit weiteren Viren oder Bakterien vor.
-
•
Grundsätzlich können alle atemwegsaffinen Viren alle Krankheitsbilder der oberen und unteren Atemwege verursachen.
Bei Zeichen von angestrengter Atmung, Atemnot und/oder Giemen ist die altersabhängige Erhöhung der Atemfrequenz das sensibelste Zeichen zur Beurteilung der Schwere der Erkrankung (Tab. 6.4 ).
Tab. 6.4.
Altersabhängige Werte für die normale AtemfrequenzAtemfrequenzTachypnoe und für Tachypnoe/Minute
| Alter | Normale Atemfrequenz | Tachypnoe∗ |
|---|---|---|
| Neugeborenes | 30–60 | > 60 |
| 1.–6. Lebenswoche | 30–60 | > 60 |
| 6 Monate | 25–40 | > 50 |
| 1 Jahr | 20–40 | > 40 |
| 3 Jahre | 20–30 | > 40 |
| 6 Jahre | 12–25 | > 30 |
| 10 Jahre | 12–20 | > 30 |
Definition der Tachypnoe nach WHO-Standards (gilt für ein ruhiges, schlafendes, nicht fieberndes Kind)
Bei Atemnotzeichen und/oder Verdacht auf Hypoxämie gibt es eine starke Empfehlung für den Einsatz der Pulsoxymetrie, um über das weitere Vorgehen ambulant vs. stationär entscheiden zu können.
Bei anhaltender pO2-Sättigung < 92 ist eine stationäre Einweisung angeraten.
Akuter „normaler“ Husten bei Erkältungskrankheiten
Ein akuter Husten bei Erkältungskrankheiten klingt in der Regel nach zehn bis 14 Tagen von alleine ab, jedoch hustet immerhin jedes 10. Kind auch noch nach vier Wochen. Nach bestimmten Virusinfektionen (z. B. Influenza- oder Parainfluenza-Infektionen) husten einige Kinder sogar bis zu sechs Monate lang (sog. benigner postviraler Husten).
Die Nächte mit hustenden Kleinkindern bei Erkältung können für Eltern aufreibend sein, weil sowohl das Kind als auch sie selber häufig wach werden. Das trägt dazu bei, dass Häufigkeit und Schwere der kindlichen Hustenanfälle in der elterlichen Wahrnehmung stärker empfunden werden, als objektiv in Audio-Aufnahmen nachzuweisen ist. Hinzu kommt, dass dem Symptom Husten etwas Gefährliches anhaftet (Lungenentzündung, Tuberkulose). Selbst wenn der Arzt nach Untersuchung des Kindes versichert hat, dass es sich nur um eine banale Erkältung handelt, die bei einem zuvor gesunden Kind erfahrungsgemäß bald abklingen wird, wünschen viele Eltern eine Behandlung des Hustens („Schreiben Sie keinen Hustensaft auf?“). Die Versicherung, dass es leider keine effektiven Hustenmittel gibt ist für viele Eltern nicht überzeugend, im Gegenteil, oft bleibt unausgesprochen im Raum stehen, dass der Arzt aus Kostengründen kein Hustenmittel aufschreiben möchte oder auch, dass er das Problem des Kindes nicht erfasst hat.
Behandlung
Die Liste alter HustenBehandlungHausmittel gegen Erkältung und Husten ist lang. In Deutschland haben Hustentees (z. B. mit Salbei, Thymian, Anis und Efeu) Tradition oder auch selbst hergestellte Hustensäfte aus einem Dekokt (Abkochung) von Zwiebeln und Fenchelhonig. Des Weiteren sind Einreibungen der Brust mit ätherischen Ölen, Brustwickel, Kamille-Dampfbäder und vieles mehr beliebt.
Merke.
Es gibt derzeit kein Medikament, das in guten wissenschaftlichen Studien bei einer ausreichenden Anzahl von Kindern die Dauer des akuten Erkältungshustens und/oder seine Intensität erkennbar beeinflusst.
Dies gilt für alle Substanzklassen (pflanzliche und chemische Expektorantien, Mucolytika, Antihistaminika). Unter den Hustenstillern sind seit Kurzem Codein und Dihydrocodein für Kinder unter 12 Jahren nicht mehr zugelassen (European Medicines Agency=EMA). Dextromethorphan hat sich gegenüber Placebo nicht als wirksamer erwiesen. Noscapin ist ab dem 6. Lebensmonat zugelassen, relativ nebenwirkungsarm, aber auch nicht an Kindern in guten Placebo-kontrollierten Studien untersucht. Feuchtinhalationen mit physiologischer Kochsalzlösung werden von vielen Kinder- und Jugendärzten insbesondere für Säuglinge und junge Kinder als hustenlindernd geschätzt, sind jedoch auch nicht auf ihre Effektivität untersucht worden. Es ist fraglich, ob damit mehr als eine „Befeuchtung“ der oberen Atemwege erreicht wird. Demgegenüber scheint die Inhalation von hypertoner Kochsalzlösung (3 % bzw. 6 %) wirksamer (sekretolytisch) zu sein.
Die früher übliche Verleihpraxis von Inhalationsgeräten durch Apotheken ist vielfach aus hygienischen und wirtschaftlichen Gründen aufgegeben worden. Die Kosten von Inhalationsgeräten werden von den Krankenkassen zur Behandlung von Erkältungs-Krankheiten nicht übernommen.
Glukose ist gegenüber anderen, geprüften, häufig angewandten Hustensäften hinsichtlich einer Linderung von Hustensymptomen wirksam. Man nimmt eine reversible Blockade von Hustenrezeptoren an der Rachenhinterwand und am Trachealeingang an. Dies ist auch das Wirkprinzip von Honig, der ebenfalls den Hustenreiz lindert. Er ist wirksamer als Placebo. Ob auch die Dauer des Hustens beeinflusst wird, ist bislang nicht untersucht. Honig darf Kindern unter 1 Jahr wegen der Gefahr des Botulismus nicht verabreicht werden.
Was also ist zu tun? Sicher ist gute Aufklärung angebracht über die Notwendigkeit, aber auch Gutartigkeit des Hustens. Wenn angebracht, sollte die Gelegenheit wahrgenommen werden, für eine rauchfreie Umgebung zu plädieren. Eltern sollten auf ausreichende Flüssigkeitszufuhr zur Schleimlösung achten (aber junge Kinder trinken oft nicht mehr). Abschwellende Nasentropfen zur Nacht und Hochlagern der jungen Kinder kann eine gewisse Erleichterung bringen. Die Schlafzimmertemperatur sollte eher kühl gehalten werden (um 18 Grad). Wenn die unvermeidliche Frage nach dem Hustensaft kommt, helfen die ärztlichen Erklärungen zur fraglichen Wirksamkeit der Säfte manchmal, aber oft auch nicht.
In mehreren Studien hat sich die Gabe eines Placebo-Saftes gegenüber Nichtbehandlung überlegen gezeigt. In einer amerikanischen Studie zeigte sich, dass Eltern nach Gabe eines Hustensaftes besser schlafen können. Ein (Placebo-)Saft, der keine Nebenwirkungen hat, kann vielleicht die Zufriedenheit dieser Eltern erhöhen. Das Bonmot „hätte ich die Kraft, nichts zu tun, ich täte es“ beschreibt das Husten-Dilemma.
Virales Krupp-Syndrom
Der AtemwegsinfektionVirales Krupp-Syndrom virale Krupp (synonym: Pseudokrupp Pseudokrupp Krupp-Syndrom , Laryngitis subglottica, akute stenosierende Laryngotracheitis) tritt wie alle Atemwegsinfektionen in den Wintermonaten gehäuft bei Kleinkindern auf. Der akuten Obstruktion (kurz unterhalb des Larynx) ist oft nur ein leichter Infekt vorausgegangen, manchmal begleitet von Bellhusten und Heiserkeit. Die Eltern berichten, dass sie in der Nacht plötzlich durch laute Einatmen-Geräusche (inspiratorischer Stridor), bellenden Husten und Unruhe des Kindes wach geworden sind. Je nach Vor-Information haben sie das Kind in der Nacht unter dem subjektiven Eindruck einer bedrohlichen Atemnot in der nächst erreichbaren Kinderklinik vorgestellt, oder sie haben das Kind auf dem Arm an die kühle Luft gebracht und ihm ein Glucocorticoid verabreicht. Wenn das Kind dann morgens in der Praxis vorgestellt wird, ist es meist schon auf dem Weg der Besserung. Die Kinder wirken nicht sonderlich krank, haben in Ruhe keine erschwerte Atmung mehr, entwickeln aber unter Aufregung während der ärztlichen Untersuchung noch einen inspiratorischen Stridor.
Zum Abend hin kann es allerdings durchaus nochmals zu einer Zunahme der oben geschilderten Symptome kommen, was ggf. erneute Therapiemaßnahmen nötig macht.
Beratung und Behandlung
Da Krupp-SyndromBehandlungeinzelne Kinder zur wiederholten Entwicklung eines Krupps neigen, sollten die Eltern für ein zukünftiges Selbstmanagement angeleitet werden: 1. Ruhe bewahren! 2. kühle Luft atmen lassen 3. abschwellendes Nasenspray geben, wenn nötig. Eltern sollten über die Zeichen zunehmender Atemnot aufgeklärt werden – wenn Kinder kurzatmiger werden, das Atemgeräusch leiser wird und/oder ein Pfeifen bei der Ausatmung zu hören ist –, damit sie entscheiden können, ob das Kind ärztliche Hilfe braucht. Feuchtinhalationen bringen keine klinische Besserung, dagegen ist die Gabe eines Glucocorticoids per os, rektal, systemisch oder hochdosiert inhalativ auch bei leichten Fällen von Krupp evidenzbasiert wirksam. (Wirkungseintritt nach ca. 1 Stunde). Die Gabe per os oder rektal sollte aufgrund der raschen und sicheren Applikation bevorzugt werden.
Für einen mittelschweren bis schweren Verlauf des Krupp kann diese Zeit überbrückt werden mit einer Epinephrin-Inhalation, die innerhalb von 10 Minuten wirksam wird, aber nach 2 Stunden abgeklungen ist. Diese Inhalation sollte allerdings beim ersten Mal unter ärztlicher Kontrolle erfolgen wegen des möglichen Rebound-Effektes nach Inhalation von Sympathomimetika. Epinephrin sollte deshalb auch nur in Kombination mit einem Steroid angewandt werden und eine Beobachtung des Kindes gewährleistet sein.
Bei häufig rezidivierendem Krupp sollte das Kind etwa ab dem 3.–4. Lebensjahr auf eine HausstaubmilbensensibilisierungKrupp-SyndromHausstaubmilben getestet werden, die bei ca. 30 % der Kinder positiv ausfällt.
Kindgerechte Darreichungsformen der Glucocorticoide:
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Dexamethason p. o. 0,6 mg/kg KG (InfectoDexaKrupp® Saft 2 mg/5 ml)
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Betamethason p.o. 0,1 mg/kg KG (Celestamine®0,5 liquidum; Celestone®0,5 Liquidum)
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Prednison/Prednisolon rectal (Rectodelt®/Klismacort® 100 mg supp)
-
•
Budesonid Inhalation per Spacer 400 bis 800 µg=2 Hübe (Budiair®/Pulmicort®Dosieraerosol)
Bronchiolitis
Das klinische Bild der Bronchiolitis Bronchiolitis beruht auf einer akuten Entzündung der Bronchiolen mit Ödem, Nekrose der epithelialen Zellen der Bronchiolen und vermehrter Schleimproduktion. Die Infektionskrankheit wird zu > 80 % durch RS-Viren verursacht. Es ist die häufigste akute schwere und auch bedrohliche Obstruktion der unteren Atemwege bei Kindern unter einem Jahr. Insbesondere bei jungen Säuglingen kann es schnell zu einer rapiden Verschlechterung der Atmung mit Hypoxämie kommen.
Die Diagnose wird klinisch gestellt. Der Grad der Atemnot (pO2 < 92) entscheidet über die stationäre Einweisung.
Risikofaktoren für einen schweren Verlauf sind:
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Alter unter 3 Monate
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Ehemals Frühgeborenes
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Zugrunde liegende kardiale oder pulmonale Erkrankung
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Immunschwäche
Behandlung
Es gibt inzwischen BronchiolitisBehandlungeine gute Evidenzlage, dass Kortison, Salbutamol, Ipratropium und Epinephrin bei Bronchiolitis nicht wirksam sind. Diese Medikamente sollten deshalb auch nicht verabreicht werden.
Die Eckpfeiler der Behandlung sind eine gute Überwachung des Kindes und unterstützende Pflege mit ausreichender Hydrierung und bei Bedarf O2-Gabe (stationär).
Da sich das klinische Bild der Bronchiolitis oft nicht sicher von einer obstruktiven Bronchitis des älteren Säuglings abgrenzen lässt, ist der probatorische Einsatz von Salbutamol, Ipratropium und hypertoner Kochsalzlösung gerechtfertigt.
Ambulant erworbene Pneumonie/Bronchopneumonie
Die ambulant erworbene Lungenentzündung (Pneumonie) Pneumonieist eine akute Entzündung des Lungenparenchyms. Je nach Ausdehnung manifestiert sie sich als Herd- oder Lobärpneumonie. Geht sie von den Bronchien aus, spricht man von Bronchopneumonie. Die Tachypnoe ist das konsistenteste Zeichen der Pneumonie. Im Säuglings- und Kleinkindesalter sind Viren die Haupterreger der Lungenentzündungen, ab dem 5. Lebensjahr stehen bakterielle Erreger im Vordergrund, v. a. S. pneumoniae und M. pneumoniae (Tab. 6.2).
Die Diagnose der Pneumonie wird klinisch gestellt.
Es gibt keine Empfehlung auf Basis der Evidenzgrade für:
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Blutbild mit Differenzierung,
-
•
CRP sowie
-
•
Röntgen-Thorax,
da diese Untersuchungen keine sichere Unterscheidung zwischen viraler und bakterieller Infektion ermöglichen.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit (98 %) ist eine Pneumonie bei folgenden Atemfrequenzen ausgeschlossen (fieberfreies ruhiges Kind):
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< 60/min bei Säuglingen unter 6 Monaten
-
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< 50/min bei Säuglingen unter 12 Monaten
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< 40/min bei Kleinkindern (1–5 Jahre)
-
•
< 20/min bei Kindern über 5 Jahre
Eine Röntgen-Thoraxuntersuchung ist jedoch angeraten, wenn
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•
eine Komplikation (z. B. Pleuraerguss) vermutet wird,
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ungewöhnliche Symptome oder Auskultationsbefunde auftreten,
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die Therapie nicht anschlägt,
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•
zur Kontrolle einer Mittellappen- oder Lobärpneumonie.
Behandlung
Die meisten PneumonieBehandlungKinder mit ambulant erworbenen Pneumonien können zu Hause behandelt werden. Dort brauchen sie Ruhe, Aufmerksamkeit, ein ausreichendes Flüssigkeitsangebot und je nach Allgemeinbefinden ein antipyretisches Medikament
Für die antibiotische Initialtherapie wird empfohlen:
-
•
Säuglinge und Kinder < 5 Jahren
-
–Erreger sind überwiegend Viren; auskultatorisch: Giemen und feinblasige RG; eine antibiotische Behandlung ist nicht zwingend erforderlich
-
–Bei Verdacht auf bakterielle Infektion antibiotische Behandlung mit:
-
–Mittel der 1. Wahl: Amoxicillin oder Amoxiclav
-
–Mittel der 2. Wahl: Cefuroxim (oder anderes Cefalosporin)
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–
-
–
-
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Schulkinder und Jugendliche
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–Bakterielle Erreger wie bei Kleinkindern, antibiotische Behandlung mit:
-
–Mittel der 1. Wahl: Amoxicillin oder Amoxiclav
-
–Mittel der 2. Wahl: Macrolide (bei Verdacht auf Mykoplasmen-Infektion)
-
–
-
–
In der Regel genügt eine 5- bis 7-tägige antibiotische Behandlung.
Eine stationäre Einweisung sollte erwogen werden, wenn
-
•
es sich um einen schweren Krankheitsverlauf handelt
-
–Bei anhaltender pO2-Sättigung (Pulsoxymetrie) < 92
-
–Atemfrequenz > 70/min bei Kleinkindern
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–Atemfrequenz > 50/min bei Schulkindern
-
–Starke Einziehungen, stöhnende Atmung und Apnoen
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–
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bei Säuglingen unter 6 Monaten
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•
das Kind erbricht und keine oralen Medikamente bei sich behalten kann
-
•
Zweifel an der Möglichkeit der Eltern besteht, das Kind adäquat überwachen zu können.
Chronischer Husten
Es gibt unterschiedliche Definitionen von chronischem Husten z. B. als > 4 Wochen oder als > 8 Wochen; in letzterem Fall wird noch ein subakuter = prolongierter HustenHustenchronischer Hustenprolongierter von 3–8 Wochen definiert. Die häufigste Ursache für diesen prolongierten Husten ist der benigne postvirale Husten.
Es gibt eine Vielzahl von Ursachen für den chronischen Husten (Tab. 6.5 ). Dieser bedarf immer einer Abklärung, häufig in Zusammenarbeit mit dem pädiatrischen Pneumologen.
Tab. 6.5.
Ursachen für chronischen Husten∗
| Häufig |
| Hyperreagible Bronchien/Asthma bronchiale |
| Relativ häufig |
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| Selten |
|
Rezidivierende Infekte in schneller Abfolge (Kindergartenkinder in den Wintermonaten) können wie ein chronischer Husten erscheinen, bedürfen aber keiner weiteren Abklärung
Pfeifen und Giemen beim Kleinkind
Bis zum HustenPfeifen HustenGiemenAlter von sechs Jahren haben 50 % aller Kinder gelegentlich oder häufiger Infekt-assoziiert pfeifende, giemende Atemgeräusche (Bronchiolitis beim Säugling, obstruktive Bronchitis beim Kleinkind). Bei mehr als 20 % dieser Kinder verschwinden diese Episoden bis zum Schulalter („es wächst sich aus“). Bei den verbleibenden 30 % der Kinder entwickelt sich bei der Hälfte der Kinder ein Asthma bronchiale, das bis ins Erwachsenenalter bestehen bleibt.
Vor allem im frühen Kindesalter können typische Asthmasymptome völlig fehlen. Hier zeigt sich oft ein persistierender Husten im infektfreien Intervall, der typischerweise in der Nacht (beim Einschlafen, in der 2. Nachthälfte, beim Aufstehen), aber auch nach emotionaler Erregung (Weinen, Schreien) oder nach körperlicher Belastung auftritt und sich durch konventionelle Hustentherapie nicht beeinflussen lässt. Hier kann sich durchaus die Indikation zu einer intermittierenden antiinflammatorischen Inhalationstherapie ergeben, wenn diese Beschwerden chronisch (> 8 Wochen) werden.
Eltern eines betroffenen Kleinkindes wollen wissen, ob die rezidivierenden obstruktiven Bronchitiden bei ihrem Kind schon ein Asthma sind, was man zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht sicher sagen kann.
Bei Kleinkindern mit mehr als vier Episoden mit Giemen sind eine Reihe von Risikofaktoren für die Entwicklung eines späteren Asthma bronchiale (> 6. Lebensjahr) identifiziert worden
Der asthmaprädiktive Index
-
•
Hauptkriterien Asthmaprädiktiver Index
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–Asthma bei den Eltern
-
–Atopische Dermatitis beim Kind
-
–Allergische Sensibilisierung mit mehr als 1 Allergen
-
–
-
•
Zusätzliche Minor-Kriterien
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–Giemen unabhängig von Erkältungen
-
–Sensibilisierung gegen Ei, Milch, Nuss
-
–Bluteosinophilie (eosine Granulozyten > 4 %)
-
–
Bei langhaltend oder chronisch hustenden Kleinkindern sollten in der Praxis primär solche Untersuchungen eingesetzt werden, die die wahrscheinlichste Diagnose beweisen oder entkräften können, wie z. B. eine allergische Ursache des Hustens, eine Fremdkörperaspiration, chronische Erkrankungen von Herz oder Lunge, zystische Fibrose.
Basisdiagnostik bei chronischem Husten bei Kindern von 0–4 Jahren
-
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Diagnostischer Therapieversuch ++
-
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Spezifisches IgE (Allergietest) (+)
-
•
Röntgen-Thorax (+)
-
•
Schweißtest (+)
Bei Verdacht auf hyperreagible Bronchien und Ausschluss von anderen schwerwiegenden Erkrankungen ist bei Kleinkindern je nach Häufigkeit der obstruktiven Episoden und jetzt anhaltendem Husten ein diagnostischer Therapieversuch (auch Kap. 6.2) mit einem inhalativen Kortikosteroid (ICS) über 4–6 Wochen oder auch für 2–3 Wochen mit einem Leukotrien-Antagonisten (Montelukast für Kinder < 2. Lebensjahr) angeraten. Zur Inhalation mit Dosieraerosolen sind Inhalierhilfen mit Maske für Säuglinge oder Kleinkinder empfohlen. Ab 5 Jahren ist die Inhalation mit einem Mundstück der Maske vorzuziehen.
Fallbeispiel.
Auflösung
Telefonische Verdachtsdiagnose: Keuchhusten
Die Kinder- und Jugendärztin hat am Telefon einen typischen Keuchhustenanfall mit Stakkatohusten und inspiratorischem Ziehen gehört. Karl, 3 Monate alt, wird während des Hustens blau (zyanotisch). Junge Säuglinge entwickeln statt der Hustenanfälle nicht selten auch Apnoen (Atemstillstände), die auch tödlich verlaufen können. Die Komplikationsrate mit Pneumonien und gelegentlich neurologischen Komplikationen wie Enzephalopathien und Krampfanfällen liegt bei 10 %.
Karl wurde 14 Tage intensivmedizinisch überwacht. Die Ansteckungsquelle konnte nicht gefunden werden.
Merke.
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•
Säuglinge < 1 Jahr müssen bei begründetem Verdacht auf eine Pertussiserkrankung zur Überwachung stationär eingewiesen werden.
-
•
Die häufigste Ansteckungsquelle bei jungen Säuglingen sind die Eltern oder Geschwister.
Literatur
- AWMF-S2 K-LL in Arbeit, AWMF-S2 K-LL in Arbeit: Management der ambulant erworbenen Pneumonien bei Kindern und Jugendlichen.
- Ankermann T., Kopp M.V., Schwerk N. Therapie des unspezifischen Hustens. Monatsschr Kinderheilk. 2015;163:1254–1259. [Google Scholar]
- Dittrich A.M., Hansen G., Schwerk N. Klinische Symptome und Differenzialdiagnosen des Hustens. Monatsschr Kinderheilk. 2015;163:1230–1240. [Google Scholar]
- Paul I.M., Beiler J.S., Vallati J.R. Placebo Effect in the Treatment of Acute Cough in Infants and Toddlers: A Randomized Clinical Trial. JAMA Pediatr. 2014;168:1107–1113. doi: 10.1001/jamapediatrics.2014.1609. [DOI] [PubMed] [Google Scholar]
- Ralston S.L., Lieberthal A.S., Meissner H.C. Clinical Practice Guideline: The Diagnosis, Management, and Prevention of Bronchiolitis. Pediatrics. 2014;134(5):e1474–e1502. doi: 10.1542/peds.2014-2742. [DOI] [PubMed] [Google Scholar]
6.2. Husten bei hyperreagiblen Bronchien/Asthma bronchiale
Fallbeispiel.
Chris, ein zehnjährigerHustenbei Asthma bronchiale Hustenbei hyperreagiblen Bronchien Junge, bemerkt seit einigen Monaten während der Sportstunden in der Schule, aber auch beim Fußballtraining, dass er schneller außer Puste ist als seine Klassenkameraden. In den letzten beiden Jahren war zudem im Sommer ein eigenartiger Schnupfen mit Niesattacken und heftigem Nasenlaufen, überwiegend im Freien, aufgetreten.
Die Mutter des Jungen erinnert sich, dass Chris bereits im frühen Kindesalter häufiger bei Infekten ein eigenartiges pfeifendes Atemgeräusch mit teils heftiger Atemnot und oft wochenlang Husten gehabt hatte.
Fragen zum Fallbeispiel
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Ab welchem Zeitpunkt muss an die chronische Erkrankung Asthma bronchiale gedacht werden?
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Wie muss die weitere diagnostische Abklärung aussehen?
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Welche Differenzialdiagnosen müssen bedacht werden, besonders hinsichtlich der verschiedenen Lebensalter der jungen Patienten (frühes Kindesalter, Schulalter, Jugendalter)?
-
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Wie sieht die geeignete Therapie aus?
6.2.1. Stellenwert in der Grundversorgung
Die Asthma bronchialehäufigste Ursache für chronischen Husten im Kindes- und Jugendalter ist das Asthma bronchiale bzw. ein hyperreagibles Bronchialsystem. Im deutschsprachigen Raum sind ca. 10 % der Kinder über sechs Jahre betroffen. Die meisten Kinder haben ein leicht- bis mittelgradig schweres Asthma. Nur 4–5 % der Kinder haben ein schweres Asthma.
6.2.2. Definition
Asthma bronchiale
-
•
Chronisch entzündliche Erkrankung der Atemwege (mit eosinophiler und/oder neutrophiler Inflammation)
-
•
Reversible Atemwegsobstruktion (spontan oder nach adäquater Behandlung)
-
•
Bronchiale Hyperreagibilität
6.2.3. Klinisches Erscheinungsbild
Rezidivierende Episoden von
-
•
Husten, chronisch, trocken, auch ohne Erkältungszeichen, v. a. nächtlich („hustet die ganze Nacht“) und frühmorgens; nach Toben, Rennen, Sport
-
•
Giemen, Pfeifen („Fiepen“, Keuchen, ziehende Atemgeräusche)
-
•
Atemnot („bekommt schlecht oder keine Luft“)
-
•
Verlängerte Ausatmung, Kurzatmigkeit
6.2.4. Diagnose
Asthma bronchialeAsthma bronchialeDiagnostik ist im Kindesalter sehr variabel, was v. a. bei jüngeren Kinder immer wieder zu diagnostischen Unsicherheiten führt (Abb. 6.1 ).
Abb. 6.1.

Diagnostischer Prozess bei Asthma bronchiale
[V492]
Typische Auslöser einer asthmatischen Reaktion sind eine Allergie, körperliche Anstrengung, Infekte und eine Reihe von inhalativen Noxen (Tabakrauch, Lösungsmittel etc.). Auch bestimmte Wetterlagen (Nebel, Regen, feuchtkalte Luft etc.) und starke Emotionen (Angst, Trauer, Wut, „Stress“, Lachen etc.) werden zu potenten Asthmaauslösern gezählt.
Stufendiagnostik Lungenfunktion
Peak Flow
Peak-Flow-Messungen Asthma bronchialePeak-Flow-Messung Asthma bronchialeSpirometriesind die einfache Bestimmung von Atemspitzenstoß (peak exspiratory flow, PEF) und dessen tageszeitunabhängiger Variabilität. Die Variabilität lässt sich aus dem gemessenen Tagesmaximum und -minimum errechnen. Die Asthmadiagnose gilt bei einer persistierenden Variabilität von > 20 % als gesichert.
Peak-Flow-Messungen
Verwertbarkeit eingeschränkt, da nur Messung der Obstruktion der großen Atemwege; eine periphere Obstruktion wird nicht erfasst.
Spirometrie
Die Spirometrie (Abb. 6.2 ) stellt die Basis der Lungenfunktionsuntersuchung dar. Die Qualität und Verwertbarkeit von Lungenfunktionsmessungen hängt entscheidend von der Mitarbeit des Patienten ab.
Abb. 6.2.

Spirometrie
[L190]
Spirometriegeräte werden meist zu akzeptablen Preisen angeboten; entscheidend sind hier Gerätequalität und die Ausbildung des Untersuchungspersonals.
Mit der SpirometrieSpirometrie werden wichtige Messgrößen erfasst (Tab. 6.6 ).
Tab. 6.6.
Messgrößen der Spirometrie
| FVC | Forcierte exspiratorische Vitalkapazität |
| VCin (VCmax) | Inspiratorische Vitalkapazität, am besten nach vorheriger kompletter Exspiration |
| FEV1 | Einsekundenkapazität, maximal ausatembares Volumen innerhalb der ersten Sekunde der forcierten Exspiration |
| FEV1/VCin | Relative Einsekundenkapazität, bezogen auf Prozent der VCin |
Durchführung Spirometrie:
-
•
Patient sitzt bequem, Nasenklammer aufsetzen
-
•
Einige Ruheatemzüge
-
•
Erst ruhige (nicht forcierte) Exspiration
-
•
Dann maximale Inspiration mit folgender maximal forcierter Exspiration
-
•
Wichtig: Plateau-Bildung bei In- und Exspiration (d. h. maximale Ein- bzw. Ausatmung erreicht)
-
•
Mindestens 3–5 verwertbare Messungen erstellen (Reproduzierbarkeit der Messungen)
Fluss-Volumen-Kurve
Bei KindernFluss-Volumen-Kurve und Jugendlichen ist die Darstellung in Form einer Fluss-Volumen-Kurve sinnvoll und wichtig, da häufiger vor allem bei jüngeren Kindern hiermit pathologische Befunde erhoben werden können, obgleich die FEV1 noch völlig in Ordnung ist. Diese Messung kann im Rahmen des Atemmanövers zur normalen Spirometrie (siehe oben) erfasst werden.
Bei der Fluss-Volumen-Kurve (F/V-Kurve) werden die maximalen in- und exspiratorischen Flüsse gegen das forciert geatmete Volumen auf unterschiedlichen Volumenniveaus aufgezeichnet (Abb. 6.3 ). Mit ihr kann ein rascher Überblick über bestehende obstruktive oder restriktive Ventilationsstörungen gewonnen werden („Wäscheleine“).
Abb. 6.3.

Fluss-Volumen-Kurve (F/V-Kurve)
[L157]
-
•
PEF: Peak exspiratory flow (Atemspitzenstoß); FVC: Forcierte Vitalkapazität
-
•
MEF: Max. exspiratorischer Fluss bei 25/50/75 % der Ausatmung
Durchführung Fluss-Volumen-Kurve:
-
•
Max. forcierte Exspiration, d. h. steiler Anstieg der Exspirationskurve bis zum PEF
-
•
Gleichmäßiger Kurvenverlauf ohne Artefakte (z. B. Hustenstoß)
-
•
Ausreichend lange Exspirationsdauer
-
•
Kein vorzeitiger Abbruch der Exspiration
-
•
Messung muss reproduzierbar sein
-
•
In- und Exspirationskurve müssen geschlossen sein
Bronchospasmolysetest
Die DiagnostikBronchospasmolysetest des Asthma bronchiale umfasst nicht alleine den Nachweis einer pulmonalen Obstruktion, sondern bedarf noch des Nachweises der (partiellen) Reversibilität derselben mithilfe eines Bronchospasmolysetests. Bei unauffälliger Spirometrie kann der Nachweis der bronchialen Hyperreagibilität durch einen Provokationstest oder Nachweis der gesteigerten Peak-Flow-Variabilität erfolgen.
Durchführung Spasmolyse:
-
•
Vorherige Medikamenteneinnahme dokumentieren!
-
•
Ausgangslungenfunktion
-
•
Salbutamol Dosieraerosol 2 Hübe mit Spacer
-
•
Nach 10 bis 15 Minuten 2. Lungenfunktion
Bewertung (positives Testergebnis):
-
•
Anstieg des Peakflow um +20 %
-
•
Anstieg der FEV1 um +15 %
-
•
Verbesserung von MEF 50 und MEF 25 mit
-
–Normalisierung der Form der F/V-Kurve
-
–Abfall des Atemwiderstands um –50 %
-
–
Lauftest („free-running-test“)
Bei fehlendemAsthma bronchialefree-running-test Nachweis einer pulmonalen Obstruktion und gleichzeitig typischer Asthma-Anamnese kann die Diagnosestellung des Asthmas durch den Nachweis der bronchialen Hyperreagibilität (BHR) via standardisierter Lauf-Provokation erfolgen.
Durchführung Lauftest:
-
•
Vorbedingungen: 2–3 Stunden keine starke Anstrengung, Medikamenten-Einnahme dokumentieren!
-
•
Basis-Lungenfunktion
-
•
Dann Belastungsdauer 6–8 Minuten freies Laufen
-
•
Belastungsziel: Herzfrequenz über 160–180/min innerhalb der ersten 2 Minuten der Belastung erreichen und anschließend bis zum Ende der Belastung halten
-
•
Messungen 10 Minuten nach Belastung (maximale Obstruktion)
Allergiediagnostik
Im Schulkindes- und Jugendalter sind die meisten Patienten mit Asthma von einer Atopie betroffen. Neben Anamnese und körperlicher Untersuchung sowie der Lungenfunktion stellt die allergologische Diagnostik einen weiteren wichtigen Baustein der Asthmadiagnostik dar (Gesamt-IgE, RAST, Haut-PRICK-Test; ggf. standardisierte Provokationsteste).
Vorsicht.
Gerade im Kleinkindesalter macht eine sehr breite allergologische Diagnostik wenig Sinn. Oft reicht erst einmal der Ausschluss perennialer Allergien (Hausstaubmilbe, Katze etc.).
6.2.5. Beratung und Behandlung bei Asthma bronchiale
Ziel der Asthmatherapie (Tab. 6.7 ) ist esAsthma bronchialeTherapie Asthma bronchialeMedikamente, dem erkrankten Kind ein normales Leben mit Teilhabe an altersgemäßen körperlichen und sozialen Aktivitäten (Sport, Spiel, Schule, Kindergarten etc.) zu ermöglichen.
Tab. 6.7.
Therapie nach dem Grad der Asthmakontrolle intensivieren oder reduzieren
| Frequenz | Schweregrad | Lungenfunktion | Therapie |
|---|---|---|---|
|
Episoden seltener als alle 6 Wochen | Normal | β2-Sympaticomimetikum bei Bedarf |
|
Episoden häufiger als alle 6 Wochen | Episodisch obstruktiv, im Intervall normal | ICS plus β2-Mimetikum bei Bedarf |
|
Symptome an mehreren Tagen/Wochen sowie nächtlich | Obstruktiv auch im Intervall | ICR Therapie-Erhöhung plus β2-Mimetikum bei Bedarf |
|
Tägliche Symptome | FEV1 < 60 % des Sollwertes | In Absprache mit pädiatrischen Pneumologen |
Medikamente zur Behandlung des Asthma bronchiale
-
•
Bedarfsmedikation („Reliever“)
-
–β2-Adrenergic-Rezeptor-Agonisten
-
–„RABA = Rapid Acting Beta2-Agonists“: Salbutamol, Terbutalin
-
–„LABA = Long Acting Beta2-Agonists“: Salmeterol, Formoterol
-
–
-
–Anticholinergikum (Ipratropiumbromid-Atrovent®) bei Säuglingen und Kleinkindern
-
–
-
•
Dauermedikation („Controller“) zur Langzeittherapie der asthmatischen Entzündung
-
–ICS (Inhalative Corticosteroide): bei Kindern am besten untersucht sind Budesonid und Fluticason
-
–LTRA (Leucotrienrezeptorantagonisten wie Montelukast)
-
–
Die antientzündliche Dauertherapie ist das Mittel der Wahl zur Therapie des Asthma bronchiale, da die akute und chronische Entzündung herausragendes Charakteristikum ist.
Glucocorticosteroide (GCS) Asthma bronchialeGlucocorticosteroidesind in der Asthmatherapie die effektivste antientzündliche Medikamentengruppe. Inhalative Corticosteroide (ICS) verbessern die Lungenfunktion und die bronchiale Hyperreagibilität (BHR) durch Unterdrückung der entzündlichen Prozesse in den Atemwegen und verhelfen hierdurch zu einer gebesserten Symptomkontrolle. Diese Effekte gelten allerdings nur während der Zeit der Behandlung (Tab. 6.8 ). Nach Absetzen der ICS kommt es meist nach wenigen Wochen zu erneuten Symptomen bei gesteigerter BHR und verschlechterter Symptomkontrolle.
Tab. 6.8.
Dosierung ICS bei Kindern (µg/Tag)
| Wirkstoff | Niedrige Dosis | Mittlere Dosis∗∗ | Hohe Dosis |
|---|---|---|---|
| Beclometason∗∗∗∗ | 100–200 | > 200–400 | > 400 |
| Budesonid | 100–200 | > 200–400 | > 400 |
| Fluticason∗∗∗ | < 200 | 200 | > 200 |
| Mometason | 100–200 | > 200–400 | > 400 |
Bei den mittleren Dosierungen sind im Allgemeinen keine klinisch relevanten, unerwünschten AZW zu erwarten.
In der GINA-Leitlinie wird die mittlere Dosis mit > 200–500 µg und die hohe Dosis mit > 500 µg angegeben. Die Abweichung ist mit dem Sicherheitsprofil von Fluticason zu begründen, da das Risiko von unerwünschten Wirkungen ab einer Dosierung von 200 µg deutlich ansteigt. Gemäß Fachinformation sollen Tagesdosen oberhalb von 200 µg nicht längerfristig eingesetzt werden (Fachinfo Flutide® mite Dosier-Aerosol FCKW-frei).
Dosis aus Zubereitungen mit kleiner Partikelgröße um die Hälfte reduzieren.
Zu den Entzündungshemmern gehören neben den Glucocorticoiden (GCS) auch Leukotrien-Rezeptor-Antagonisten (LTRA), Immunmodulatoren, Cromone und indirekt auch die monoklonalen anti-IgE-Antagonisten.
Langzeittherapie im Kindesalter
-
•
Für keine LangzeittherapieAsthma bronchialeLangzeittherapie konnte ein präventiver Einfluss auf die spätere Asthmaentwicklung gezeigt werden.
-
•
Bei Beginn einer ICS-Therapie (dann meist über mehrere Monate) sollte die klinisch sinnvolle und leitliniengerechte Steroid-Dosis eingesetzt werden, die dann bei Stabilisierung auf die niedrigste mögliche Dosis angepasst wird.
-
•
Eine längerfristige ICS-Behandlung (untersucht wurden 1–3 Jahre Pulmicort [Budesonid]-Inh. 200 μg 2 × tgl. im 5.–12. Lj.) kann bereits zu einer signifikanten Reduktion der Wachstumsgeschwindigkeit führen.
-
•
Es gibt keinen Biomarker, der zwischen Ansprechen auf ICS oder LTRA unterscheidet.
-
•
Bei Therapieintensivierung (ICS) ist oft eine Dosiserhöhung des ICS wirksamer als die Addition von LTRA.
-
•
Kinder und ihre Familien profitieren von einer Asthmaschulung!
Seit 2009 existiert in Deutschland ein Stufenschema zur Asthmatherapie (Abb. 6.4 ), veröffentlicht in der „Nationalen Versorgungsleitlinie Asthma bronchiale (2009/2011)“. Hier gilt das Leitmotto „Intensiviere Therapie, wenn nötig, reduziere, wenn möglich“.
Abb. 6.4.

Stufenschema zur Asthmatherapie [X315-002]Asthma bronchialeStufenschema
Dieses neue Therapiekonzept spiegelt das wider, was Asthmatherapie eigentlich sein sollte, nämlich eine flexible Antwort auf die Bedürfnisse einer chronischen Erkrankung.
Merke.
-
•
Therapiebeginn bei teilweise kontrolliertem Asthma ab Stufe 2, bei unkontrolliertem Asthma bei Stufe 3
-
•
Ab Stufe 4 ist die Konsultation eines pädiatrischen Subspezialisten angeraten
-
•
Nach 1–3 Monaten sollte der Versuch einer Dosisreduktion erfolgen („step down“)
Asthmaanfall/akute Exazerbation
Bei akutem Asthmaanfall ist ein ausreichendesAsthma bronchialeNotfallmanagement Notfallmanagement in der Praxis einzuüben.
-
•
Verabreichung kurzwirksames β-Mimetikum (z. B. Salbutamol Dosieraerosol 2–3 Hübe via Spacer).
-
•
Bei schwerem Anfall oder mangelhaftem Ansprechen nach 10–15 min noch mal Salbutamol DA verabreichen und ggf. systemisches Steroid (1–2 mg Prednisolon/kg Körpergewicht).
-
•
Bei ausbleibender Stabilisierung, ggf. klinischer Verschlechterungstendenz und O2-Sättigung < 92 % Sauerstoffgabe und Einweisung zur stationären Überwachung in eine Akutklinik.
-
•
Cave: Bei nächtlicher Infektexazerbation empfiehlt sich neben bronchialerweiternder Inhalationstherapie (ggf. mit Düsenvernebler) die frühe hochdosierte Steroidtherapie, bei Säuglingen ggf. als Suppositorium, bei Kleinkindern als Suspension (Dosierung: nach Körpergewicht, siehe Medikamenteninformation).
Merke.
Eltern von Kindern mit Asthma und Jugendlichen mit Asthma muss ein schriftlicher Therapieplan mitgegeben werden, der erklärt, wie sie
-
•
die Dauertherapie durchführen und
-
•
einen Asthmaanfall behandeln sollen.
Besonderheiten der Inhalationstherapie
Die wesentlichen Asthma bronchialeInhalationstherapieEinflussgrößen in der Wahl des patientengerechten Inhalationssystems sind einfache Bedienung und das dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes angepasste Device. Ziel ist, das zu verabreichende Medikament möglichst gleichmäßig im Bronchialsystem zu deponieren.
-
•
Dosieraerosol: möglichst mit Inhalierhilfe (Spacer), gute Wirkstoffdeposition
-
•
Düsenvernebler: v. a. in der Akuttherapie oder bei Infekt-Exazerbationen, möglichst keine Dauertherapien („Zeitfresser“)
-
•
Pulverinhalatoren: bei Kindern ab dem (6.–)8. Lebensjahr gut geeignet
Asthmainstruktion in der Praxis
Die Asthmainstruktion vermittelt wesentliche Inhalte von asthmarelevantem Wissen und Fähigkeiten, die Patienten und Eltern brauchen, um zunächst einmal in den meisten Fällen mit Asthmaexazerbationen adäquat reagieren zu können.
-
•
Inhalationstechnik – Inhalierhilfen
-
•
Unterschied: Dauer-/Akut-Medikamente
-
•
Peak-flow-Technik
Fallbeispiel.
Auflösung
An eine Asthma-Erkrankung muss gedacht werden, wenn Chris bleibende asthmatypische Beschwerden ohne Bindung an Infekte, häufig bei körperlicher Belastung oder auch emotionaler Erregung zeigt, die über lange Zeit („chronisch“) bestehen bleiben und ggf. bei Einsatz antiobstruktiver und/oder spezifischer antientzündlicher Medikamente reversibler sind.
Es muss eine ausführliche Anamnese, eine Lungenfunktionsuntersuchung und eine allergologische Testung erfolgen (primär PRICK-Test!). Ein Peakflow-Protokoll ist sinnvoll und wichtig.
Die notwendige Therapie muss sich an den bestehenden Leitlinien orientieren („Nationale Versorgungsleitlinie Asthma bronchiale“).
Differenzialdiagnostisch muss an die DD der verschiedenen akuten und chronischen Hustenformen gedacht werden.
Literatur
- Bacharier L.B. Diagnosis and treatment of asthma in childhood: a PRACTALL Consensus report. Allergy. 2008;63:5–34. doi: 10.1111/j.1398-9995.2007.01586.x. [DOI] [PubMed] [Google Scholar]
- Berdel D., Forster J., Gappa M., Kiosz D., Leupold W., Pfeiffer-Kascha D., Rietschel E., Schuster A., Sitter H., Spindler T., Wahlen W. Asthma bronchiale im Kindes- und Jugendalter. www.gpau.de/fileadmin/user_upload/GPA/dateien_indiziert/Leitlinien/gem._Leitlinie_Asthma.pdf (letzter Zugriff: 23.1.2017)
- GINA Report . 2015. Global strategy for asthma management and prevention.www.ginasthma.org [Google Scholar]
- Nationale Versorgungsleitlinie Asthma Registernummer nvl - 002. Klassifikation. Stand. 2011;1.7 www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/nvl-002.html (in Überarbeitung), gültig bis 31.12.2014. (letzter Zugriff: 23.1.2017) [Google Scholar]
- S2-Leitlinie der Gesellschaft für Pädiatrische Pneumologie (GPP), der Gesellschaft für Pädiatrische Allergologie und Umweltmedizin (GPA), der Arbeitsgemeinschaft Asthmaschulung im Kindes- und Jugendalter (AGAS) und der Gesellschaft für Pädiatrische Rehabilitation
6.3. Husten bei Tuberkulose (TB)
Fallbeispiel.
In der Praxis wird ein dreieinhalb Jahre altes Flüchtlingsmädchen aus Afghanistan vorgestellt. Die Familie hat eine Flucht-Odyssee mit längeren Aufenthalten in Camps, sowohl in der Türkei als auch in Griechenland hinter sich. Anamnestisch wird eruiert, dass das Kind ständig erkältet sei, sehr viel huste, öfter auch schwitze, in den letzten zwei Monaten deutlich weniger Appetit habe. Klinisch fällt ein Kind in reduziertem AZ mit dem Bild einer eitrigen Rhinitis und Bronchitis auf.
Fragen zum Fallbeispiel
-
•
Wie zwingend ist bei o. g. Anamnese und den klinischen Zeichen die Durchführung einer TuberkuloseTuberkulose (TB)-Diagnostik?
-
•
Wie sieht der Ablaufplan zur Diagnostik einer Tuberkulose aus?
-
•
Welche therapeutischen Maßnahmen sind aktuell?
6.3.1. Stellenwert in der Grundversorgung
Durch den Migrationsstrom der letzten Jahre von Kindern und Jugendlichen aus Hochprävalenzländern für Tuberkulose wird gerade in den primär versorgenden pädiatrischen Praxen zukünftig ein vergessen geglaubtes Krankheitsbild in den Fokus rücken. Die Tuberkulose (TB) stellt nicht nur wegen ihrer diagnostischen und therapeutischen Probleme, sondern auch wegen der organisatorischen Implikationen (Umgebungsuntersuchungen, Zusammenarbeit mit dem ÖGD etc.) eine große Herausforderung für den koordinierenden Kinder-und Jugendarzt dar.
6.3.2. Epidemiologie
Die Inzidenz der Tuberkulose (TB)EpidemiologieTuberkulose (TB) lag in Deutschland im Jahr 2013 bei 5,3/100.000 Einwohner und bei Kindern und Jugendlichen < 15 Jahren durchschnittlich bei 1,6/100.000 Kinder (WHO: Niedrig-Inzidenz). Der Anteil im Ausland geborener Kinder und Jugendlicher mit einer TB lag in Deutschland bei 35 %. TB-Patienten, die außerhalb Deutschlands geboren sind, stammen häufig aus Ländern mit deutlich höheren TB-Inzidenzen. Für Asylsuchende ist zudem von einem erhöhten Risiko einer TB-Exposition während der Flucht und bei Aufenthalten in Massenunterkünften auszugehen.
6.3.3. Klinisches Bild der Tuberkulose
Neugeborenen/konnatale Tuberkulose
Die TB des Tuberkulose (TB)NeugeboreneNeugeborenen ist mit < 2 % (weltweit) aller TB-Formen im Kindesalter extrem selten. Von einer Zunahme ist aber auch in Deutschland auszugehen.
Der Verdacht muss bei jeder (!) TB-positiven mütterlichen Anamnese gestellt werden, auch wenn das Neugeborene keine Krankheitszeichen hat. Der Krankheitsbeginn liegt meist in der 2.–3. Lebenswoche, Late-onset-Verläufe bis zum 3. Monat werden durchaus beobachtet. Die Mortalität ist mit bis zu 50 % sehr hoch.
Die klinischen Leitsymptome (meist unspezifisch) Tuberkulose (TB)Leitsymptomesind:
-
•
Ess-und Gedeihstörung (100 %)
-
•
Fieber (100 %), Irritabilität (100 %)
-
•
Husten (88,9 %), Dyspnoe (66,7 %)
-
•
Hepatosplenomegalie (80–100 %)
-
•
Lymphadenopathie (38 %)
Tuberkulose bei Säuglingen und Kleinkindern
Im Gegensatz zu Tuberkulose (TB)Säuglinge Tuberkulose (TB)KleinkinderSchulkindern, Jugendlichen und Erwachsenen ist das klinische Bild der TB beim Säugling und Kleinkind (> 3 Monate < 5 Jahren) durch einige Besonderheiten gekennzeichnet:
-
•
Oft sind typische Symptome – auch im fortgeschrittenen Stadium – nicht vorhanden.
-
•
Der Röntgen-Thorax zeigt häufig ein uncharakteristisches Bild.
-
•
Ein Keimnachweis gelingt selten.
-
•
Es treten häufiger Komplikationen wie Lymphknoteneinbrüche, Stenosen und extrapulmonale Manifestationen auf.
-
•
Der Krankheitsbeginn – gerade bei Säuglingen und jungen Kleinkindern – ist akuter, bisweilen auch foudroyant und die Krankheitszeichen generalisierter, nicht organspezifisch (Fieber, Abgeschlagenheit, Gewichtsverlust, Ess-und Gedeih-störungen).
-
•
Die Mortalität in dieser Altersgruppe, gerade bei den disseminierten Formen und in der Gruppe mit zusätzlicher HIV-Infektion, ist signifikant größer.
Die pulmonalen TB-Formen sind auch beim älteren Säugling und Kleinkind mit bis zu 70 % die häufigsten Formen. Im Gegensatz zu älteren Kindern ist zudem eine osteo-artikuläre Beteiligung – insbesondere der Wirbelsäule (bis zu 50 %) – deutlich häufiger zu beobachten.
Bei der tuberkulösen Meningo-Enzephalitis Tuberkulose (TB)Meningo-Enzephalitisals gefährlichste Form (ca. 5 % aller TB-Erkrankungen) kann die Symptomatik, insbesondere bei gestillten Säuglingen, lediglich als Trinkschwäche, Irritabilität und/oder Schläfrigkeit imponieren.
Klinisches Bild bei Kindern und Jugendlichen
In der Altersgruppe zwischen fünf und 15 Jahren werden symptomfrei oder symptomarm verschiedene Manifestationsformen der Tuberkulose beobachtet – von der kindlichen Hiluslymphknoten-Tuberkulose bis hin zu den Erwachsenenformen mit Kavernen. Die häufigsten Symptome sind:
-
•
Fieber (63 %)
-
•
Husten (60 %)
-
•
Gewichtsverlust (30 %)
Immerhin zeigen sich bis zu ¼ der Patienten bei Diagnosestellung asymptomatisch.
Merke.
Zu den wichtigsten klinischen Symptomen gehören persistierender Husten über mehr als 2 Wochen, Gedeihstörung, persistierendes Fieber unklarer Genese sowie persistierende unklare Vigilanzminderung.
Klinisches Bild bei Jugendlichen über 15 Jahre
Bei älteren Tuberkulose (TB)JugendlicheJugendlichen zeigt sich zunehmend die Symptomatik der Erwachsenen-Tuberkulose. Neben chronischem Husten von mehr als 4 Wochen, Gewichtsverlust und chronischem Fieber zeigen sich Kavernen, Pleuraergüsse und Hämoptysen. In diesem Zusammenhang treten Thoraxschmerzen zunehmend in Erscheinung.
6.3.4. Diagnose
Schlüsselempfehlung 1
Bei jedem Kind oder Jugendlichem mit suspekter Klinik oder infektionsrelevantem Kontakt zu einer Person mit einer Tuberkulose oder bei Infektionsnachweis in Risikogruppen (siehe Risikofaktoren) soll eine TB-Diagnostik erfolgen.
Risikofaktoren
-
•
KontaktTuberkulose (TB)Risikofaktoren zu TB-Patienten oder Personen mit hohem TB-Risiko
-
•
Herkunft des Kindes oder eines Familienmitglieds aus einem Land mit hoher TB-Prävalenz oder Aufenthalt in einem solchen Land
-
•
Immundefekt (immunsuppressive Medikamente oder angeboren) oder eine HIV-Infektion
Schlüsselempfehlung 2
Aufgrund der paucibazillären Form der kindlichen Tuberkulose ist der Erregernachweis schwierig. Dennoch soll dieser immer angestrebt werden.
Klinische Untersuchung
Auch bei Kindern ist die Lunge einschließlich der dazugehörigen Lymphknoten das am häufigsten betroffene Organ. Die häufigste extrathorakale Form betrifft Lymphknoten (v. a. zervikal).
Klassische Symptome und klinische Hinweise für eine Tuberkulose:
-
1.
Chronisch-progredienter Husten
-
2.
Fieber
-
3.
Nachtschweiß
-
4.
Gewichtsverlust
Diese finden sich bei Kindern und Jugendlichen deutlich seltener als bei Erwachsenen und viele Fälle präsentieren sich oligo- oder asymptomatisch.
Diagnostische Testverfahren
Immunologische Testverfahren
Für die TestungTuberkulose (TB)Testung stehen der Tuberkulin-Hauttest (THT) Tuberkulin-Hauttest (THT) und die Interferon Gamma Release Assays (IGRA) Interferon Gamma Release Assays (IGRA) zur Verfügung. Beide Testverfahren prüfen die Reaktion von M. tuberculosis spezifischen Gedächtnis-T-Zellen.
1. Tuberkulin-Hauttest
Für den THT werden 0,1 ml Tuberkulin (2 TU) PPD-RT23 des Statens Serum Instituts Kopenhagen mittels einer Tuberkulin-Spritze an der Volarseite des linken Unterarmes streng intrakutan appliziert und die Injektionsstelle markiert. Das Ergebnis des THT wird nach 48–72 Stunden abgelesen und dokumentiert. Es soll nur das Ausmaß der maximalen Induration gemessen werden (nicht die Rötung).
Als positive Reaktion für den THT gilt generell eine Induration von > 5 mm. Abweichend von dieser generellen Empfehlung: Bei BCG-geimpften Personen und Kindern aus Hochprävalenzländern gilt eine Induration von ≥ 10 mm als positiv.
Schlüsselbemerkungen und Empfehlungen zu THT
-
•
Falsch positive Resultate können beim THT z. B. nach einer BCG-Impfung oder nach Kontakt mit atypischen Mykobakterien (z. B. M. avium) gemessen werden. (Für die BCG-Impfung zeigt eine systematische Übersichtsarbeit, dass bei einer Induration von ≥ 10 mm lediglich 2,6 % der THT-Testergebnisse durch eine BCG-Impfung bedingt waren.)
-
•
Eine negative Reaktion schließt eine TB-Infektion nicht aus. Eine Masernimpfung oder -infektion kann z. B. zu einer temporären Suppression der zellvermittelten Immunantwort führen. (Falls eine Masernimpfung kürzlich verabreicht wurde oder eine Masernerkrankung vorliegt, sollen 4–6 Wochen Abstand zu Masernimpfung/-infektion für die Testung eingehalten werden.)
Ebenfalls können andere Lebendimpfungen oder eine Therapie mit Corticosteroiden und Immunsuppressiva zu falsch negativen Ergebnissen führen.
2. Interferon Gamma Release Assays (IGRA)
Als zweiter immunodiagnostischer Test mit einer höheren Spezifität stehen die IGRA zur Verfügung. Bei beiden derzeit gebräuchlichen Tests (QuantiFERON-TB Gold In-Tube und T-SPOT.TB) wird Blut 16–24 Stunden zusammen mit mykobakteriellen Antigenen inkubiert.
Die Antigene, welche zum Einsatz kommen, sind in allen BCG-Impfungen nicht enthalten.
Die resultierende IFN-γ Produktion der Gedächtnis-T-Zellen wird mittels enzyme-linked immunosorbent assay (ELISA) oder enzyme-linked immuno spot assay (ELISPOT) gemessen und das Ergebnis in:
-
•
IU/ml beim QuantiFERON-TB Gold In-Tube Test oder in
-
•
Anzahl IFN-γ-produzierender Spots beim T-SPOT.TB Test
angegeben.
Ein Problem der IGRAs ist, dass jüngere Kinder in einigen Studien häufiger falsch negative oder nicht verwertbare Teste haben. Ein möglicher Erklärungsgrund ist, dass die Ausschüttung von Interferon-gamma altersabhängig und deshalb bei jüngeren Kindern geringer ist. Aus diesem Grund ist der Stellenwert der IGRA bei sehr jungen Kindern (noch) unklar.
Schlüsselbemerkungen und Empfehlungen
-
•
Der THT soll im Kindesalter nicht durch den IGRA ersetzt werden.
-
•
Ein negatives Testergebnis des THT oder IGRA schließt eine Tuberkulose nicht sicher aus.
-
•
Weder THT noch IGRA können zwischen einer latenten und einer aktiven TB unterscheiden. Im Falle eines positiven Tests muss eine aktive TB in jedem Fall ausgeschlossen werden.
Wiederholung immunologischer Testverfahren
Nach einem initial negativen Test sollte eine Wiederholung der immunologischen Testung in Abhängigkeit vom Testverfahren erfolgen:
-
•
Für THT gilt: nach durchschnittlich 6 Wochen
-
•
Für IGRA gilt: 14 Wochen
Erregernachweis
1. Pulmonale Tuberkulose: Magensaft und induziertes Sputum
Für Tuberkulose (TB)Erregernachweisden Nachweis von Mykobakterien ist bei Kleinkindern die Aspiration von Magensaft die Methode der Wahl.
2. Untersuchungsmaterial zur Diagnostik der extrapulmonalen Tuberkulose
Bei extrapulmonaler Tuberkulose sollen wenn immer möglich Proben vom Ort der Infektion gewonnen und untersucht werden (Spezialambulanz bzw. Klinik).
3. Resistenztestung
Alle Erstisolate sollen phänotypisch auf Resistenz gegen die Erstrangmedikamente Isoniazid (INH), Rifampicin (RMP), Pyrazinamid (PZA) und Ethambutol (EMB) getestet werden. Dies dauert 7–14 Tage nach Identifizierung als MTBC. Bei Vorliegen von Resistenzen sollen Zweitrang- oder Reserveantituberkulotika in einem Speziallabor untersucht werden. Die phänotypische Resistenztestung ist Referenzstandard, da die molekulargenetischen Methoden je nach Medikament keine 100-prozentige Sensitivität und Spezifität aufweisen.
Bildgebende Verfahren
Wenn ein klinischer TB-Verdacht besteht oder wenn eine Umgebungsdiagnostik durchgeführt wird, ist das Thorax-Röntgenbild die Bildgebung der ersten Wahl. Eine Röntgenaufnahme in p. a.-Projektion gilt dabei im Regelfall als ausreichend.
Eine Durchleuchtungsuntersuchung soll zur Diagnostik der TB im Kindesalter nicht durchgeführt werden.
Merke.
Ein unauffälliges Röntgenbild schließt eine TB-Infektion nicht aus.
Bei positivem immunologischem Testergebnis (Hauttest oder IGRA) wird in diesem Falle eine „latente“ Infektion diagnostiziert.
Bei radiologischen Hinweisen auf eine Belüftungsstörung sollte eine Bronchoskopie durchgeführt werden.
6.3.5. TB-Screening bei asylsuchenden Kindern und Jugendlichen
Indikationsstellung: BasierendTuberkulose (TB)Screening bei Asylsuchenden auf der vorliegenden Evidenz und auf den bestehenden Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) und der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ) muss ein immunodiagnostisches Screening durchgeführt werden (Abb. 6.5 ).
Abb. 6.5.

Empfohlenes altersadaptiertes Vorgehen zum TB-Screening bei asylsuchenden Kindern und Jugendlichen in Deutschland ohne bekannte TB-Exposition
[F705–005]
Merke.
Da zuverlässige epidemiologische Daten in Krisenregionen häufig fehlen, soll die Untersuchung bei allen asylsuchenden Kindern und Jugendlichen < 15 Jahren unabhängig von der TB-Inzidenz des Herkunftslandes erfolgen.
Neuere Daten weisen zudem darauf hin, dass die TB-Inzidenzen in Krisenregionen mit hohen Flüchtlingszahlen ansteigen. Während der oft über viele Monate dauernden Flucht besteht außerdem häufig enger Kontakt mit Risikopopulationen für eine TB, was zu Neuinfektionen führen kann.
Ziel des TB-Screenings: Das Ziel des Screenings ist die Identifikation von Kindern und Jugendlichen, bei denen weitere Diagnostik bezüglich einer aktiven TB notwendig ist. Bei asymptomatischen Kindern und Jugendlichen mit einem positiven immuno-diagnostischen Testergebnis und unauffälligem Thorax-Röntgenbefund ergibt sich die Diagnose einer latenten TB-Infektion (LTBI), deren Behandlung entsprechend den bestehenden Empfehlungen geprüft werden soll (Kap. 6.3.6).
Zeitpunkt des TB-Screenings: Das immuno-diagnostische Screening soll vor oder zeitnah nach Aufnahme in eine Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge oder Asylsuchende durchgeführt werden.
Wahl des Testverfahrens bei Kindern < 5 Jahren: In dieser Altersgruppe soll in erster Linie ein THT gemacht werden. Bei eingeschränkter Verfügbarkeit von Tuberkulin (PPD RT-23 SSI) kann auch bei Kindern < 5 Jahren ein IGRA verwendet werden (Abb. 6.5).
Wahl des Testverfahrens bei Kindern und Jugendlichen ≥ 5–15 Jahren: Bei Kindern ab 5 Jahren kann ein THT oder IGRA verwendet werden (Abb. 6.5).
6.3.6. Therapie der Tuberkulose
Chemotherapie/Prävention der LTBI
Kinder undTuberkulose (TB)Behandlung Jugendliche mit einem positiven immuno-diagnostischen Test, unauffälliger Thorax-Röntgenuntersuchung und ohne klinische Symptome bzw. sonstige Hinweise auf das Vorliegen einer Organtuberkulose sollen gemäß den aktuellen Empfehlungen eine präventive Therapie der LTBI (latente Tuberkulose-Infektion) erhalten. Diese senkt bei guter Compliance das Risiko der Progression hin zur aktiven TB um 94 % im ersten Jahr.
Die Behandlung erfolgt mit:
-
1.
Isoniazid-Monotherapie (10 mg/kg/KG einmal täglich per os, maximale Tagesdosis 300 mg) für 9 Monate oder
-
2.
Isoniazid (10 mg/kg/KG einmal täglich per os, maximale Tagesdosis 300 mg) plus Rifampicin (15 mg/kg/KG einmal täglich per os, maximale Tagesdosis 600 mg) für 3 Monate
Merke.
Da die kürzere Therapiedauer der Kombination (Isoniazid und Rifampicin für 3 Monate) zur Verbesserung der Compliance beitragen kann, sollte dieses Regime bei asylsuchenden Kindern und Jugendlichen bevorzugt werden.
Allgemeine Therapie-Prinzipien der aktiven TB
Schlüsselempfehlungen
-
1.
Die Therapie der aktiven pulmonalen Tuberkulose ist eine Kombinationstherapie unter Berücksichtigung möglicher oder sicherer Resistenzen. Ein Erregernachweis mit Resistenzprüfung sollte daher immer angestrebt werden
-
2.
Die Therapie muss insbesondere bei kleinen Kindern zügig begonnen und zuverlässig zu Ende geführt werden! Wenn dies gewährleistet ist, ist die Erfolgsrate der pädiatrischen Tuberkulosetherapie sehr hoch.
-
3.
Eine Verkürzung der Therapiedauer auf unter 6 Monate ist bei aktiver Tuberkulose immer wieder versucht worden. Es gibt aber zurzeit kein erfolgreiches Therapieregime für eine Verkürzung der Behandlung unter 6 Monate.
Standardtherapie der aktiven pulmonalen Tuberkulose
Wenn keine Tuberkulose (TB)StandardtherapieResistenzen vorliegen, erfolgt die Standardtherapie der unkomplizierten Tuberkulose mit 3 Medikamenten der sogenannten Erstranggruppe (INH, RIFA, PZA Tab. 6.9 ) über 2 Monate und dann im Anschluss mit 2 Medikamenten (INH, RIFA) über weitere 4 Monate. Als unkomplizierte Tuberkulose gilt die mikroskopisch negative Lungentuberkulose (kein mikroskopischer Erregernachweis im Sputum), die Hiluslymphknotentuberkulose und die periphere Lymphknotentuberkulose.
Tab. 6.9.
Dosierung der Tuberkulose (TB)ErstrangmedikamenteErstrangmedikamente (nach WHO-Guidance for national tuberculosis programmes on the management of tuberculosis in children, Second Edition 2014)
| Medikament | Dosierung pro Tag | Erhältliche Dosierungen | UAW/Monitoring |
|---|---|---|---|
| Isoniazid | 10 mg/kg/d (7–15 mg/kg/d) maximal 300 mg/d |
Tbl. à 50, 100, 200 mg Tbl. mit zus. Pyridoxin 100, 200, 300 mg |
|
| Rifampicin | 15 mg/kg/d (10–20 mg/kg/d) maximal 600 mg |
Filmtbl. à 150, 300, 450, 600 mg Saft 100 mg/5 ml |
|
| Pyrazinamid | 35 mg/kg/d (30–40 mg/kg/d) |
Filmtbl./Tbl. à 500 mg |
|
| Ethambutol | 20 mg/kg/d (15–25 mg/kg/d) |
Tbl. à 100 mg, Filmtbl. à 400 und 500 mg |
|
Fallbeispiel.
Auflösung
Der eitrige Infekt wird antibiotisch behandelt, gleichzeitig wird bei dringendem Verdacht auf eine TB ein PPD RT23-Test angelegt und ein Röntgen-Thorax veranlasst. Der Test, welcher nach 48 h und 72 h abgelesen wird, ist negativ.
Der Radiologe äußert den Verdacht auf eine Miliartuberkulose.
Das Kind wird unverzüglich in die Kinderklinik eingewiesen, der Jugendgesundheitsdienst des zuständigen Gesundheitsamtes informiert, damit die notwendigen Schritte der Umgebungsuntersuchungen und ggf. therapeutischen Maßnahmen durchgeführt werden.
Weiteres Vorgehen und Therapie:
Die Kollegen der Kinderklinik leiten nach Standard o. g. Schritte zur Materialgewinnung (Kap. 6.3.4) und zum Versand an das nationale Referenzzentrum zur Resistenzbestimmung ein und beginnen eine breite Therapie mit Antituberkulotika, welche nach Erhalt der Resistenzbestimmung leicht modifiziert wird.
Die Röntgen-Thorax-Kontrollen zeigen einen Rückgang der miliaren Veränderungen an. Dem Kind geht es besser, sowohl die Fieberschübe als auch die Infektanfälligkeit sistieren bzw. gehen deutlich zurück. Das Kind entwickelt einen gesunden Appetit und nimmt an Gewicht zu, sodass es nach drei Monaten in die ambulante Weiterbetreuung entlassen werden kann. Die Weiterbehandlung erfolgt durch den niedergelassenen KJA in enger Absprache für mindestens weitere drei Monate.
Literatur
- Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften. KlassifikationsS2k-Leitlinie 048–016: Tuberkulose im Kindes-und Jugendalter: Diagnostik, Prävention und Therapie.
- Chiappini E., Lo Vecchio A., Garazzino S. Recommendations for the diagnosis of pediatric tuberculosis. Eur J Clin Microbiol Infect Dis. 1/2016;35(1):1–18. doi: 10.1007/s10096-015-2507-6. [DOI] [PubMed] [Google Scholar]
- Pneumojournal . 1/2016. Aktuelle Empfehlungen/Stellungnahmen des DZK, Tuberkulose in Deutschland und international. [Google Scholar]
- Tuberculosis NICE guidelines. NICE; 2016. www.nice.org.uk/guidance/ng33/resources/tuberculosis-1837390683589 (letzter Zugriff: 11.4.2016) [Google Scholar]
6.4. Fieber
Fallbeispiel.
Die fünf Monate alte Marie wird vonFieber ihrer Mutter kurz vor der Mittagspause in der Praxis vorgestellt, da sie jetzt bereits den fünften Tag in Folge hoch fiebere. Andere Symptome zeige sie nicht und es gehe ihr recht gut dabei. Daher habe die Mutter zunächst abgewartet, jetzt dauere ihr das Fieber aber doch zu lang.
Fragen zum Fallbeispiel
-
•
Welche Informationen aus Anamnese und Untersuchung sind für die Einschätzung und das weitere Vorgehen bei Fieber wichtig?
-
•
Welche Bedeutung hat der Allgemeinzustand eines Kindes bei Fieber, was weist auf einen schweren Verlauf einer Erkrankung hin?
-
•
Was ist mit „Fieber“, „Fieber ohne Fokus“ und „Fieber unklarer Genese“ gemeint?
-
•
Welche Diagnostik bei unklarem Fieber ist ambulant möglich und sinnvoll?
-
•
Was sind Entscheidungskriterien für eine stationäre Einweisung bei Kindern mit Fieber?
-
•
Worüber sollte im Zusammenhang mit Fieber beraten werden?
6.4.1. Stellenwert in der Grundversorgung
Große Versorgungsstudien haben Vorstellungsanlässe im Rahmen der pädiatrischen Grundversorgung untersucht. Fieber gehört neben Husten und akuten Schmerzen zu den häufigsten Gründen für eine Vorstellung in der Kinder- und Jugendarztpraxis. An einem Behandlungstag in der allgemeinpädiatrischen Praxis werden Kinder- und Jugendärzte mit einer Fiebersymptomatik regelmäßig konfrontiert. Dann gehört es zu ihren Aufgaben, das Symptom Fieber unter Berücksichtigung aller Begleitumstände richtig einzuordnen, Fieberursachen einzugrenzen und notwendige weitere diagnostische und therapeutische Schritte bezüglich Umfang und Zeitpunkt richtig zu initiieren. Ebenso wichtig ist es, die Eltern in ihrer Sorge um ihr Kind ernst zu nehmen und zu beraten.
6.4.2. Definition
FieberFieberDefinition (lat. febris, „Hitze“), auch Pyrexie (griech. pyretós – pyr, „Feuer“) beschreibt eine Erhöhung der Körperkerntemperatur, die beim Menschen normalerweise zwischen 36,0 und 37,3 °C liegt. Leichte Temperaturerhöhungen können physiologisch vorkommen und zirkadiane Schwankungen aufweisen. Sie treten bei Kindern und Kleinkindern z. B. nach vorausgegangenen Virusinfekten oder nach starker körperlicher Aktivität auf. Die Unterscheidung zwischen normaler und subfebriler Temperatur (37,3 und 38,0/38,5 °C) hat klinisch keine Bedeutung und sollte vermieden werden.
Von Fieber (febriler Temperatur) wird bei Temperaturen über > 38,0 °C (bis 38,5 °C) gesprochen (Tab. 6.10 ).
Tab. 6.10.
Definitionen
| Fieber |
| Erhöhung der Körperkerntemperatur > 38,0 °C (bis 38,5 °C) |
| Fieber ohne Fokus |
| Der Ursprung des Fiebers lässt sich nach gründlicher Anamnese und eingehender körperlicher Untersuchung nicht eingrenzen. Fieberdauer unter 8 Tagen |
| Fieber unklarer Genese |
| Rektaltemperatur > 38,5 °C für mehr als 8 Tage bei einem Kind, bei dem sich mittels Anamnese, klinischer sowie allgemeiner laborchemischer und bildgebender Untersuchungen ein Krankheitsbild zunächst nicht zuordnen lässt. |
Der Zustand erhöhter Körperkerntemperatur beruht auf komplexen physiologischen Reaktionen, die zu einer aktiv herbeigeführten, geregelten und begrenzten Temperatursollwertverstellung im hypothalamischen Wärmeregulationszentrum (Tab. 6.11 ) und dadurch zu einer Anregung des Stoffwechsels und der immunologischen Prozesse führen. Im Rahmen der Abwehr gegen Infektionen und bei Entzündungsprozessen, Traumata oder malignen Erkrankungen haben sich diese im Laufe der Evolution als vorteilhaft erwiesen.
Tab. 6.11.
FieberentstehungFieberEntstehung
|
Merke.
Fieber ist keine Krankheit, sondern i. d. Regel ein charakteristisches Symptom der Aktivierung des Immunsystems und der damit verbundenen Inflammationsreaktion und hinweisend auf eine zugrunde liegende Erkrankung.
6.4.3. Klinisches Erscheinungsbild
Fieber kommt meist nicht als isoliertes Symptom vor. In der Praxis sehen wir fiebernde Kinder häufig im Zusammenhang mit einer Husten- und/oder Erkältungssymptomatik, Hals- oder Ohrenschmerzen oder gastrointestinalen Symptomen.
Eine Herausforderung stellen Säuglinge und Kleinkinder dar, die länger oder hoch fiebern, ohne dass eine Krankheitsursache direkt zugeordnet werden kann.
Die Beurteilung des Allgemeinzustands des Kindes ist dann von besonderer Bedeutung, um den Schweregrad der Erkrankung abzuschätzen (Tab. 6.12 ).
Tab. 6.12.
Symptome beim Säugling und Kleinkind, die auf einen reduzierten Allgemeinzustand und eine schwere Erkrankung hinweisen
| Schreien/Weinen |
|
| Reaktion auf Zuwendung |
|
| Vigilanz |
|
| Hautfarbe/Hautturgor |
|
| Bläulich/livides Hautkolorit |
|
| Atmung/Kreislauf |
|
6.4.4. Diagnosen und Differenzialdiagnosen
Fieber als unspezifisches Symptom kann in den meisten Fällen bereits nach kurzer Anamnese zu Fieberhöhe und -dauer sowie zu begleitender Symptomatik gefolgt von einer symptombezogenen Untersuchung einer akuten, selbstlimitierenden oder kausal behandelbaren Infektionskrankheit zugeordnet werden.
Kann die Ursache des Fiebers nicht eingegrenzt werden oder ist das Kind in seinem Allgemeinzustand beeinträchtigt, gehört die vollständige körperliche Untersuchung zwingend zum weiteren Untersuchungsgang. Dazu gehört die Untersuchung von:
-
•
Mund-Rachenraum und Ohren
-
•
Herz und Lunge
-
•
Abdomen mit den Genitalorganen
-
•
Haut, Schleimhäute und Augen
-
•
Muskuloskelettalem System
-
•
Neurologische Untersuchung mit Beurteilung der Vigilanz und der Ausschluss meningealer Reizzeichen
Merke.
Bei beeinträchtigtem Allgemeinzustand des Kindes oder Fieber ohne Fokus ist immer eine vollständige und umfassende körperliche Untersuchung des Kindes durchzuführen.
Bei einer FieberFieberohne Fokussymptomatik ohne Fokus und/oder beeinträchtigtem Allgemeinzustand des Kindes können diagnostische Maßnahmen mithilfe des Basislabors (Tab. 6.13 ) bei der Differenzierung zwischen viralen und bakteriellen Infektionen helfen, wenngleich die Aussagekraft der Ergebnisse (Spezifität und Sensitivität) berücksichtigt werden muss.
Tab. 6.13.
Basislabor (Sofortuntersuchungen)FieberSofortuntersuchung
|
Immer sollte vor dem Einsatz von weiterführender Diagnostik deren Stellenwert in der Differenzialdiagnostik und die aus den Ergebnissen resultierenden Konsequenzen für das weitere Vorgehen bedacht werden.
Merke.
Leukozytose und signifikant erhöhtes C-reaktives Protein können auf eine bakterielle Infektion hinweisen. Fehlende laborchemische Entzündungsparameter schließen aber eine bakterielle Infektion nicht aus.
Ergebnisse diagnostischer Verfahren müssen immer vor dem Hintergrund klinischer Symptomatik und dem Zustand des Patienten bewertet werden.
Nicht immer gelingt es, bei einer ersten Vorstellung des Kindes die Ursache für das Fieber festzustellen. Fieber ohne Fokus findet sich bei immerhin 15–20 % der Kinder unter drei Jahren. Mit den verfügbaren Informationen aus Anamnese (Tab. 6.14 ), Untersuchung und Diagnostik muss dann eine Verdachtsdiagnose gestellt werden und über das weitere Vorgehen entschieden werden. Bei länger anhaltendem Fieber kann ein Protokoll des Fieberverlaufs durch die Eltern hilfreich sein.
Tab. 6.14.
FieberFieberAnamneseanamnese
| Fieberdauer |
|
| Fiebercharakteristik |
|
| Begleitanamnese |
Beobachtungen, die auf den Allgemeinzustand des Kindes schließen lassen:
|
| Organbezogene Begleitsymptomatik |
| Zur organbezogenen Begleitsymptomatik gehören z. B. Husten, Erkältungszeichen, gastrointestinale Symptomatik, Schmerzen, Schonhaltung, (flüchtige) Exantheme, Schwellungen, Rötungen |
| Fieberbegleitsymptome |
|
Bei der Einschätzung der Gesamtsituation und der Abwägung von Differenzialdiagnosen gilt die Regel „was häufig ist, ist häufig“ genauso wie das Wissen um seltener vorkommende Erkrankungen mit abwendbar schwerem Verlauf, die ein sofortiges Handeln und in der Regel eine stationäre Versorgung erfordern. Kenntnisse über Risikofaktoren für einen akuten schweren Verlauf einer Erkrankung sind dazu erforderlich (Tab. 6.15 ). Immerhin liegt die Prävalenz schwerwiegender bakterieller Infektionen bei fiebernden Kindern im Alter bis 36 Monate in einer Kinderarztpraxis bei 1–2 %.
Tab. 6.15.
ZeichenFieberWarnsignale und Symptome, die auf eine ernsthafte bakterielle Erkrankung hinweisen
|
Scheinbar banale Erkrankungen können sich im Verlauf als schwerwiegend herausstellen, im zeitlichen Verlauf kann Fieber ohne Fokus durch neu auftretende klinische Zeichen häufig einer Krankheitsursache zugeordnet werden und seltene Erkrankungen, die einer weiteren differenzierten Diagnostik und Therapie bedürfen, werden häufig erst aus dem Verlauf heraus erkennbar. Ein Grundprinzip der ambulanten Grundversorgung besteht daher in Wiedervorstellung und Reevaluation bei ausbleibender Besserung oder anhaltendem Fieber. Es ist daher wichtige Aufgabe in der Beratung von Patient und Eltern, diese entsprechend zu instruieren und eine notwendige Wiedervorstellung auch logistisch sicherzustellen.
Merke.
Bei anhaltendem Fieber oder ausbleibender Besserung sind Verlaufskontrollen sicherzustellen. Bei Verschlechterung des Allgemeinzustands können diese bereits nach kurzem Zeitintervall erforderlich werden.
Bei anhaltendem Fieber unklarer Genese (FAO) wird das Spektrum weiterführender Diagnostik ungleich größer und reicht von erweiterter und spezieller Labordiagnostik bis hin zu bildgebenden, endoskopischen und invasiven Verfahren. Immer ist deren Durchführung vom geplanten weiteren Vorgehen, das in aktuellen Leitlinien ausführlich beschrieben wird, abhängig. So ist genau zu überlegen, welche Diagnostik im Rahmen der ambulanten Versorgung und welche im Rahmen notwendiger oder geplanter spezialpädiatrischer ambulanter oder stationärer Versorgung durchgeführt werden sollte.
In Tab. 6.16 sind die häufigsten Ursachen für Fieber, Erkrankungen mit abwendbar schwerem Verlauf und seltene Differenzialdiagnosen aufgeführt.
Tab. 6.16.
FieberFieberUrsachenursachen
| Ursachen für Fieber |
|---|
| Infektionen (mit Abstand häufigste Ursache für Fieber): |
|
| Erkrankungen mit abwendbar schwerem Verlauf: |
|
| Seltene Fieberursachen: |
|
| Andere Ursachen: |
|
6.4.5. Beratung und Behandlung
Fieber als Symptom einer Erkrankung ist nicht primär behandlungsbedürftig. Eine nachteilige Wirkung des Fiebers bei einem sonst gesunden Kind besteht nicht. Allerdings kommt es bei hohem FieberFieberBehandlung zu einer Beeinträchtigung des Allgemeinzustands, die eine fiebersenkende Therapie rechtfertigt. Diese sollte sich am Befinden des Kindes orientieren und ist meist bei höheren Temperaturen über 39 °C bis 40 °C sinnvoll.
Neben der symptomatischen oder kausalen Therapie der zugrunde liegenden Erkrankung kommen allgemeine Maßnahmen zum Einsatz:
-
•
Ausreichende Flüssigkeitszufuhr bei erhöhtem Flüssigkeitsbedarf
-
•
Körperliche Schonung
-
•
Möglichkeit der ausreichenden Wärmeabgabe (Kleidung)
-
•
Ggf. Wadenwickel bei warmen Beinen
-
•
Antipyretika zur Senkung des Fiebers (Tab. 6.17 ).
Tab. 6.17.
Medikamente zur Fiebersenkung
| Gängige Antipyretika |
|---|
| Paracetamol: |
|
| Nichtsteroidale Antiphlogistika |
|
Merke.
Acetylsalicylsäure ist bei Kindern unter 12 Jahren wegen des beschriebenen Reye-Syndroms nicht geeignet.
Die Angst der Eltern vor hohem Fieber und daraus resultierenden bleibenden Schäden oder bedrohlichen Zuständen (Krampfanfall, Hirnschaden, Gerinnen von Körpereiweißen) führt nicht selten zu einer unverhältnismäßigen oder sogar schädlichen Anwendung fiebersenkender Medikamente. Dieses FieberphobiePhänomen wird mit dem Begriff der Fieberphobie beschrieben. Deshalb ist es wichtig, auf die Sorgen und Ängste der Eltern einzugehen, Fieber als Symptom und nicht als Erkrankung zu erklären und die positive Rolle des Fiebers bei der Aktivierung der Körperabwehr zu erläutern. Der Arzt vermittelt den Eltern das Prinzip der am Befinden des Kindes orientierten symptomatischen Behandlung.
So sollte auf die weitverbreitete Praxis der alternierenden Gabe verschiedener Antipyretika bei fehlender wissenschaftlicher Datengrundlage ebenso verzichtet werden wie auf eine Unterschreitung der empfohlenen Applikationsintervalle oder auf die Gabe von Antipyretika bei unbeeinträchtigtem Kind. Die Eltern werden auf die Gefahr der Überdosierung und der kumulativen Potenzierung hepato- und nephrotoxischer Wirkung von Antipyretika hingewiesen.
Eigenes Verhalten beeinflusst die Risikowahrnehmung der Eltern entscheidend. Ärztliches Handeln und Empfehlungen müssen für die Eltern vor diesem Hintergrund plausibel sein.
Kann Fieber zunächst nicht einer zugrunde liegenden Erkrankung zugeordnet werden (Fieber ohne Fokus), steht die Frage nach dem weiteren Vorgehen im Vordergrund. In Abwägung zwischen größtmöglicher Sicherheit und patientenfreundlichem Management muss die Summe der Informationen, Befunde und Eindrücke des Einzelfalls zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden, um anhand des klinischen Eindrucks über eine mögliche ambulante oder notwendige stationäre Behandlung zu entscheiden. Die Möglichkeit der kurzfristigen Reevaluation und der Korrektur des eingeschlagenen Wegs bei Verschlechterung der Gesamtsituation muss gewährleistet sein. Abb. 6.6 stellt eine Handlungsstrategie bei Fieber vor.
Abb. 6.6.

Vorgehen bei Fieber
[P291]
Vorsicht.
Die Einschätzung von Kleinkindern mit Fieber ohne Fokus gehört zu den anspruchsvollen Aufgaben in der pädiatrischen Grundversorgung.
Neben Anamnese, Untersuchung und den Ergebnissen des Praxislabors müssen Faktoren wie Alter des Kindes, Zuverlässigkeit der Eltern bei der Betreuung, Behandlung und Beobachtung des Kindes, die lokale medizinische Versorgungssituation, die eigene Erfahrung und Einschätzung in die Entscheidung über eine ambulante oder stationäre Beobachtung und Behandlung einfließen.
Risikobewertungen und Abklärungs- und Behandlungsstrategien können bei der Entscheidung hilfreich sein. Maßgeblich für das konkrete Vorgehen ist letztlich aber immer die klinische Beurteilung im Kontext der Gesamtsituation des Einzelfalls.
Fallbeispiel.
Auflösung
Die Anamnese (gutes Trink- und Schlafverhalten, nach fiebersenkenden Maßnahmen fröhliches Lautieren und Spielen mit den Händchen, gute Reaktion auf Ansprache, keine Begleitsymptomatik) und die unauffällige körperliche Untersuchung ergaben die Diagnose Fieber ohne Fokus bei gutem Allgemeinzustand des Kindes. Die aufgrund der langen Fieberdauer durchgeführte Sofortdiagnostik ergab einen erhöhten CRP-Wert von 117 mg/l und eine Leukozytose von 17,6/nl. Damit wurde die Verdachtsdiagnose einer bakteriellen Erkrankung gestellt. Ein Urin konnte während der Vorstellung in der Praxis nicht gewonnen werden, ein Urinbeutel wurde angelegt und die Mutter entsprechend instruiert.
Aufgrund des guten Allgemeinzustands des Kindes und der Kontextfaktoren (Familie gut bekannt, 5. Kind der Familie, Mutter von Beruf Krankenschwester, Einschätzung der Eltern in der Beurteilung des Zustand des Kindes sicher und in der Beobachtung und Betreuung des Kindes im häuslichen Umfeld zuverlässig, ebenso zuverlässige Absprache über die Behandlung und weitere Verlaufskontrollen) erfolgte die Entscheidung zur ambulanten Behandlung und Beginn einer oralen antibiotischen Therapie ohne Durchführung einer weiteren Diagnostik. Die Maßgabe der umgehenden Wiedervorstellung in der Praxis oder (bei Verschlechterung außerhalb der Praxiszeiten) der nächstgelegenen Kinderklinik wurde besprochen.
Am Nachmittag konnte ein in der Zwischenzeit gewonnener Beutelurin (allerdings nach erster Gabe der oralen Antibiose) in der Praxis untersucht werden. Die Untersuchung des Urins mit Reagenzträger und die Urinmikroskopie zeigten einen auffälligen Befund (Leukozyturie, Proteinurie). In der Urinkultur wuchsen 104 E. coli (Folgetag, unter begonnener Antibiose). Mit der Diagnose einer Harnwegsinfektion wurde die antibiotische Therapie fortgeführt. Marie entfieberte nach zwei Tagen, eine Urinkontrolle nach einigen Tagen war unauffällig, eine später durchgeführte Sonografie von Blase und Nieren ergab Normalbefunde.
Literatur
- Agyeman P., Duppenthaler A. Vol. 3. Thieme; 2012. Fieber ohne Focus, Pädiatrieup2date; pp. 227–242. [Google Scholar]
- Huppertz H.J. Das fiebernde Kind. Kap. 18. In: Speer C.P., Gahr M., editors. Pädiatrie. 4. Auflage. Springer; Berlin: 2013. pp. 430–433. [Google Scholar]
- Kallinich T., Laika R., Berner R., Niehues T. 2013. Fieber unklarer Ursache. AWMF-Register Nr. 027/053, S1-Leitlinie, Gesellschaft für Kinder- und Jugendrheumatologie und der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. [Google Scholar]
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- Schmitt E.R. Fever and Bacteremia, Kap. 56. In: Berkowitz C.D., editor. Pediatrics – A Primary Care Approach. 5. Auflage. American Academy of Pediatrics; 2014. pp. 333–340. [Google Scholar]
- Weiß M. 6. Auflage. Thieme; Stuttgart: 2014. Fieber unklarer Genese, Teil 1. DGPI–Handbuch. Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie. [Google Scholar]
6.5. Fieberkrampf
Fallbeispiel.
Der dreijährige Anthony erkrankte an einem Atemwegsinfekt und bekam Fieber. Kurz darauf machte er sich ganz steif, atmete nicht und begann anschließend mit Armen und Beinen zu zucken. Unter dem Eindruck dieses Ereignisses verständigten Eltern in großer Angst den Notarzt, der das Kind, das beim Eintreffen des Notarztes wieder einen normalen Eindruck machte, direkt in die Kinderklinik weiterleitete. Es kam zu einer zweitägigen stationären Aufnahme. Die Entlassung des Kindes aus der Klinik erfolgte mit der Auflage, das Kind am darauffolgenden Tag beim betreuenden Kinderarzt vorzustellen. Die Mutter berichtet, dass es Anthony jetzt wieder gut gehe. Sie seien in der Klinik gut über das Geschehene und die Diagnose eines Fieberkrampfes informiert worden, alles sei aber so schnell gegangen und sie seien so aufgeregt gewesen, dass sich im Nachhinein doch noch zahlreiche Fragen ergeben hätten. Sie als Eltern machten sich große Sorgen, wie es jetzt weitergehen solle.
Fragen zum Fallbeispiel
-
•
Wie werden Fieberkrämpfe klassifiziert?
-
•
Wie unterscheiden sich die diagnostischen Maßnahmen (z. B. EEG, Bildgebung) nach einem einfachen und einem komplizierten Fieberkrampf?
-
•
Was sind Beratungsinhalte für Angehörige von Kindern nach Fieberkrampf?
6.5.1. Stellenwert in der Grundversorgung
Bis zum Alter von fünf Jahren erleiden 3–5 % aller Kinder einmal oder mehrmals einen Fieberkrampf. Meist tritt dieser bei FieberFieberFieberkrampf im Rahmen banaler Infekte auf. Er wird von den Eltern zu Hause beobachtet und als sehr bedrohlich empfunden, oft verbunden mit der Angst um das Leben des Kindes. Auch wenn der einfache FieberkrampfFieberkrampf ohne gesundheitliche Folgen bleibt und im medizinischen Sinne als harmlos zu bewerten ist, bleibt er den Eltern als einschneidendes Erlebnis in Erinnerung.
Nur sehr selten wird man in der pädiatrischen Praxis mit einem akuten Fieberkrampf direkt konfrontiert (Notfälle in der Praxis Kap. 11). Nach einem Fieberkrampfereignis besteht die Aufgabe vielmehr darin, Angehörigen im Gespräch Ängste und Sorgen zu nehmen, indem über Ursachen und Folgen von Fieberkrämpfen sowie über das zukünftige Verhalten bei Fieber oder einem erneuten Fieberkrampf verständlich informiert und aufgeklärt wird.
6.5.2. Definition
Fieberkrämpfe entstehen durch eine niedrigere Erregbarkeitsschwelle des Kortex bei erhöhter Körperkerntemperatur in einer vulnerablen Phase des noch unreifen Gehirns. Sie treten typischerweise im Alter zwischen sechs Monaten und fünf Jahren mit einem Häufigkeitsgipfel im zweiten Lebensjahr auf. Auslöser sind häufig banale Virusinfekte. Fieberkrämpfe zählen zu den epileptischen Gelegenheitsanfällen und werden als eigenständiges Syndrom, nicht als Epilepsie klassifiziert. Es wird zwischen einfachen und komplizierten Fieberkrämpfen unterschieden (Tab. 6.18 ), dies hat für Diagnostik, Therapie, weitere Prognose und Beratung der Eltern des Patienten eine Bedeutung.
Tab. 6.18.
Unterscheidungsmerkmale zwischen einfachem und kompliziertem FieberkrampfFieberkrampfUnterscheidungsmerkmale
| Einfacher Fieberkrampf | Komplizierter Fieberkrampf | |
|---|---|---|
| Alter des Kindes | 6 Monate bis 5 Jahre | < 6 Mon. oder > 5 Jahre |
| Dauer des Krampfanfalls | < 15 Minuten (meist wenige Minuten) | > 15 Minuten |
| Rezidiv innerhalb 24 Std. | Nein | Ja |
| Klinisches Bild des Anfalls | Generalisiert tonisch-klonisch | Fokale Symptomatik |
| Postiktales neurologisches Defizit (meist Parese) | Nein | Ja |
Klassifizierung als komplizierter Fieberkrampf, sobald eines der genannten Kriterien erfüllt ist
6.5.3. Klinisches Erscheinungsbild
Ausgelöst werden Fieberkrämpfe häufig durch Infekte (38 % virale Atemwegsinfekte, 23 % Otitis media, 15 % Pneumonie, 7 % Gastroenteritis, 5 % Exanthema subitum), seltener durch nichtinfektiöse Ursachen (12 %, z. B. postvakzinal). Häufig ereignet sich der Fieberkrampf bereits im ersten Fieberanstieg, kann aber auch im Fieberabfall auftreten. Die absolute Höhe des Fiebers spielt eine untergeordnete Rolle. Ein unkomplizierter Fieberkrampf verläuft klinisch als generalisierter tonisch-klonischer, seltener als atonischer Krampfanfall, sistiert in der Regel nach wenigen Minuten spontan und das Kind erholt sich im Anschluss schnell.
Die Indikation zur stationären Aufnahme sollte nach dem ersten Fieberkrampf großzügig gestellt werden, dies wird in der Regel von den unter dem Eindruck des Ereignisses sehr besorgten und beunruhigten Eltern auch gewünscht. Bei kompliziertem Fieberkrampf oder einfachem Fieberkrampf und schlechtem Allgemeinzustand des Kindes oder Zeichen einer ZNS-Infektion ist eine stationäre Einweisung immer erforderlich. Bei einem guten klinischen Zustand des Kindes ohne Zeichen einer zerebralen Beteiligung kann auf eine stationäre Überwachung verzichtet werden. Dies setzt allerdings die Bereitschaft und die Möglichkeit der Eltern zu einer häuslichen Betreuung und Beobachtung des Kindes im weiteren Verlauf und die ausführliche Aufklärung der Eltern über das Vorgehen bei einem weiteren Ereignis voraus.
6.5.4. Diagnosen und Differenzialdiagnosen
Vom Fieberkrampf abzugrenzen sind Krampfanfälle bei Fieber, denen andere Ursachen zugrunde liegen (Tab. 6.19 ). Dies sind in erster Linie Infektionen des ZNS (Enzephalitis, Meningitis) oder neurologische Grunderkrankungen (z. B. strukturelle Hirnläsionen, Kap. 7.3)
Tab. 6.19.
Diagnosen und Differenzialdiagnosen bei Fieberkrämpfen
| Diagnosen bei Fieberkrämpfen |
|---|
| Einfacher Fieberkrampf (häufig) |
|
| Komplizierter Fieberkrampf (selten) |
| Stationäre Aufnahme zur weiteren Diagnostik, Überwachung und ggf. Therapie |
| Krampfanfall bei Fieber (Differenzialdiagnosen) |
|
Im Rahmen der stationären Versorgung bei kompliziertem Fieberkrampf oder Krampfanfall bei Fieber werden weitere diagnostische Schritte wie Routinelabordiagnostik mit Blutbild, CRP, Elektrolyten und Serumglukosespiegel, Urinuntersuchung, Liquordiagnostik und, je nach Umständen, bildgebende Verfahren veranlasst. Immer sollte hier eine EEG-Diagnostik erfolgen.
Dagegen kann beim einfachen Fieberkrampf, klinisch gutem Zustand des Kindes ohne Hinweis auf zerebrale Beteiligung auf Routinelaboruntersuchungen verzichtet werden, das EEG ist ohne diagnostischen Wert, und es besteht keine Indikation zur zentralen Bildgebung.
6.5.5. Beratung und Behandlung
Bei der FieberkrampfBehandlungBehandlung von Fieberkrämpfen geht es, wie bei der Behandlung jedes anderen akuten Krampfanfalls, zunächst um eine Unterbrechung des konvulsiven Geschehens zur Vermeidung eines Status epilepticus (Dauer des Krampfanfalls > 30 Minuten). Dieser droht nach geltender Definition, wenn ein Anfall nach fünf Minuten nicht spontan sistiert (erhöhtes Risiko für Status epilepticus). Die meisten Anfälle verlaufen kürzer und selbstlimitierend.
Die Möglichkeit der Applikation eines Notfallmedikaments durch die Eltern gibt diesen in einer solchen Situation eine Handlungsoption und bietet besorgten Eltern dadurch eine gewisse Sicherheit. Die Empfehlungen zur Behandlung des akuten Krampfanfalls sind in Tab. 6.20 aufgeführt (weitere Möglichkeiten der Anfallsterminierung durch den Notarzt oder durch ärztliches Personal in Praxis und Klinik Kap. 11).
Tab. 6.20.
Empfehlungen zur Behandlung eines akuten Krampfanfalls
| Verhalten bei Auftreten eines Fieberkrampfs |
|
| Notfallmedikation zur Behandlung des akuten Krampfanfalls |
|
| Weiteres Vorgehen |
|
Eine antiepileptische Dauertherapie ist bei Fieberkrämpfen nicht indiziert. Eine intermittierende antiepileptische Therapie durch Gabe von Diazepam oral oder rektal bei Fieber (z. B. 0,3 mg/kg KG Diazepam 2-mal in den ersten 24 Stunden einer Fieberepisode) kann bei häufig rezidivierenden Fieberkrämpfen (3 in 6 Monaten, 4 oder mehr in 12 Monaten) oder wiederholt langanhaltenden Fieberkrämpfen (> 15 Minuten) in Erwägung gezogen werden. Da diese Therapie mit nicht unerheblichen Nebenwirkungen (z. B. Ataxie, Lethargie, Irritabilität, seltener Hyperaktivität, Schlaflosigkeit, verwaschene Sprache) behaftet ist, sollte eine solche Entscheidung in Absprache mit Subspezialisten der Neuropädiatrie erfolgen.
Die wichtigste Aufgabe in der pädiatrischen Praxis ist die Beratung der Eltern nach einem Fieberkrampf ihres Kindes. Die Eltern sind verunsichert, in großer Sorge, was die Zukunft ihres Kindes betrifft, und haben zahlreiche Fragen, nachdem das Ereignis oft als lebensbedrohliche Situation wahrgenommen wurde.
Die Angst der Eltern vor bleibenden neurologischen Schäden („Absterben von Nervenzellen“, „Schädigung des Gehirns“, „Störungen der Entwicklung des Kindes“) wird deshalb im Gespräch aufgegriffen. Die Eltern werden darüber informiert, dass der einfache Fieberkrampf auch im Wiederholungsfall für das Kind folgenlos bleibt. Darüber hinaus ist über das Vorgehen bei erneutem Auftreten eines Fieberkrampfs zu sprechen, es erfolgt die Rezeptierung eines Notfallmedikaments und die Unterweisung in dessen Applikation und Wirkungsweise. Von großer Bedeutung ist das Gespräch über den Umgang mit Fieber und fiebersenkenden Maßnahmen. Eine Antipyrese kann das Wohlbefinden des Kindes verbessern, die Gabe erfolgt nach den gleichen Kriterien wie bei anderen fiebernden Kindern auch (Kap. 6.4).
Merke.
Die Eltern müssen unmissverständlich darüber aufgeklärt werden, dass fiebersenkende Maßnahmen unabhängig vom Zeitpunkt der Durchführung Fieberkrämpfe nicht verhindern.
Eine Bewertung des Anfallereignisses mit einer Risikoeinschätzung für das Auftreten weiterer Fieberkrämpfe und eine Erörterung des Risikos für die Entwicklung einer Epilepsie sind Bestandteil der Beratung. Es sollte darauf hingewiesen werden, dass Fieberkrämpfe nicht zur Gruppe der Epilepsien gehören und der einfache Fieberkrampf nicht mit einer Erhöhung des Epilepsierisikos einhergeht. In Tab. 6.21 sind die wichtigsten Fakten dazu zusammengefasst.
Tab. 6.21.
Rezidivrisiko für Fieberkrämpfe, Epilepsierisiko
| Faktoren für ein erhöhtes Rezidivrisiko von Fieberkrämpfen |
|
| Faktoren für ein erhöhtes Epilepsierisiko |
|
Das Rezidivrisiko für Fieberkrämpfe ohne Vorliegen der genannten Faktoren liegt bei etwa 10 %, bei Vorliegen von ein oder zwei Risikofaktoren steigt es demgegenüber auf etwa 25–50 %.
Das Risiko für eine spätere Epilepsie nach einfachem Fieberkrampf liegt bei 1–1,5 % und ist damit gegenüber der Normalbevölkerung (0,5–1 %) nur unwesentlich erhöht. Bei Vorliegen von Risikofaktoren steigt das Risiko auf 4–15 % an, und zwar umso stärker, je mehr der genannten Faktoren und Kriterien des komplizierten Fieberkrampfes (Tab. 6.21) erfüllt sind.
Eine Möglichkeit der Information für die Eltern besteht in der Weitergabe der Broschüre „Meine Kind hatte einen Fieberkrampf“ der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e. V., die alle wichtigen Fragen und Antworten zu diesem Thema übersichtlich und gut verständlich zusammenfasst und den Eltern die Möglichkeit gibt, bereits angesprochene Themen später zu rekapitulieren.
Fallbeispiel.
Auflösung
Die Eltern äußern ihre Sorge, dass nun bei jeder Fieberepisode ein Fieberkrampf auftreten könnte. Weiterhin haben sie nicht verstanden, wann sie das Notfallmedikament verabreichen sollen. Auch Ängste vor einer Epilepsie und vor negativen Auswirkungen auf die weitere Entwicklung ihres Kindes werden ausgesprochen. In einer ausführlichen und verständlichen Beratung der Eltern wird auf die Sorgen eingegangen, sie bekommen eine Informationsbroschüre zum Thema Fieberkrampf ausgehändigt. Da es sich um einen einfachen Fieberkrampf gehandelt hat, wird auf die gute Prognose hingewiesen. Ein erhöhtes Risiko für die Entstehung einer Epilepsie besteht nicht, auch nicht für den Fall eines erneut auftretenden einfachen Fieberkrampfs. Es erfolgt eine Aufklärung über das Wiederholungsrisiko von Fieberkrämpfen und auch darüber, dass frühzeitige fiebersenkende Maßnahmen das Wiederholungsrisiko nicht beeinflussen. Das Verhalten bei einem Fieberkrampfrezidiv wird erörtert und das Nofallmedikament Diazepam als Rektiole rezeptiert.
Literatur
- Borggräfe I., Heinen F., Gerstl L. Fieberkrämpfe. Diagnostik, Therapie und Beratung. Monatsschrift Kinderheilkunde. 2013;161:953–962. [Google Scholar]
- Gesellschaft für Neuropädiatrie . 2006. „Mein Kind hatte einen Fieberkrampf“, Informationsbroschüre der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e. V. (DGKJ), erstellt von der Gesellschaft für Neuropädiatrie in Zusammenarbeit mit DGPM, DGPI und DGSPJ und BVKJ.www.dgkj.de/fileadmin/_migrated/content_uploads/Mein_Kind_hatte_einen_Fieberkrampf.pdf (letzter Zugriff: 27.10.2016) [Google Scholar]
- Trollmann R. 2017. Fieberkrämpfe im Kindesalter. Angemeldete AWMF-Leitlinie, Reg.-Nr. 022–005, S1–Leitlinie. [Google Scholar]
6.6. Halsschmerzen
Fallbeispiel.
Der siebenjährige Pascal kommt am Vormittag in die Praxis. Am Vorabend hat er einmalig erbrochen, jetzt hat er starke Schluckbeschwerden, Halsschmerzen und Fieber bis 39 °C.
Fragen zum Fallbeispiel
-
•
Was sind die häufigsten Ursachen von Halsschmerzen?
-
•
Welche Diagnostik ist in der Grundversorgung sinnvoll und wann wird sie eingesetzt?
-
•
Wann ist eine antibiotische Therapie indiziert?
6.6.1. Stellenwert in der Grundversorgung
Akute SchmerzenSchmerzenHals- sind nach Husten zweithäufigster Vorstellungsanlass in der kinder- und jugendärztlichen Praxis. Halsschmerzen Halsschmerzen oder Schmerzen im Mund-Rachenraum wiederum machen dabei den größten Anteil aus. An einem normalen Behandlungstag in der allgemeinpädiatrischen Praxis wird man mit dem Symptom Halsschmerzen mehrfach konfrontiert. Die Beschwerden können als Begleitsymptom bei viralen Atemwegsinfekten, bei typischen klassifizierbaren Virusinfekten des Oropharynx oder der Tonsillen oder bei einer bakteriellen Tonsillopharyngitis im Rahmen einer Gruppe-A-Streptokokken-Infektion (GAS-Infektion) auftreten. Es gehört zu den Aufgaben des niedergelassenen Pädiaters, die Differenzialdiagnosen von Halsschmerzen gegeneinander abzugrenzen, um dann die erforderlichen Therapiemaßnahmen einzuleiten. Viel zu oft werden dabei Antibiotika eingesetzt, häufig allein aufgrund eines klinisch unspezifischen Bilds oder der geschilderten Beschwerden. Ziel muss es daher sein, die Patienten mit einer GAS-TonsillopharyngitisTonsillopharyngitis zu identifizieren, um eine antibiotische Therapie einzuleiten, und bei allen anderen Patienten auf eine solche zu verzichten.
6.6.2. Definition
Entzündungen im Mund-Rachenraum und der Tonsillen sind überwiegend durch Viren verursacht (70–85 %). Bei den bakteriellen Infektionen sind es vor allem die Gruppe-A-Streptokokken-Tonsillopharyngitiden, die im Alter von drei bis 15 Jahren etwa 20 % aller Erkrankungen ausmachen und zu den häufigsten bakteriellen Infektionen überhaupt gehören. Bis zu einem Alter von drei Jahren kommen sie selten vor (möglicherweise wird sich dies in Zukunft durch Krippenbetreuung und früheren Krankheitskontakt ändern). Die Inzidenz der akuten GAS-TonsillopharyngitisGAS-Tonsillopharyngitis in Deutschland wird auf 1 bis 1,5 Millionen/Jahr geschätzt, mit einem Altersgipfel zwischen dem 6. und 12. Lebensjahr. Eine Kolonisation des Rachens durch GAS ohne klinisch manifeste Infektion (Trägerstatus) kann in Endemiezeiten bei bis zu 25 % der Bevölkerung nachgewiesen werden. Die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung von GAS-Infektionen durch Träger ist gering, sie gelten als nicht infektiös, eine Behandlung ist nicht erforderlich. Gleiches gilt für den Nachweis von bakteriellen Kommensalen der Mund-Rachen-Flora, bei denen in der Regel kein Handlungsbedarf besteht. Eine Ausnahme bilden immunsupprimierte Patienten, bei denen auch atypische Erreger bei der Therapie berücksichtigt werden sollten.
6.6.3. Klinisches Erscheinungsbild
Der Spontanverlauf von Tonsillopharyngitiden ist unabhängig von der Genese günstig, Halsschmerzen treten für 3–5 Tage auf, Fieber klingt in der Regel nach 2–3 Tagen ab. Bis zum Abklingen aller Symptome dauert es in der Regel 5–7 Tage. Klinische Zeichen der Inflammation wie Tonsillenerythem, -ödem und -schwellung, exsudative Veränderungen der Tonsillen (Angina follikularis mit stippchenförmigen Belägen, Angina lacunaris mit konfluierenden Belägen) und selten Ulzerationen sind nicht spezifisch, insbesondere sind Tonsillenexsudate kein zuverlässiger Hinweis für eine bakterielle Infektion.
Begleitende Rhinitis, Konjunktivits oder eine Hustensymptomatik weisen auf eine virale Genese hin, während Schluckbeschwerden und Schwellung der zervikalen Lymphknoten eher auf eine GAS-Tonsillopharyngitis hinweisen, bei der auch Kopfschmerzen, reduziertes Ess- und Trinkverhalten, Bauchschmerzen, Übelkeit und Erbrechen auftreten können.
Merke.
-
•
Für eine sichere Diagnose reicht das klinische Bild allein nicht aus.
-
•
Husten, Schnupfen und fehlendes Fieber sprechen für eine Virusgenese.
-
•
Fieber, Tonsillenexsudate, Enanthem (petechiale Rötungen von weichem Gaumen und Uvula), starke Schluckbeschwerden und geschwollene Halslymphknoten deuten eher auf eine GAS-Infektion.
-
•
Häufig verlaufen akute Tonsillenpharyngitiden durch Viren oder durch GAS aber klinisch mit einem ähnlichen Bild.
6.6.4. Diagnosen und Differenzialdiagnosen
Weisen der Verlauf und die klinische Symptomatik auf einen Virusinfekt hin oder ist anhand des Lokalbefunds eine Einordnung zu einer spezifischen viralen TonsillopharyngitisTonsillopharyngitisStreptokokkentonsillitis TonsillopharyngitisMononukleose TonsillopharyngitisHerpangina möglich, erfolgt die symptomatische Therapie, eine weitere Diagnostik ist nicht erforderlich.
Typische Lokalbefunde bei akuter Tonsillopharyngitis sind in Abb. 6.7 , Abb. 6.8 , Abb. 6.9 dargestellt, eine Übersicht über häufige Erkrankungen bietet Tab. 6.22 . Nicht immer verlaufen Erkrankungen mit dem dargestellten typischen klinischen Bild.
Abb. 6.7.

Streptokokkentonsillitis
[G596]
Abb. 6.8.

Mononukleose
[E387]
Abb. 6.9.

Herpangina
[E576]
Tab. 6.22.
McIsaac-ScoreMcIsaac-Score: Bestimmung der Vortestwahrscheinlichkeit für eine GAS-Tonsillopharyngitis
| Symptom | Punkte | Score | GAS-Infektion |
|---|---|---|---|
| Fieber | 1 | 3 Punkte | ca. 35 % |
| Kein Husten | 1 | ≥ 4 Punkte | ca. 50 % |
| Zervikale Lymphknotenschwellung | 1 | Wahrscheinlichkeit einer GAS-Tonsillopharyngitis deutlich erhöht | |
| Tonsillenschwellung, Exsudat oder petechiales Enanthem | 1 | ||
| Alter zwischen 3 und 14 Jahren | 1 | ||
Die Abgrenzung einer GAS-Infektion von viralen Tonsillopharyngitiden und damit die mögliche Indikationsstellung zur antibiotischen Therapie ist häufig schwierig (Scharlach Kap. 6.15.3). Merkmale, die eine bakterielle Infektion wahrscheinlicher machen, sind im McIsaac-Score aufgeführt (Tab. 6.22) und dienen dazu, die Vortestwahrscheinlichkeit einer GAS-Infektion zu erhöhen. Bei einem Score von drei Punkten steigt die Wahrscheinlichkeit einer GAS-Infektion auf etwa 35 %, bei vier und mehr Punkten auf über 50 %. Ein McIsaac-Score von mindestens drei Punkten erfordert dann einen Schnelltest auf Streptokokken der Gruppe A, um die Diagnose einer GAS-Infektion zu sichern. Erfolgt die Diagnostik, sollte das Ergebnis bei der Entscheidung für oder gegen eine antibiotische Therapie auch Berücksichtigung finden.
Merke.
Nur bei einer klinischen Symptomatik, die eine GAS-Infektion wahrscheinlich macht (Tab. 6.22), ist ein Schnelltest auf Gruppe-A-Streptokokken (GAS) sinnvoll.
Wird er durchgeführt, sollte er bei der therapeutischen Entscheidung für oder gegen eine antibiotische Therapie Berücksichtigung finden.
Ein Rachenabstrich und die Durchführung eines antigenbasierten Schnelltests liefern innerhalb weniger Minuten ein positives oder negatives Ergebnis auf GASGAS-InfektionSchnelltest, es unterscheidet dabei aber nicht zwischen akuter Infektion und einem Trägerstatus, der in bis zu 25 % der Fälle vorliegen kann. Antigenbasierte Schnelltestuntersuchungen sind heute billig, zeigen eine hohe Spezifität (≥ 95 %) und eine Sensitivität von im Mittel 85 %, eine korrekte Abstrichentnahmetechnik mit Aufnahme von Tonsillenexsudat und Vermeidung enoraler Schleimhautkontakte vorausgesetzt. Im Fall eines negativen Schnelltests und des dringenden klinischen Verdachts auf eine GAS-Tonsillopharyngitis oder bei besonderen Fragestellungen (z. B. immunsupprimierter Patient) kann ein kultureller Erregernachweis erwogen werden, dessen Ergebnis in der ambulanten Grundversorgung in der Regel aber erst nach mehreren Tagen vorliegt. Eine serologische Untersuchung hat keinen Stellenwert in der Diagnostik der GAS-Tonsillopharyngitis.
Diagnosen bei Halsschmerzen
Häufig: Tonsillopharyngitis im Rahmen von Erkältungskrankheiten (z. B. Rhinoviren, Coronaviren, Adenoviren, Enteroviren, Influenzaviren) → symptomatische Therapie
Viruserkrankungen, die mit typischem klinischen Bild einhergehen können:
-
•
Herpangina durch Coxsackieviren (Abb. 6.9): Häufigkeitsgipfel Sommer und Herbst, symptomatische Therapie, herpetiforme Bläschen am Gaumensegel
-
•
Hand-Fuß-Mund-Krankheit durch Coxsackieviren: Häufigkeitsgipfel Sommer und Herbst, symptomatische Therapie
-
•
Infektiöse Mononukleose/Pfeiffersches Drüsenfieber durch Epstein-Barr-VirusEpstein-Barr-Virus (EBV) (Abb. 6.8), neben Tonsillopharyngitis generalisierte Lymphadenopathie, z. T. Hepatosplenomegalie. Höchste Inzidenz im Adoleszentenalter, besonders im Kindesalter variable oder monosymptomatische Verläufe möglich, lymphatische Reizformen im Blutbild, serologische Diagnose möglich, symptomatische Therapie, ggf. Steroid bei massiver Tonsillenhypertrophie
-
•
Stomatitis aphthosa, Gingivostomatitis: bei Erstinfektion mit Herpes-simplex-Virus, bei schwerem Verlauf Behandlung mit Aciclovir (75 mg/kg KG/d p. o. in 5 Einzeldosen für 7 Tage) nur in der Frühphase (erste 24 Stunden) erwägen
Seltene Differenzialdiagnosen mit abwendbar schwerem Verlauf:
-
•
Epiglottitis
-
•
Diphtherie
(Sind durch Impfprävention sehr selten geworden; bei Dyspnoe abklären)
Gruppe-A-Streptokokken-Tonsillopharyngitis:
-
•
Eine der häufigsten bakteriellen Erkrankungen
-
•
Diagnose durch klinische Symptomatik und Nachweis von GAS im Schnelltest
-
•
Häufigkeitsgipfel in Herbst und Winter
-
•
Bis zu 25 % Träger von GAS ohne klinische Symptomatik
-
•
Folgeerkrankungen (z. B. akutes rheumatisches Fieber, akute Post-Streptokokken-Glomerulonephritis) sind heute in Deutschland selten
-
•
Virulenzfaktor M-Protein, mehr als 100 verschiedene M-Typen, Reinfektionen möglich
-
•
GAS-Stämme mit erythrogenem Exotoxin – „echter Scharlach“-Scharlachexanthem,
-
•
Himbeerzunge, Enanthem weicher Gaumen (Kap. 6.15)
-
•
Antibiotische Therapie
Seltene Komplikationen bei GAS-Tonsillopharyngitis:
-
•
Peritonsillarabszess, Retropharyngealabszess, abszedierende Lymphadenitis, unilaterale Tonsillenschwellung
-
•
Verschlechterung im Verlauf trotz antibiotischer Therapie
-
•
Mitbehandlung durch HNO-Arzt erforderlich
6.6.5. Beratung und Behandlung
Mit oder ohne Nachweis von GAS ist der Spontanverlauf der akuten TonsillopharyngitisTonsillopharyngitisBehandlung günstig. Eine antibiotische Therapie ist, außer bei Nachweis einer GAS-Infektion, nicht erforderlich und nicht indiziert.
Zur Symptomlinderung können vor allem in den ersten Tagen einer Erkrankung Paracetamol oder Ibuprofen eingesetzt werden. Rachensprays, Gurgellösungen oder Lutschtabletten zeigen keinen gesicherten Effekt. Bei Erkrankungen des Oropharynx wie der Gingivotomatitis herpetica können lokalanästhesierende Lösungen zur Behandlung von aphthösen oder ulzerierenden Schleimhautveränderungen eingesetzt werden. Bei der genannten Erkrankung kann in der Frühphase (in den ersten 24 Stunden) bei bereits absehbarem schweren Verlauf eine Therapie mit Aciclovir p. o. über 5–7 Tage erwogen werden. Bei ausgeprägter Tonsillenhyperplasie (kissing-tonsills) im Rahmen einer EBV-Infektion ist eine orale Steroidgabe zu überlegen.
Die Therapie der GAS-Tonsillopharyngitis erfolgt antibiotisch. Die Vorteile der Behandlung liegen heute vor allem in einer Verkürzung der Dauer der Ansteckungsfähigkeit (spätestens nach 24 Stunden antibiotischer Therapie sind behandelte Patienten nicht mehr kontagiös, unbehandelt besteht Ansteckungsgefahr bis zum Abklingen aller Symptome, Dauer in der Regel eine Woche) und einer Verkürzung der Krankheitsdauer gegenüber Placebo von im Mittel 16 Stunden (Metaanalysen) mit Konsequenzen für die Wiederzulassung zu Gemeinschaftseinrichtungen (häufig Abklingen der Symptomatik innerhalb der ersten zwei Behandlungstage).
Das akute rheumatische Fieber (ARF) kommt bei Kindern unter drei Jahren nicht, danach in Deutschland selten vor, sodass der Nutzen einer Antibiotikatherapie aufgrund des hohen NNT-Wert („number needed to treat“) derzeit keine Behandlungsindikation darstellt. Durch Mutation von pathogenen Virulenzfaktoren (z. B. M-Protein) könnte sich diese Situation in Zukunft jedoch wieder ändern. So rückt in Nordamerika in letzter Zeit die antibiotische Therapie insbesondere zur Vermeidung des ARF wieder deutlicher in den Vordergrund. Purulente Komplikationen sind selten und können durch antibiotische Therapie nur in geringem Umfang reduziert werden. Die Poststreptokokkenglomerulonephritis wird durch eine antibiotische Therapie nicht verhindert.
Merke.
Nur bei Vorliegen einer GAS-Infektion ist eine antibiotische Therapie gerechtfertigt. Dies setzt in der Regel eine entsprechende klinische Symptomatik (McIsaac-Score ≥ 3) und ein positives Ergebnis der Schnelltestuntersuchung auf Gruppe-A-Streptokokken im Rachenabstrich voraus.
Therapie der GAS-Tonsillopharyngitis
-
•
Erste Wahl bei der antibiotischen Therapie der GAS-TonsillopharyngitisGAS-TonsillopharyngitisBehandlung ist die Gabe eines oralen Penicillins
-
–Penicillin V, 100.000 I. E./kg KG/d (max. 2 Mio. I. E., Erwachsene 3 Mio. I. E.) in 2–3 Einzelgaben über 7 bis 10 Tage (geringe Kosten, schlechter Geschmack, lange Behandlungsdauer und dadurch häufig schlechte Compliance)
-
–Alternativ Phenoxypenicillin-Benzathin mit längerer Halbwertszeit, (50.000 I. E./kg KG in 2 Einzelgaben), Therapiedauer 7 Tage (deutlich höhere Kosten, besserer Geschmack, bessere Compliance)
-
–
-
•
Oralcephalosporine bisher bei Versagen der Penicillintherapie, bei Rezidiven (bis zu 20 % bei Penicillintherapie) oder bei schwieriger Compliance
-
–Mindestens ebenso effektiv wie Penicillintherapie, höhere bakteriologische Sanierungsrate, kürzere Behandlungsdauer, weniger Rezidive, Kosten nicht höher als bei 10-tägiger Penicillin-V-Therapie
-
–Cefuroxim 30 mg/kg KG/d in zwei Gaben über 5 Tage
-
–Cefaclor 30 mg/kg KG/d in drei Gaben über 5 Tage
-
–
-
•
Bei Persistenz der Beschwerden unter antibiotischer Therapie über 2–3 Tage hinaus sollte eine klinische Reevaluation erfolgen, um die Diagnose zu überprüfen, die Therapiecompliance zu hinterfragen und mögliche Komplikationen zu erfassen.
-
•
Kontrollen nach Ende der Therapie (Rachenabstrich – außer nach ARF in der Anamnese –, Urin, EKG) sind nicht indiziert.
-
•
Eine Wiederzulassung zu Gemeinschaftseinrichtungen kann bei gutem Allgemeinbefinden bereits nach 24-stündiger antibiotischer Therapie erfolgen.
-
•
Die Prognose auch bei rekurrierenden Tonsillopharyngitiden ist günstig.
-
•
Die Indikation und der therapeutische Nutzen einer Tonsillektomie werden seit Jahren kontrovers diskutiert. Bei Patienten mit mehr als sieben GAS-Tonsillopharyngitiden in einem Jahr oder mehr als fünf Episoden pro Jahr über zwei Jahre kann eine Tonsillektomie erwogen werden.
Fallbeispiel.
Auflösung
Die Untersuchung zeigte einen geröteten Rachen, leicht gerötete Tonsillen ohne Exsudat und vergrößerte zervikale Lymphknoten. Bei einem McIsaac-Score von 4 wurde ein Streptokokken-Schnelltest durchgeführt, der einen positiven Befund ergab. Damit wurde die Diagnose einer Tonsillitis durch Streptokokken der Gruppe A gestellt und es erfolgte die antibiotische Behandlung mit Penicillin V oral. Der Junge entfieberte am folgenden Tag, auch die Beschwerden waren sehr schnell rückläufig. Bei Wohlbefinden des Kindes, oraler Antibiose über mehr als 24 Stunden und damit gebannter Ansteckungsgefahr konnte Pascal bereits am übernächsten Tag die Schule wieder besuchen.
Literatur
- Scholz H. Vol. 1. Thieme; , Stuttgart: 2009. Erkrankungen durch A-Steptokokken. PädiatrieUp2date; pp. 35–47. [Google Scholar]
- Scholz H. 6. Auflage. Thieme; Stuttgart: 2014. Infektionen durch β-hämolysierende Streptokokken der Gruppe A (GAS). DGPI-Handbuch. Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie; pp. 509–516. [Google Scholar]
- Toepfner N., Berner R. Gruppe-A-Streptokokken-Infektionen im Kindesalter. Monatsschr. Kinderheilkd. 2011;159:775–778. [Google Scholar]
- Toepfner N. 6. Auflage. Thieme; Stuttgart: 2014. Tonsillopharyngitis. DGPI-Handbuch. Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie; pp. 785–788. [Google Scholar]
- Wächtler H., Chenot J.F. 2009. Halsschmerzen. AWMF-Register Nr. 053/10, S3-Leitlinie, Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) [Google Scholar]
6.7. Ohrenschmerzen
Fallbeispiel.
Die fünfjährige Feride wird am Freitagmittag in der Praxis vorgestellt. In der Nacht ist sie aufgewacht und hat über heftige OhrenschmerzenOhrenschmerzen SchmerzenOhren- geklagt. Fieber sei nicht aufgetreten, seit zwei Tagen bestehe eine leichte Erkältung. Die Untersuchung zeigt ein deutlich gerötetes und leicht vorgewölbtes Trommelfell sowie einen leichten Tragusdruckschmerz links, auf der rechten Seite ist lediglich eine randständige Rötung des Trommelfells festzustellen. Bis auf eine behinderte Nasenatmung bei Rhinitis ist der übrige Untersuchungsbefund von HNO-Bereich und Lunge unauffällig. Der Allgemeinzustand des Kindes ist aufgrund der Schmerzen leicht beeinträchtigt.
Fragen zum Fallbeispiel
-
•
Wie ist der Spontanverlauf der akuten Otitis media und was bedeutet das für die Therapie?
-
•
Was sind die Kriterien für eine primär antibiotische Therapie bei akuter Otitis media?
6.7.1. Stellenwert in der Grundversorgung
Akute Schmerzen sind nach einer Hustensymptomatik zweithäufigster Vorstellungsanlass in der Kinder- und Jugendarztpraxis. Zu einem großen Teil handelt es sich dabei um Ohrenschmerzen. Mehrfach an einem Behandlungstag in der allgemeinpädiatrischen Praxis – insbesondere während der Infektperiode im Herbst und Winter – werden Kinder mit einer akuten Beschwerdesymptomatik vorgestellt. Es ist die Aufgabe des Pädiaters, die Ursache festzustellen und dann über die Behandlung und das weitere Vorgehen bei akuten Ohrenschmerzen zu befinden. Er bespricht mit dem Patienten bzw. dessen Eltern die Möglichkeiten der symptomatischen Therapie und Gründe für eine antibiotische Behandlung. Insbesondere erläutert er die Möglichkeit einer abwartenden Beobachtung und klärt über die weiteren Maßnahmen auf.
6.7.2. Definitionen
Akuten Ohrenschmerzen liegen meist lokale entzündliche Veränderungen von Gehörgang oder Mittelohr zugrunde. Selten können ein Trauma (z. B. Verletzung bei der Reinigung mit Wattestäbchen), ausstrahlende Schmerzen durch entzündliche Veränderungen des Mund-Rachenraums oder der Zähne oder ein MittelohrentzündungFremdkörper im Gehörgang Auslöser sein. Meist treten Ohrenschmerzen im Zusammenhang oder in der Folge eines akuten viralen Atemwegsinfekts auf. Die akute InfektionskrankheitenMittelohrentzündung Mittelohrentzündung (akute Otitis media, AOM akute Otitis media, AOM ) als bedeutende Ursache für Ohrenschmerzen gehört zu den häufigsten Infektionskrankheiten des Kindesalters, die vorzugsweise im Alter zwischen 6 Monaten und 6 Jahren auftritt. 75–90 % aller Kinder erkranken in den ersten drei Lebensjahren wenigstens einmal an einer akuten Otitis media.
Verschiedene Ursachen für Ohrenschmerzen OhrenschmerzenUrsachensind:
-
•
Tubenbelüftungsstörung mit akuter Schmerzsymptomatik, kein Erguss, keine Inflammation, meist von kurzer Dauer
-
•
Tubenkatarrh (auch seröse Otitis, Sero-/Mukotympanon) mit Erguss, ohne oder mit geringen Zeichen einer akuten Entzündung, keine oder geringe Schmerzsymptomatik (z. B. dumpfer Druck, Glucksen, Rauschen), Hörminderung
-
•
Akute Otitis media (AOM), „akute Mittelohrentzündung“ mit akutem Beginn, Schmerzsymptomatik, Erguss/vorgewölbtem Trommelfell, Rötung, entdifferenziertem Trommelfell/Reflexverlust
-
•
Otitis externa mit Otalgie, starkem Tragusdruckschmerz, Schwellung, Rötung und/oder eitrigem Sekret im Gehörgang
-
•
Mastoiditis mit starkem Tragus- und Mastoiddruckschmerz, abstehendem Ohr
Weitere Ursachen können sein: Fremdkörper, Trauma, ausstrahlender Schmerz.
6.7.3. Klinisches Erscheinungsbild
Akute Otitis media (AOM)
Die klinischen und otoskopischen Zeichen der akuten Otitis media sind nicht immer eindeutig. Sind die folgenden drei Kriterien erfüllt, kann die Diagnose als gesichert angesehen werden:
-
1.
Akuter Beginn der Erkrankung mit Krankheitsgefühl und Fieber
-
2.
Zeichen und Symptome der Mittelohrentzündung mit Rötung des Trommelfells und Otalgie
-
3.
Nachweis eines Mittelohrergusses mit Vorwölbung des Trommelfells oder Flüssigkeitsspiegel bzw. Luftblasen hinter dem Trommelfell
Bei zwei von drei Kriterien muss die Diagnose als unsicher eingestuft werden. Diese Einteilung hat Bedeutung für die weitere Therapie (Tab. 6.23 ).
Tab. 6.23.
Therapie der akuten Otitis media
| Therapie der AOM |
|---|
|
Ursachen der AOM
-
•
Vorwiegend gemischte Infektionen (in 2 von 3 Fällen Nachweis von Viren und Bakterien), z. T. rein bakterielle Infektionen, seltener rein virale Infektionenakute Otitis media, AOMUrsachen
-
•
Häufigste Bakteriengruppen: Pneumokokken (30–50 %), Hämophilus influenzae (unbekapselt, 20–30 %), seltener Moraxella catarhalis, Staphylococcus pyogenes, Staphylococcus aureus (< 1 %); in geringerer Zahl verschiedene andere Gruppen
-
•
Die Einführung der Pneumokokkenimpfung hat zu einem Rückgang der Otitis media durch Pneumokokken geführt, ebenso zum Rückgang der rezidivierenden AOM und der Zahl der Paukenröhrcheneinlagen
Vorkommen der AOM
-
•
Häufig nach vorangegangenem Virusinfekt der oberen Atemwege
-
•
Saisonale Häufung Dezember bis März
-
•
Am häufigsten im Alter zwischen 6 Monaten und 6 Jahren
Klinisches Erscheinungsbild
-
•
Schmerzen, bei Säugling auch Reizbarkeit, Unruhe, schrilles Schreien, Greifen nach Ohr
-
•
Meist Fieber (kann – insbesondere beim älteren Kind – fehlen)
-
•
Mittelohrerguss (trübes, entdifferenziertes, verfärbtes und/oder vorgewölbtes Trommelfell, Otorrhö innerhalb der letzten 24 Stunden bei Trommelfellperforation)
-
•
Inflammation (Rötung – vor allem in Verbindung mit Mittelohrerguss, sonst unsicheres Zeichen)
Komplikationen der Otitis media (Vorstellung HNO erforderlich)
-
•
Seromukotympanon (chron. Mittelohrerguss, ggf. mit anhaltende Hörminderung)
-
•
Rezidivierende oder chronische Otitis media mit persistierender Otorrhö
-
•
Selten: Cholesteatom, Mastoiditis
Einen typischen otoskopischen Befund bei akuter Otitis media zeigt Abb. 6.10 .
Abb. 6.10.

Die Zeichen des Ergusses (trübes und vorgewölbtes Trommelfell) und der Inflammation (hochrotes TrommelfellTrommelfellerguss) sind deutlich zu sehen.
[E566]
Beratung und Behandlung bei AOM
Die Mittelohrentzündung ist die häufigste Ursachenakute Otitis media, AOMBehandlung für Antibiotikabehandlungen, die Selbstheilungsrate der AOM ist mit 70–90 % allerdings hoch. Daher muss die Möglichkeit einer symptomatischen Therapie und des abwartenden Beobachtens mit der Option der klinischen Kontrolle und Reevaluation innerhalb von 48 bis 72 Stunden beachtet und beherzigt werden. Auf der anderen Seite müssen die Indikationen für eine primäre Antibiotikatherapie bekannt sein (Tab. 6.23 und Tab. 6.24 ).
Tab. 6.24.
Indikationen für eine primäre Antibiotikatherapieakute Otitis media, AOMAntibiose
| Primäre Antibiotikatherapie bei AOM |
|---|
|
Sichere Diagnose: akuter Beginn, Mittelohrerguss und Zeichen der Mittelohrentzündung
Schwerer Verlauf: starke Otalgie, Fieber > 39 °C, ausgeprägte Krankheitszeichen
Das Vorgehen des abwartenden Beobachtens setzt voraus, dass Patient und Eltern beraten werden und mit dem Vorgehen einverstanden sind. Eine Nachbeobachtung durch die Betreuungspersonen und eine erneute Vorstellung und Reevaluation im Falle der Beschwerdepersistenz muss gewährleistet sein. Es ist durchaus möglich, kompetente Eltern nach entsprechender Instruktion in eine Therapieentscheidung einzubinden. Die Eltern bekommen ein Rezept für ein Antibiotikum ausgehändigt und entscheiden im Verlauf der nächsten 48 Stunden anhand der klinischen Symptomatik über den Beginn einer Therapie.
Merke.
-
•
Die Spontanheilungsrate der akuten Otitis media beträgt 70–90 %.
-
•
In Abwägung des Alters und des Allgemeinzustands des Kindes, des Schweregrades der Symptomatik und der Begleitumstände ist daher ein abwartendes Beobachten des spontanen Heilungsverlaufs und eine symptomatische Behandlung gerechtfertigt.
-
•
Sie setzt eine Nachbeobachtung und ggf. Nachuntersuchung im Zeitraum von 48–72 Stunden voraus.
Chronischer Mittelohrerguss (Tubenkatarrh)
Mittelohrergüsse tretenTubenkatarrh Mittelohrergusspraktisch bei jeder akuten Otitis media auf. Sie sind in der Regel serös und bilden sich im Verlauf spontan und vollständig zurück (Spontanheilungsrate ca. 50 % nach einem Monat, 75–90 % nach drei Monaten). Sie bedürfen keiner Therapie, eine Autoinsufflation mit einem nasalen Ballonsystem kann bei länger anhaltendem Erguss versucht werden.
Davon abzugrenzen ist der schmerzlose, symptomarme und über mehr als drei Monate hinaus anhaltende chronische Mittelohrerguss. Es handelt sich um einen serösen oder mukösen Erguss ohne die klinischen Zeichen der akuten Entzündung. Trotz weiter bestehender hoher Spontanheilungsrate (95 % innerhalb eines Jahres) müssen diese Patienten aufgrund einer bestehenden Schallleitungsstörung mit einer Hörminderung zwischen 20 und 50 dB und möglicher Auswirkungen auf die Sprachentwicklung regelmäßig kontrolliert und bei Persistenz des chronischen Mittelohrergusses therapiert werden.
Die Ursachen für einen chronischen Erguss sind multifaktoriell; von nicht unwesentlicher Bedeutung sind adenoide Vegetationen, die in der Regel bakteriell besiedelt sind (Keimbesiedelung entspricht den Bakterien, die typischerweise bei der Otitis media nachgewiesen werden können). Der chronische Mittelohrerguss kann daher eine Indikation zur Adenotomie (immer mit Parazentese) darstellen. Eine Adenotomie ist auch indiziert bei häufig rezidivierender Otitis media, Zustand nach Mastoiditis, obstruktiven Schlaf-Apnoen und sekundären Symptomen (dauernd behinderte Nasenatmung mit Tubenventilationsstörung, anhaltender Schallleitungsschwerhörigkeit und Facies adenoidea). Eine Hyperplasie mit alleinigem nächtlichen Schnarchen ohne die angeführte Symptomatik rechtfertigt kein operatives Vorgehen.
Ursachen, Diagnose und Therapie bei chronischem Mittelohrerguss
Definition: Mittelohrerguss über mehr als drei Monate persistierend
Ursachen:
-
•
Gehäufte Infektionen der oberen Atemwege, rezidivierende Otitis media
-
•
Rauchen im Haushalt
-
•
Anatomie der Tuba auditiva, Metaplasie der Paukenschleimhaut
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•
Adenoide Vegetationen
Diagnose:
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Otoskopischer Befund gelblich bis grünlich-bläuliches verfärbtes Trommelfell, meist Trommelfellretraktion
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•
Tympanogramm: eingeschränkte Trommelfellbeweglichkeit
-
•
Audiometrie: Hörminderung zwischen 20 und 50 dB, Schallleitungsschwerhörigkeit
Therapie:
-
•
„Watchful-Waiting“ – solange keine ausgeprägte Hörminderung und keine Sprachentwicklungsauffälligkeit
-
•
Medikamentöse Therapie: in Metaanalysen keine Effekte von Antibiotika, Corticosteroiden oral oder nasal, Antihistaminika, Mykolytika, abschwellende Nasentropfen, Protonenpumpeninhibitoren. Einsatz nur in Einzelfällen und Komorbiditäten (z. B. Allergie, gastroösophagealer Reflux)
-
•
Autoinsufflation mit einem nasalen Ballonsystem (z. B. Otovent®, Otobar®) ab einem Alter von 3–4 Jahren möglich
-
•
Bei Persistenz des Mittelohrergusses und/oder ausgeprägter Hörminderung oder Sprachentwicklungsauffälligkeiten Überweisung zum HNO-Arzt mit der Frage nach Parazentese, der Einlage eines Paukenröhrchens und/oder Adenotomie
Otitis externa
Im Gegensatz zur OtitisOtitis externa media kommt die Otitis externa vor allem im Sommer vor und scheint mit der Zahl der Schwimmtage assoziiert („swimmer's earswimmer's ear“). Es handelt sich bei der Otitis externa um eine Entzündung des Gehörgangs, die häufig durch eine bakterielle Infektion hervorgerufen und durch Feuchtigkeit im Gehörgang und andere Irritationen begünstigt wird. Im Vordergrund steht der starke Ohrenschmerz mit deutlichem Tragusdruckschmerz. Rötung, Schwellung und eitrige Sekretion im Gehörgang bestätigen die Diagnose.
Die Behandlung erfolgt durch Analgesie (lokalanästhesierende Ohrentropfen), Säuberung des Gehörgangs und Gabe von Antibiotika. Als lokal applizierbare Antibiotika kommen z. B. Ciprofloxacin-Ohrentropfen infrage. Kommt es nicht innerhalb kurzer Zeit zu einer Besserung, sollte eine Vorstellung beim HNO-Arzt erfolgen.
Fallbeispiel.
Auflösung
Mit den Eltern der Patientin wird der erhobene Befund besprochen und eine symptomatische Therapie mit Ibuprofen und abschwellenden Nasentropfen eingeleitet. Auf die gute Prognose mit hoher Wahrscheinlichkeit der Spontanheilung wird hingewiesen. Bei dem beginnenden Wochenende und der während dieses Zeitraums in der Region eingeschränkten ärztlichen Versorgung wird ein Rezept für ein Antibiotikum (Amoxicillin) ausgestellt und dessen Gabe bei Persistenz der Symptomatik oder sich verschlechterndem Allgemeinzustand trotz symptomatischer Therapie in den nächsten zwei Tagen erklärt.
Verlauf a: Bei einer späteren Konsultation berichten die Eltern, dass die Beschwerden unter der begonnenen Therapie schnell abgeklungen seien. Schon am nächsten Tag sei die Tochter beschwerdefrei gewesen. Ein Antibiotikum musste nicht verabreicht werden. Ein Untersuchung jetzt zwei Wochen nach der akuten Ohrschmerzsymptomatik zeigt einen unauffälligen Trommelfellbefund.
Verlauf b: Nach kurzer Besserung der Schmerzen unter Therapie mit Ibuprofen kommt es erneut zu starken Ohrenschmerzen in der Folgenacht. Da die Eltern sich mit der weiteren Therapie unsicher sind, fahren sie doch zu dem 20 km entfernt liegenden ärztlichen Notdienst. Dort zeigt sich bei der erneuten klinischen Untersuchung das linke Trommelfell hochrot, trüb und vorgewölbt (Abb. 6.10). Es wird besprochen, die symptomatische Therapie fortzusetzen, jetzt aber das bereits rezeptierte Antibiotikum einzusetzen. Im Verlauf der antibiotischen Therapie klingen die Beschwerden innerhalb von 48 Stunden vollständig ab.
Literatur
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6.8. Kopfschmerzen
Fallbeispiel.
Die zwölf Jahre alte Mara wird von ihrer Mutter begleitet. Mara, berichtet die Mutter, habe schon seit Jahren KopfschmerzenKopfschmerzen SchmerzenKopf- bei Anstrengung wie z. B. Schularbeiten, nach Klassenarbeiten, langem Lesen. Sie führt dies auf einen Fahrradunfall mit Gehirnerschütterung im Alter von sechs Jahren zurück.
In letzter Zeit klage Mara aber über stärkere Kopfschmerzen, die sie zum Hinlegen nach der Schule zwängen, und sie träten nun nahezu täglich auf. Mara hat die Schule gewechselt und besucht seit diesem Schuljahr das Gymnasium. Sie hat einen langen Schulweg von einer Stunde. Ihren früheren Freundeskreis hat sie dadurch verloren.
Bei einer kurzen Untersuchung werden akute Erkrankungen mit Infekt der oberen Luftwege, Grippe, schlechte Zähne, Otitis, Sinusitis ausgeschlossen. Eine Überprüfung der Augenmotilität, des Ganges und der Reflexe ist unauffällig, kein Meningismus.
Ein langer Termin wird vereinbart. Mara soll für vier Wochen einen Kopfschmerzkalender führen.
Fragen zum Fallbeispiel
-
•
Welches sind die Kopfschmerzen, die bei Kindern und Jugendlichen hauptsächlich vorkommen?
-
•
Bei welchen Symptomen besteht dringender Handlungsbedarf?
-
•
Welche Behandlungen sind bei welchen Kopfschmerzen indiziert?
6.8.1. Stellenwert in der Grundversorgung
Obwohl Kopfschmerzen meist benigne sind, stellen sie ein bedeutendes Gesundheitsproblem dar, für die Betroffenen wie auch für die Gesellschaft (Arztbesuche, Schulausfall). Sie zählen zu den häufigen Beschwerden, weshalb Kinder in der Praxis vorgestellt werden.
Es gibt eine Altersabhängigkeit. Im Kleinkindalter werden sie selten genannt, bzw. können noch nicht artikuliert werden. Sie nehmen im Schul- und Jugendalter kontinuierlich zu. In der DAKJ-Versorgungsstudie waren akute Schmerzen mit 27,3 % der häufigste Vorstellungsanlass im Alter von 10–18 Jahren. Davon dürfte ein großer Teil akute Kopfschmerzen sein.
Dies bestätigen die KIGGS-Daten. Bei den 11–17-Jährigen kennen 78 % Kopfschmerzen und bei Kindern von 3–10 Jahren sind es 56 %. Unter rezidivierenden Kopfschmerzen vom Spannungstyp leiden 10 % der Kinder und 24 % der Jugendlichen. Das Verhältnis von Spannungskopfschmerzen zu Migräne beträgt 6:1.
6.8.2. Klassifikation der Kopfschmerzen
Die Klassifikation der KopfschmerzenKopfschmerzenKlassifikation (KS) erfolgt nach Phänotyp, Ursache und Dauer der Kopfschmerzen (International Headache Society/IHS).
Nachfolgend werden in diesem Kapitel nur Kopfschmerzarten aufgeführt, die in der Grundversorgung von Kindern und Jugendlichen eine Rolle spielen.
Primäre Kopfschmerzen
-
•
Migräne
-
–Migräne ohne Aura
-
–Migräne mit Aura
-
–
-
•
Kopfschmerzen vom Spannungstyp
Einteilung nach Häufigkeit:
-
•
Sporadisch auftretend, d. h. < 12 Tage im Jahr
-
•
Episodisch auftretend, d. h. mindestens 1-mal pro Monat, maximal 14-mal pro Monat
-
•
Chronisch auftretend, d. h. > 15-mal im Monat
Sekundäre Kopfschmerzen
-
•
KS infolge von Schädelprellung, Schädel-Hirn-Trauma
-
•
KS infolge von vaskulären intrakraniellen Störungen (z. B. nicht traumatische Hirnblutung, Bluthochdruck), sehr selten
-
•
KS infolge von nicht-vaskulären intrakraniellen Störungen und Erkrankungen (z. B. Shuntinsuffizienz bei ehemals Frühgeborenen und Neoplasien)
-
•
KS infolge von Medikamentenmissbrauch oder -entzug
-
•
KS infolge von Infektionen (z. B. Meningitis, Enzephalitis, Hirnabszess, systemische Infektionen wie Influenza, Borreliose, Streptokokkenangina und Scharlach)
-
•
KS infolge von Erkrankungen des Craniums, der Augen, Nasennebenhöhlen
-
•
Kopfschmerzen infolge von psychosomatischen oder psychiatrischen Störungen (Kap. 8.3.4)
6.8.3. Klinisches Erscheinungsbild
Die Einordnung der Kopfschmerzen ergibt sich meist aus der Erst-Anamnese, muss aber eventuell durch das Führen eines Kopfschmerzkalenders mit Dokumentation der KS-Dauer, Schmerzstärke und der Begleitsymptome weiter geklärt werden.
Migräne
Kinder mit KopfschmerzenMigräne Migräneeiner ersten Migräneattacke werden ebenfalls akut in der Praxis vorgestellt. Die Eltern sind besorgt wegen der Stärke der Schmerzen und/oder der vegetativen Begleitsymptome. Besorgnis bedeutet Angst vor einer Meningitis oder vor einem Hirntumor. Viele Eltern zeigen sich dann überrascht, dass auch Kinder schon eine Migräne haben können. Im Kindesalter hält eine Migräneattacke oft weniger als vier Stunden an (zwei Stunden), der Kopfschmerz wird bifrontal (vom Kind oft als Augenschmerzen bezeichnet) oder wird bitemporal angezeigt und selten als pulsierend beschrieben.
Häufig stehen die gastrointestinalen Symptome ganz im Vordergrund. Das Kind ist blass, hört auf zu spielen, will sich hinlegen und steht nach dem Schlaf beschwerdefrei wieder auf.
Bei Kindern unter vier Jahren äußert sich Migräne eher als Migräneäquivalent und geht erst später in typische Migränekopfschmerzen über. Bei Jugendlichen verläuft eine Migräneattacke wie im Erwachsenenalter.
Seltene Formen von MigräneMigräneformen und Migräneäquivalenten im Kindesalter:
-
•
Migräne mit Aura: Flimmern, Zickzack Lichter, Skotome
-
•
Basilarismigräne (Jugendalter): Ataxie, Sehstörung, Schwindel, alternierende Hemiparese, danach heftiger occipitaler Kopfschmerz
-
•
Ophthalmoplegische Migräne (Jugendalter), einseitige Okulomotoriuslähmung, über die Migräneattacke hinaus anhaltend
-
•
Benigner paroxysmaler Schwindel (Beginn im Kleinkindalter): Blässe, kein Stehvermögen, Nystagmus, Angst
-
•
Benigner paroxysmaler Torticollis (Beginn meist 1. Lebensjahr): Absinken des Kopfes bei Kopfdrehung, Ataxie, Blässe, Brechreiz
-
•
Familiäre hemiplegische Migräne, oft nach banalem Kopftrauma: kopf- und armbetonte Hemiplegie
-
•
Abdominelle Migräne (meist Schulkind): Bauchschmerzen periumbilical, Blässe, Übelkeit, Erbrechen, Dauer 4–24 Stunden, im Intervall beschwerdefrei
-
•
Zyklisches Erbrechen (Kleinkind): Blässe, Lethargie, Flüssigkeitsverlust
-
•
Cluster-Kopfschmerz (ab Jugendalter): schwerster unilateraler Kopfschmerz im Auge, periorbital und temporal, mit vegetativen Symptomen (Tränen, gerötetes Auge, Schwindel)
Spannungskopfschmerzen
Spannungskopfschmerzen sind dagegen eher mäßig stark und immer ohne vegetative Begleitsymptome. Sie werden nicht als akut bedrohlich empfunden, deshalb auch kaum in der Akutsprechstunde vorgestellt, es sei denn, dass das Kind oder der Jugendliche wegen Fehltagen in Schule und Beruf eine ärztliche Bescheinigung braucht. Heftigere SpannungskopfschmerzenSpannungskopfschmerzen verleiten zum Schmerzmittelgebrauch.
Somatoforme Schmerzstörungen
Bei Kopfschmerzen als somatoforme Schmerzstörung handelt es sich in der Regel um chronische Spannungskopfschmerzen mit zusätzlichen psychiatrischen Symptomen (z. B. Ängste, depressive Störung, soziale Ängstlichkeit).
Kopfschmerz bei Medikamentenübergebrauch
Kopfschmerzen bei Medikamentenübergebrauch (Analgetika) sind chronische Dauerkopfschmerzen. Sie scheinen auch bei Jugendlichen eher selten vorzukommen, trotzdem müssen sie ursächlich in Betracht gezogen werden. Analgetika-Abusus wird definiert als Einnahme von Schmerzmitteln an mehr als 15 Tagen im Monat und länger als 3 Monate.
Kopfschmerz beim Säugling und Kleinkind
Kopfschmerzsymptome beim Säugling und Kleinkind könnenKopfschmerzenbeim Säugling Kopfschmerzenbeim Kleinkind sein: heftiges, ungewöhnliches Schreien, Blässe, Erbrechen, gestreckte Körperhaltung, schmerzhafter Gesichtsausdruck, erhöhte Herz-Atemfrequenz, weite Pupillen.
Sekundäre Kopfschmerzen
In der PraxisKopfschmerzensekundäre werden Kinder und Jugendliche am häufigsten mit akut aufgetretenen Kopfschmerzen vorgestellt. Diese sind fast immer sekundär bedingt, z. B. durch einen Unfall mit Schädelprellung, als Begleitsymptom im Rahmen von Infektionskrankheiten (viralen Infektionen wie Influenza, bakterielle Infektionen wie Streptokokkenangina und Scharlach) oder auch als Sonnenstich nach intensiver Sonnen-Einstrahlung auf Kopf, Hals und Nacken. Für „sekundäre Kopfschmerzen“ ist typisch, dass die Patienten zuvor keine Kopfschmerzen hatten, die Kopfschmerzen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Unfall oder der akuten Erkrankung auftreten und die Patienten nach Behandlung oder spontaner Besserung der primären Ursache wieder beschwerdefrei sind.
Posttraumatische Kopfschmerzen (nach Schädelprellung) beginnen innerhalb von sieben Tagen nach einem Unfall, sind meist nach zehn Tagen verschwunden, können aber selten bis zu drei Monaten anhalten.
6.8.4. Diagnose und Differenzialdiagnose der Kopfschmerzen
Die häufigsten Ursachen für Kopfschmerzen, die in der Grundversorgung von Kindern und Jugendlichen gesehen werden, sind:
-
•
Migräne
-
•
Spannungskopfschmerzen
-
•
Akute (sekundäre) Kopfschmerzen (posttraumatisch oder Infektions-bedingt)
In Tab. 6.25 sind die Charakteristika der KopfschmerzenKopfschmerzenCharakteristika vom Spannungs- und Migränetyp aufgeführt. Obwohl er selten vorkommt, muss auch ein Kopfschmerz infolge von Hirndruck immer bedacht werden.
Tab. 6.25.
Charakteristika von Spannungs-, Migräne-Kopfschmerzen und Kopfschmerzen infolge erhöhten Hirndrucks
| Spannungs-KS | Migräne | Hirndruck | |
|---|---|---|---|
| Intensität | Mäßig | Mäßig bis stark | Stark |
| Verstärkt durch körperliche Aktivität | Nein | Ja | Ja |
| Qualität | Dumpf, drückend, ohne Modulation | Pulsierend, stechend, an- und abschwellend | Drückend, „wie im Schraubstock“ |
| Lokalisation | Ganzer Kopf, beidseitig, „wie ein zu enger Helm“ | Schulkind beidseitig, bifrontal, bitemporal, später unilateral | Oft occipital |
| Dauer | Stunden bis Tage | Kleinkind max. 4 h, oft deutlich kürzer (2 h); Schulkinder und Jugendliche 4 h bis 2–3 Tage | Dauerhaft oder episodisch |
| Übelkeit und Erbrechen | Nein | Ja | Nachts, am frühen Morgen |
| Photophobie | Nein | Ja | Nein |
In einer Erstanamnese können bereits viele Fragen zum Kopfschmerz und zu allgemeinen Belastungsfaktoren in Schule und Familie erhoben werden (Tab. 6.26 ).
Tab. 6.26.
Fragen zur Anamnese bei KopfschmerzKopfschmerzenAnamnese
| Erstanamnese |
|---|
|
Um individuelle Auslöser für die Kopfschmerzen identifizieren zu können, ist die Auswertung eines Kopfschmerzkalenders hilfreich. In einem KopfschmerzkalenderKopfschmerzkalender werden über eine zuvor vereinbarte Zeit (z. B. 4–6 Wochen) Kopfschmerzdauer, Schmerzstärke, Begleitsymptome, Auslöser/„individueller“ Stress und Medikation dokumentiert.
Merke.
Neben der Information für den Arzt bezüglich der Art des Kopfschmerzes besteht ein wesentliches Ziel des Kopfschmerzkalenders, dem Patienten bewusst werden zu lassen, welche individuellen Stressfaktoren bei ihm zu Kopfschmerzen führen können. Dies ist ein erster Schritt zur Stressbewältigung.
Die häufigsten BelastungsfaktorenKopfschmerzenBelastungsfaktoren für Kinder und Jugendliche im Schulalter betreffen die Situation im Schulalltag wie z. B.:
-
•
Hohe Klassenfrequenz
-
•
Reizüberflutung (Lärm)
-
•
Zu kurze Erholungsphasen mit geringem motorischem Ausgleich
-
•
Starker Leistungsdruck
-
•
Versagenserlebnisse
-
•
Ungelöste Konflikte
-
•
Gewalterfahrung einschließlich Mobbing
Andere Belastungsfaktoren können eine schwierige Familiensituation betreffen wie Arbeitslosigkeit, Alkohol, Gewalt in der Familie, psychische Erkrankung eines Elternteils. Auch unregelmäßige Mahlzeiten, Fasten, mangelnde Flüssigkeitsaufnahme, mangelnder Schlaf, körperliche Anstrengung, Analgetikamissbrauch sowie Menstruation sind potenzielle Auslöser von Kopfschmerzen.
Bei Jugendlichen können mangelnder Schlaf, durchgefeierte Nächte mit einem geänderten Schlaf-Wach-Rhythmus, Alkohol („binge drinking“), starker Nikotinkonsum, illegale Drogen (Kap. 9.3), Mediensucht etc. zu Kopfschmerzen führen. Daran sollte man insbesondere denken, wenn sich Jugendliche immer wieder am Montag in der Praxis vorstellen und um eine Schulentschuldigung oder Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nachsuchen.
10 % der Kopfschmerzpatienten berichten, auf ganz bestimmte Lebensmittel empfindlich zu reagieren.
Jeder Mensch hat seinen individuellen Stress, der bei ihm Kopfschmerzen auslösen kann.
Bei jedem Kind und jedem Jugendlichen mit Kopfschmerzen muss eine vollständige internistische Untersuchung zum Ausschluss einer organischen Erkrankung durchgeführt werden und eine neurologische Untersuchung zum Ausschluss eines zerebralen Prozesses.
Kinder mit normalem neurologischen Befund und ohne weiteres Risiko benötigen kein EEG und kein MRT.
Risikofaktoren, die eine Indikation für EEG/MRT darstellen:
-
•
Migräne mit AuraKopfschmerzenWarnsignale
-
•
Neurologischer, vor allem seitendifferenter Befund
-
•
Nächtlicher Kopfschmerz mit Erbrechen
-
•
Änderung der Kopfschmerzsymptomatik
-
•
Familiäre Vorgeschichte für intrazerebrale Blutungen und Hirntumoren
-
•
Fehlendes Ansprechen auf Schmerztherapie
-
•
Untypischer Kopfschmerz (Hinterkopf, Seitenwechsel bei Migräne)
-
•
Krampfanfälle
-
•
Kinder unter 3 Jahren
Vorsicht.
Kopfschmerzen die neu auftreten, heftig und bislang nicht gekannt sind, die andauern, evtl. lageabhängig sind, mit nächtlichem Erbrechen mit und ohne neurologische und emotionale Zeichen: dringender Verdacht auf erhöhten Hirndruck → sofort handeln, Einweisung in Klinik.
6.8.5. Beratung und Behandlung
Die allgemeine Beratung gilt für alle primären KopfschmerzenBehandlungKopfschmerzarten.
Ausführliche Aufklärung von Kind/Jugendlichem und Eltern:
-
•
Über die Art der Kopfschmerzen und über ihre grundsätzliche Ungefährlichkeit
-
•
Über die Bedeutung der individuellen Auslöser (Stressfaktoren), die sich aus dem Führen des Kopfschmerztagebuches ableiten (alleine das Führen des Kopfschmerztagebuches zeigt oft schon einen therapeutischen Effekt)
Allgemeine Vorschläge zur Vermeidung der Kopfschmerzen (sowohl Migräne als auch Spannungskopfschmerz)KopfschmerzenPräventionsempfehlungen:
-
•
Regelmäßiger und ausreichender Schlaf, regelmäßige Mahlzeiten, ausreichende Flüssigkeitszufuhr, Freizeitaktivitäten aufnehmen (Sportverein!)
-
•
Übermäßigen Medienkonsum einschränken (Kap. 9.4)
-
•
Eltern ermuntern, mit den Kindern/Jugendlichen über ihre Probleme zu sprechen
-
•
Bei Schulstress mit Schule/Klassenlehrer/Freunden sprechen und für Entlastung sorgen
-
•
Zum Schulbesuch auch bei Kopfschmerzen ermuntern (außer bei Migräneattacke), damit Kopfschmerzen nicht zu schulvermeidendem Verhalten führen („negative Verstärkung“)
-
•
Kinder und Jugendliche mit Spannungskopfschmerzen auftragen, sich von ihrem Schmerz durch angenehme Gedanken oder Aktivitäten abzulenken („schwarze Schmerz-Gedanken“ in „bunte schöne Gedanken“ umzuwandeln)
Nichtmedikamentöse Behandlungen:
Können von Psychotherapeuten und/oder psychologischen Einrichtungen eingeübt werden:
-
•
Entspannungsverfahren (z. B. progressive Muskelrelaxation nach Jacobson),
-
•
Biofeedback-Verfahren (z. B. EMG-Feedback)
-
•
Kindgerechte kognitiv-verhaltenstherapeutische Programme zur Stress- und Schmerzbewältigung
Medikamentöse Akuttherapie:
Grundsätzlich sollten Spannungskopfschmerzen nicht medikamentös behandelt werden.
Bei akuten starken Kopfschmerzen empfiehlt sich dasselbe Vorgehen wie bei einer Migräneattacke. Medikamentöse Therapie der Migräne:
-
1.
Bei Übelkeit:
-
–Domperidon 1 Tr./kg KG, max. 33 Tr. Einzeldosis
-
–Dimenhydrinat 40/70 mg Supp.
-
–
-
2.
Bei leichten Attacken:
-
–Ibuprofen 10 mg/kg KG (Mittel der 1. Wahl)
-
–Paracetamol 15 mg/kg KG (Mittel der 2. Wahl)
-
–
-
3.
Bei schweren Attacken: Sumatriptan Nasenspray 10–20 mg/ED als Nasenspray (> 12 J.)
Bei häufigen Migräne-Attacken (1-mal pro Woche oder mehr) und Schul-Fehlzeiten > 1-mal pro Monat und Versagen der nichtmedikamentösen Behandlungsansätze sollte eine medikamentöse Prophylaxe erwogen werden. Am besten untersucht im Kindes- und Jugendalter sind Flunarizin und Topiramat. Da beide Medikamente potenziell erhebliche Nebenwirkungen haben können, ist die Einholung einer Zweitmeinung z. B. in einer Kopfschmerz-Ambulanz angeraten.
Fallbeispiel.
Auflösung
Inzwischen hat Mara den Kopfschmerzkalender geführt und es zeigte sich, dass während der einen Woche Ferien die Kopfschmerzen nicht täglich auftraten und sie ihr milder vorkamen. Sie war beim Augenarzt, der eine Stauungspapille ausschloss, aber eine leichte Kurzsichtigkeit feststellte → Brillenverordnung.
In der erweiterten Anamnese erwies sich Mara als eher schüchtern und sensibel. Sie leidet unter dem Verlust der Freundschaften bedingt durch den Schulwechsel. Die schulischen Anforderungen und die schlechteren Noten belasten sie.
Eine ausführliche internistische und neurologische Untersuchung war unauffällig.
Bei Mara handelt es sich um einen Spannungskopfschmerz, bei besonderer Schmerzempfindlichkeit (Bauchschmerzen), getriggert durch schulische Belastungen.
Der von der Mutter vermutete Zusammenhang zu einem Jahre zurückliegenden Schädel-Hirn-Trauma 1. Grades ist nicht gegeben. Kopfschmerzen nach solchen Traumen verschwinden innerhalb von drei Monaten. Brechungsfehler werden häufig als Grund vermutet, sind aber eher nicht ursächlich.
Gegen Migräne sprechen derzeit die Kopfschmerzcharakteristika und v. a. das Fehlen von vegetativen Zeichen. Da der Vater unter Migräne leidet, ist nicht ausgeschlossen, dass Mara auch einmal Migränekopfschmerzen erfährt.
Mara sollte das Kopfschmerztagebuch weiterführen, um ihre Kopfschmerzauslöser zu erkennen. Ihr wurde geraten, einen Sport aufzunehmen, der ihr Freude macht. Ein weiterer Beratungstermin in der Praxis wurde verabredet.
Literatur und Internet
6.9. Schmerzen und/oder Funktionsstörungen im muskuloskelettalen System
Elke Jäger-Roman, Wolfram Singendonk
Fallbeispiel.
Paul, 5 Jahre alt, konnte heute Morgen nach dem Aufstehen das rechte Bein nicht belasten, er weinte und gab starke Schmerzen im Oberschenkel/Kniebereich an. Der Vater trug ihn auf dem Arm in die Praxis. Paul war am Tag zuvor noch kerngesund, er war nicht hin- oder heruntergefallen.
Bei der Untersuchung hatte er kein Fieber, keine Zeichen einer Allgemeinerkrankung. An Hüfte und Oberschenkel waren keine Hämatome oder Schwellungen zu erkennen. Die Bewegung des rechten Hüftgelenks war in Außen- und Innenrotation hochschmerzhaft eingeschränkt. Sonografisch zeigte sich ein Erguss im rechten Hüftgelenk (Abb. 6.11 ).
Abb. 6.11.

Sonografie der Hüftgelenke im ventralen Längsschnitt: Hüfte rechts mit deutlichem Erguss zwischen Schenkelhals und Kapsel
[R300]
Eine halbe Stunde nach Gabe von Ibuprofen konnte Paul humpelnd laufen.
Fragen zum Fallbeispiel
-
•
Welche Hüftgelenkserkrankungen kommen differenzialdiagnostisch infrage?
-
•
Welchen Stellenwert hat die Ultraschalluntersuchung bei Erkrankungen der Gelenke?
-
•
Wann sind Laboruntersuchungen bei muskuloskelettalen Schmerzen angezeigt?
6.9.1. Stellenwert in der Grundversorgung
Schmerzen im muskuloskelettalen System, seiSchmerzenmuskuloskelettale es akut oderMuskuloskelettale Schmerzen chronisch, werden von Kindern Jugendlichen und deren Eltern als Alarmzeichen empfunden, und führen (oft) zu einer Vorstellung beim Kinder- und Jugendarzt.
In jedem Lebensalter sind Traumata die häufigste Ursache dieser Schmerzen. 5 % aller akuten Vorstellungen in der Praxis betreffen Jugendliche nach einem Unfall, meist im Zusammenhang mit ihren sportlichen Aktivitäten. Viele Kinder leiden in bestimmten Lebensphasen unter sog. Wachstumsschmerzen (benigne nächtliche Beinschmerzen), diese sind aber meist nicht der Hauptvorstellungsanlass in der Praxis.
Da Kleinkinder den Ort ihrer Schmerzen in der Regel nicht angeben können, sind Schmerzen eher aus ihrem Verhalten ablesbar, z. B. durch Schonhaltung und Ausgleichbewegung (Hinken, Humpeln) einer Extremität.
Der Kinder- und Jugendarzt hat zu entscheiden: Kann ich das Problem nach umfassender Anamnese und Untersuchung lösen; welche diagnostischen Schritte müssen eingeleitet werden; welche fachärztliche Kompetenz (internistische, neurologische, orthopädische) muss ich hinzuziehen?
Die Aufgabe in der Grundversorgung ist es, eine dem Problem angepasste Diagnostik zu veranlassen, einen abwendbar schweren Verlauf rechtzeitig zu erkennen und das Problem des Kindes/Jugendlichen angemessen zu kommunizieren.
6.9.2. Das muskuloskelettale System
Kaum ein menschliches Organ-System ist bei Störungen so eng verknüpft mit Wachstum und damit auch dem Alter des Kindes und Jugendlichen wie das muskuloskelettale System. Jedes seiner Bestandteile, das sind das knöcherne Skelett, der Bandapparat, die Gelenke mit knorpeligen und bindegewebigen Binnenstrukturen, die Muskulatur mit Sehnen und ihren Ansätzen, können bei Störungen und Erkrankungen einzeln oder gemeinsam betroffen sein. Eine Erkrankung kann lokal auftreten (z. B. am Kniegelenk) oder ein ganzes System betreffen (z. B. mehr als vier Gelenke bei der juvenilen idiopathischen Polyarthritis).
Die Ursache der meisten schmerzhaften Störungen sind vorübergehender Natur (z. B. Prellungen), harmlos („Wachstumsschmerzen“) oder heilbar (z. B. Frakturen). Sehr wenige, seltene Erkrankungen sind hochakut, potenziell chronisch verlaufend (juvenile idiopathische Arthritis) oder gar lebensbedrohlich (z. B. Osteomyelitiden, maligne Systemerkrankungen und Knochentumoren).
6.9.3. Klinisches Erscheinungsbild
Beispielhaft werden die klinischen Erscheinungsbilder der häufigsten Vorstellungsgründe beschrieben.
Schädelprellung
SäuglingeSchädelprellung und junge Kleinkinder werden nach Sturz vom Wickeltisch, elterlichem Bett, Sofa oder nach Fall aus der Tragetasche vorgestellt. Bei Störungen des Bewusstseins wird in der Regel der Notarzt gerufen, das Kind in der Kinderklinik vorgestellt und stationär beobachtet. Hat das Kind zwar geschrien, war aber nicht bewusstlos und hat sich anschließend wieder normal verhalten, stellen die Eltern das Kind in der Praxis vor. Meist findet sich eine Prellmarke unterschiedlicher Lokalisation und Größe am Schädel. Nach Hergang des Unfalls, bisherigem Verhalten des Säuglings, gründlicher körperlicher Untersuchung und Aufklärung der Eltern über Hirndrucksymptome wird in der Regel eine häusliche Beobachtung adäquat sein.
Pseudolähmung
Ein häufiger Vorstellungsgrund sind Kinder im Alter von 1–4 Jahren, bei denen es zu einer PseudolähmungPseudolähmung durch einen plötzlichen Zug an einer oberen Extremität gekommen ist (M. Chassaignac). Der Arm wird leicht gebeugt im Ellbogengelenk und Pronation des Unterarmes gehalten. Das Kind kann nicht zugreifen, zeigt aber bei Ruhighaltung des Armes keine Schmerzen. Die Vorstellung erfolgt in der Regel zeitnah.
Frakturen
Wesentliches Symptom bei FrakturenFrakturen einer oberen Extremität ist die Schonhaltung mit Beugung im Ellbogengelenk und gestützt durch den nicht betroffenen Arm. Häufig ist die Region der Fraktur geschwollen. Durch Anamnese des Unfallhergangs und vorsichtige Palpation, beginnend bei der Clavicula (häufigste geburtstraumatische Fraktur) und weiter nach distal bis zum Handgelenk lässt sich die Fraktur meist lokalisieren. Auch werden Kleinkinder vorgestellt, bei denen Eltern die Schonung einer oberen Extremität (Vermeiden von Abstützen mit der Extremität) schon seit einigen Tagen beobachtet haben. Ursache kann eine Stauchungsfraktur des distalen Radius sein.
Frakturen der unteren Extremität werden selten primär in der kinder- und jugendärztlichen Praxis vorgestellt. Da die Kinder oder Jugendlichen die betroffene Extremität in der Regel nicht mehr belasten können, werden sie in der Notfallambulanz eines Krankenhauses vorgestellt. Ausgenommen sind Säuglinge mit schmerzhafter Bewegungseinschränkung und/oder Schwellung einer betroffenen Extremität und Kleinkinder mit Spiralfraktur, die wegen einer Gangstörung vorgestellt werden.
Vorsicht.
Kindesmisshandlung
Folgende FrakturenFrakturenund Kindesmisshandlung sind höchstwahrscheinlich nicht akzidentell und sollten an Kindesmisshandlung denken lassen (DD: Osteogenesis imperfecta):
-
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Frakturen der langen Röhrenknochen im Säuglingsalter
-
•
Schädelfraktur
-
•
Rippenfrakturen
-
•
Multiple Frakturen ohne klare Ätiologie
-
•
Frakturen in unterschiedlichen Heilungsphasen
Hinken/Humpeln
Normal Hinken Humpeln Ganganalyseist ein harmonischer, symmetrischer Gang. Hochakut werden junge Kinder vorgestellt, wenn sie morgens jegliche Belastung der Beine wegen Schmerzen verweigern. Sie sind fieberfrei, im Liegen wird das Bein in leichter Beugung in Hüft- und Kniegelenk außenrotiert aufgelegt. Bei der Untersuchung ist insbesondere die Innenrotation im Hüftgelenk schmerzhaft eingeschränkt (Coxitis fugax).
Nicht selten werden junge Kinder vorgestellt, bei denen Eltern morgens oder im Tagesverlauf nach Belastung zeitweise oder dauerhafte Veränderungen des Gangbilds bemerken. Dieses wird als Hinken oder Humpeln beschrieben, ausgelöst durch die kürzere Belastungsphase des betroffenen Beines. Bei entkleidetem Kind lassen sich durch eine Ganganalyse die Etage und die betroffene Seite der Störung, d. h. Becken, Hüfte, Knie, Sprunggelenk oder Fuß, abschätzen.
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Ist die Hüfte betroffen, läuft das Kind mit gebeugter Hüfte und Kniegelenk auf dem Vorfuß.
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Ist das Knie oder Sprunggelenk betroffen, fehlt die Kniestreckung, und der Fuß wird außenrotiert aufgesetzt.
Dazu können Asymmetrien der Konturen der unteren Extremitäten beobachtet werden, z. B. Schwellung im Bereich der Gelenke und Muskelatrophie proximal des betroffenen Gelenks (z. B. bei juveniler idiopathischer Arthritis).
Jugendliche können den Ort der Beschwerden gut lokalisieren und Auskunft geben, wann die Schmerzen auftreten, z. B. Knieschmerzen nach körperlicher Belastung, beim Treppensteigen oder Sport. In diesem Fall sieht man häufig eine teigige Schwellung, selten auch Rötung im Bereich der Tuberositas tibiae (M. Osgood-Schlatter). Auch der belastungs-abhängige Fersenschmerz ist ein relativ häufiger Vorstellungsgrund von sportlich aktiven Schulkindern: Der Fuß wird beim Gehen nicht über die Ferse abgerollt, sondern zuerst mit dem Vorfuß aufgesetzt (Ballengang z. B. bei Apophysitis calcanei).
Akutes Fieber und Schmerzen am muskuloskelettalen System
Bei Kindern, die im Rahmen eines fieberhaften Infekts die Beine schmerzbedingt nicht mehr belasten, können Hautbefund (Petechien) und periartikuläre Ödeme hinweisend sein (M. Schönlein-Henoch) oder die schmerzhafte Palpation der Unterschenkelmuskulatur (akute Myositis).
Merke.
Bei jedem Kind mit akutem Fieber, lokaler Schwellung, Rötung, Schmerzhaftigkeit im Bereich des Skelettsystems muss so lange eine septische Arthritis oder hämatogene Osteomyelitis angenommen werden, bis das Gegenteil bewiesen ist. Diese Kinder sehen in der Regel krank aus („septisch“).
6.9.4. Diagnosen und Differenzialdiagnosen
Bezogen auf den Ort der Schmerzen, zeigt sich folgende Rangfolge bei der Vorstellungshäufigkeit:
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Schmerzen am Knie- oder auch an anderen Gelenken
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Weichteil(Muskel)-Schmerzen
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Schmerzen im Bereich der Fersen
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Schmerzen im Bereich der Hüfte
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Schmerzen im Bereich des Rückens
Das Alter des Kindes spielt bei allen differenzial-diagnostischen Überlegungen eine herausragende Rolle.
Viele Erkrankungen des muskuloskelettalen Systems treten nur in bestimmten Altersperioden auf.
Anamnese
Zu den wesentlichen allgemeinen anamnestischen Fragen gehören:
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Dauer des Schmerzes:
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–Akut
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–Rezidivierend mit schmerzfreiem Intervall
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–Bereits länger bestehend
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–
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Ort des Schmerzes:
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–Gelenk(e)
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–Muskulatur
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–Sehnenansätze
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–Knochen
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–
-
•
Begleitende Allgemeinsymptome:
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–Fieber, Abgeschlagenheit
-
–Hautausschlag
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–Vergrößerung lymphatischer Organe
-
–Durchfälle u. v. m.
-
–
Bei Gelenkschmerzen kann bereits im Vorfeld geklärt werden, ob es sich um einen entzündlichen oder mechanischen Schmerz handelt (Tab. 6.27 ).
Tab. 6.27.
Anamnestische Fragen zur Abgrenzung von Entzündungs- und mechanischen GelenkschmerzenGelenkschmerzenAnamnese
| Entzündungsschmerz | Mechanischer Schmerz | |
|---|---|---|
| Morgenschmerz/-steifigkeit | ++ | - |
| Anlaufschmerz | + | - |
| Tägliche Schmerzen | ++ | (+) |
| Gelenkschonhaltung | + | - |
| Belastungsschmerz | + | ++ |
| Dauerschmerz | (+) | - |
| Nächtlicher Schmerz (Cave: Tumorschmerz!) |
(+) | - |
Untersuchung des Bewegungsapparates
Bei einem akuten, lokalisierten „mechanischen“ Schmerz folgt eine lokale Untersuchung der Schmerzregion.
Bei allen Schmerzen vom Entzündungstyp oder unklaren Schmerzen beginnt die Befunderhebung mit einer internistischen Allgemeinuntersuchung. Es folgt die Untersuchung des gesamten Bewegungsapparats, auch wenn nur ein Kniegelenk schmerzt und geschwollen ist („ein Gelenk ist oft nicht allein“).
Der Bewegungsapparat wird in anatomischer Normalstellung bei aufrechtem Stand untersucht:
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Von vorne
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–Proportionen
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–Symmetrie
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–Beinstellung
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–Muskelatrophien
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–Lokale Konturen
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–
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Von der Seite: Körperhaltung
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•
Von hinten
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–Form der Wirbelsäule (beim Vorneigen: Rippenbuckel, Lendenwulst)
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–Stand der Beckenkämme
-
–
Es folgt eine Ganganalyse, um Asymmetrien und Koordinationsprobleme zu erkennen.
Bei Verdacht auf eine rheumatische Erkrankung werden alle Gelenke untersucht mit
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•
Bestimmung des Bewegungsausmaßes (im Seitenvergleich!) und
-
•
Palpation zur
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–Schmerzlokalisation (Punctum maximum)
-
–Empfindlichkeit (z. B. bei rheumatischen Geschehen eher mäßig; bei Osteomyelitis stark)
-
–Wärme (als Zeichen der Entzündung)
-
–Rötung (immer ein Zeichen der Entzündung – meist bakterieller Natur; kaum je bei rheumatischem Gelenk)
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–Schwellung (teigige Synoviaschwellung oder ödematöses Gewebe)
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–Gelenkerguss (ballotierend)
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–Gelenkmobilität und Bandlaxität werden am Ausmaß der Mobilität der Ellbogen-, Knie- und Sprunggelenke und anhand des Daumen-Unterarmabstandes und der Extension der Finger gegen den Unterarm geprüft. Das Führen eines Tagebuchs über stattgehabte körperliche Aktivität (z. B. bei jungen Kindern Hüpfen und Toben auf den Betten; bei älteren Kindern sportliche Aktivitäten) kann den zeitlichen Zusammenhang der Schmerzen zu bestimmten Aktivitäten klären helfen.
-
–
Merke.
7 % der Bevölkerung haben eine Gelenk-Hypermobilität. Bei belastungsabhängigen Knie- und Sprunggelenksschmerzen ist diese oft der einzige Befund einer Normabweichung.
Nach Anamnese und klinischer Untersuchung wird in der Regel geklärt sein, welcher Krankheitsgruppe der Schmerz zuzuordnen ist:
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•
Einem lokalen Prozess aufgrund eines Unfalls oder einer Kindesmisshandlung
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–Prellung
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–Distorsion
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–Fraktur
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–
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Einem mechanischen Problem durch strukturelle Veränderung am Gelenk
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–Intraarticulär: Meniskus-/Kreuzbandläsionen; Osteochondritis dissecans; Scheibenmeniskus etc.
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–Periarticulär: M. Osgood-Schlatter, „Jumpers knee“, peripatelläres Schmerzsyndrom etc.
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–Enthesopathie: Achillodynie
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–
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Einem bakteriellen oder autoimmunen Entzündungsprozess am Gelenk oder Knochen
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–Akute hämatogene Osteomyelitis
-
–Akute oder chronische Arthritis: reaktive Arthritis, Lyme-Arthritis, juvenile idiopathische Oligo- oder Polyarthritis
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–
-
•
Einer Allgemeinerkrankung mit Gelenkbeteiligung, z. B. virale Infekte, Schönlein-Henoch-Purpura, familiäres Mittelmeerfieber, Hämophilie, Sichelzellkrise, akutes rheumatisches Fieber, chronisch entzündliche Darmkrankheit
-
•
Einem benignen oder malignen Tumorgeschehen mit Knochenschmerzen
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–Osteoidosteom
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–Non-Hodgkin-Lymphome
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–Leukämie
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–Osteosarkom
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–Ewing-Sarkom
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–
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•
Unbekannte Ursache wie benigne nächtliche Beinschmerzen („Wachstumsschmerzen“)
Benigne nächtliche Beinschmerzen: „WachstumsschmerzenWachstumsschmerzen“ versus maligne ErkrankungenBeinschmerzen, benigne.
Fast alle Eltern haben schon von nächtlichen „Wachstumsschmerzen“ gehört oder sie kennen diese aus ihrer Kindheit, weshalb Kinder erst nach einigen Episoden in der Praxis vorgestellt werden. 15 bis 30 % aller Kinder kennen diese Schmerzen.
Charakteristika von „Wachstumsschmerzen“
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Gesunde junge Kinder von (3) 4–9 (10) Jahren
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Akute, intensive nächtliche Beinschmerzen
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Dauer 10–60 Minuten
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Beide Beine wechselnd betroffen
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Sporadisch/rezidivierend auftretend (2-mal/Woche bis 1-mal/Monat)
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Völlige Schmerzfreiheit am folgenden Morgen
Sollten die genannten Charakteristika von Wachstumsschmerzen in einem oder mehreren Items nicht zutreffen, müssen andere Ursachen der nächtlichen Beinschmerzen abgeklärt werden.
Merke.
Nicht alle nächtlichen Beinschmerzen sind sog. Wachstumsschmerzen.
Insbesondere die (seltenen) malignen Knochentumoren im Jugendalter (Osteosarkom und Ewing-Sarkom) haben bei verspäteter Diagnose und Behandlung eine deutlich schlechtere Prognose.
Schmerzen nach Häufigkeit und Lokalisation
Knieschmerzen
Sportlich aktive Jugendliche stellen sich häufig besorgt mit KnieschmerzenKnieschmerzen vor. Besorgt, weil sie bereits ahnen, dass sie mit ihrer Lieblingsbeschäftigung vielleicht pausieren müssen. Ursächlich kommen repetitive Belastungen der Sehnenansätze und peri- und intraartikuläre Traumen infrage, aber auch für Arthritiden ist das Kniegelenk ein bevorzugtes Gelenk (Tab. 6.28 ).
Tab. 6.28.
Knieschmerzen
| Ursache | Erkrankung |
|---|---|
| Chronische Überlastung∗ (repetitiver Stress) |
|
| Trauma | Bandläsion, Meniskusläsion, Fraktur |
| Diverses | Baker-Zyste, Osteochondrosis dissecans, Scheibenmeniscus |
| Gelenkentzündung |
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| Cave: Tumor | Osteosarkom (am häufigsten in der Knieregion lokalisiert: distale Femur-, proximale Tibiametaphyse) |
Die Palpation ist für diese Erkrankungen die hilfreichste Untersuchungsmethode
Gelenkschmerzen
GelenkschmerzenGelenkschmerzen eines oder mehrerer Gelenke, die länger als sechs Wochen bestehen, mit Morgensteifigkeit einhergehen und bei Belastung eher abnehmen, sprechen für einen rheumatischen Prozess.
Muskelschmerzen
MuskelschmerzenMuskelschmerzen werden überwiegend durch Verletzungen und entzündliche Erkrankungen ausgelöst. Selten sind genetisch bedingte Störungen des Muskels selbst, Stoffwechselstörungen, endokrine Störungen (z. B. Vit-D-Mangel), autoimmune und autoinflammatorische Erkrankungen und Schmerzverstärkungssyndrome (psychosomatische Störungen).
Kleinkinder werden nicht wegen Muskelschmerzen vorgestellt, sondern Eltern bemerken eine zunehmende Schwäche oder Veränderungen im Gangbild oder Verlust von motorischen Fähigkeiten.
Muskelkater Schulkinder und Jugendliche stellen sich durchaus mit akuten Schmerzen in bestimmten Muskelgruppen nach ungewohnten körperlichen Belastungen vor. Meist treten diese erst nach einem Zeitintervall von 12–24 Stunden auf, weshalb sie nicht auf die vorangegangenen Aktivitäten bezogen, d. h. nicht als MuskelkaterMuskelkater erkannt werden und den Patienten verunsichern. Muskelkater des M. rectus abdominis wird in der Regel als Bauchschmerzen vorgestellt.
Muskelverletzungen Sportlich aktive Jugendliche berichten sehr genau, bei welcher Aktivität und in welcher Region ein plötzlicher heftiger Schmerz in der Muskulatur aufgetreten ist, dennoch: Muskelfaserrisse sind eher selten, meist handelt es sich um Muskelzerrungen oder Quetschungen.
Epidemische Myositis (benigne akute Myositis des Kindesalters) Neben den Myalgien bei akuten Infektionskrankheiten kann eine akute MyositisMyositis, akute so heftige Schmerzen auslösen, dass die Patienten die Belastung der betroffenen Muskelgruppe verweigern und bei der Palpation über einen starken Druckschmerz (z. B. Wadenmuskulatur) klagen. Häufigste Erreger sind Enteroviren (z. B. Coxsackie-B-Viren, Bornholmsche Erkrankung) aber auch Influenza- und Adeno-Viren.
Aus der Anamnese (akutes Auftreten der Schmerzen, einhergehend mit entsprechenden Allgemeinsymptomen) und dem internistischen und neurologischen Untersuchungsbefund einschließlich der Untersuchung des muskuloskelettalen Systems lässt sich die Diagnose benigne akute Myositis bereits vermuten. Eine laborchemische Untersuchung (Entzündungsparameter, Leukozyten, Thrombozyten, CK, CK-MB und Troponin) stützt die Diagnose.
Viele Autoimmunerkrankungen können mit einer Myositis einhergehen, ein bekanntes Beispiel ist die Dermatomyositis. Bei Verdacht auf eine Autoimmunmyositis sollte der Patient an eine Spezialabteilung weitergeleitet werden.
Sehnenansatzschmerzen
Syn. EnthesiopathieEnthesiopathie Sehnenansatzschmerzen, InsertionstendopathieInsertionstendopathie. Schmerzzustände durch Reizung der Sehnenansätze am Übergang von der Sehne zum Knochen.
Diagnostik: palpatorisch (Punctum maximum)
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M. Osgood-SchlatterM. Osgood-Schlatter (aseptische Knochennekrose durch repetitiven Zug der distalen Patellasehne an der knorpeligen Apophyse der Tuberositas tibiae bei Jugendlichen)
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PatellaspitzensyndromPatellaspitzensyndrom M. Sinding-LarsenM. Sinding-Larsen (aseptische Knochennekrose im Bereich der proximalen Patellaspitze bei Jugendlichen)
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Achillodynie, „Fersenschmerz“ (Insertionstendinose der Achillessehne)
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Gracilissyndrom (Adduktorensyndrom, „Fußballerleiste“)
-
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Styloiditis radii und Styloiditis ulnae
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•
Epicondylitis lateralis humeri („Tennisellenbogen“)
DD: Beim Fibromyalgie-Syndrom werden diagnostisch die schmerzhaften Übergänge vom Muskel zur Sehne an 18 definierten Druckpunkten (= „tender points“) palpatorisch untersucht.
Hüftschmerzen
Merke.
Bei HüftgelenkserkrankungenHüftschmerzen wird der Schmerz oft auf das Kniegelenk projiziert. Die meisten akuten Erkrankungen des Hüftgelenks sind dringend behandlungsbedürftig.
„Klagt ein Kind über Schmerzen im Knie, vergiss die Untersuchung der Hüfte nie“ (Tab. 6.29 )
Tab. 6.29.
Erkrankungen der Hüftgelenke
| Erkrankung | Alter |
|---|---|
| Relativ häufig | Alter des Kindes |
| Coxitis fugax (transiente Coxitis) | (1) 5–6 (12) Jahre |
| Selten | Alter des Kindes |
| Neurogene (CP) Hüftluxation | Abhängig von der Schwere der Tetraparese |
| M. Perthes | 3–5 Jahre; ♂ : ♀ = 4 : 1 |
| Epiphysiolysis capitis femoris | Bezogen auf das Knochenalter: ♀: 11–15 Jahre; ♂: 13–17 Jahre |
| Gelenknahe Osteomyelitis Septische Arthritis |
1–2 (bis 5) Jahre |
Coxitis fugax Coxitis fugax („Hüftschnupfen“): unklare Genese, vermutet wird ein Zusammenhang mit banalen viralen Infekten. Der akute Gelenkerguss (sonografisch darzustellen) erzeugt Schmerzen, die zu Hinken bis zur Gehunfähigkeit führen können. Unbehandelt nimmt die Schmerzsymptomatik innerhalb einer Woche kontinuierlich ab, Ibuprofen unterstützt die rasche Besserung der Schmerzsymptomatik.
Rückenschmerzen
Merke.
RückenschmerzenRückenschmerzen sind bei jungen Kindern selten und sollten immer an eine organische Ursache denken lassen.
20 bis 30 % aller Jugendlichen kennen Rückenschmerzen. Sie stellen sich aber damit selten vor, weil sie diese als harmlos einschätzen. Die häufigste fassbare Ursache sind Myegelosen nach ungewohnter körperlicher Betätigung. Diese sind paravertebral als Wulst sichtbar und palpabel und sprechen gut auf Wärmebehandlung und Rückengymnastik an. Für die Hälfte der von Jugendlichen geklagten Rückenschmerzen findet sich kein organisches Korrelat (idiopathische Rückenschmerzen).
Skoliosen bereiten keine Schmerzen, dagegen kann der M. Scheuermann mit sehr starken Schmerzen einhergehen.
Indikationen für eine weitergehende Diagnostik mit Laboruntersuchung (z. B. bei Entzündungszeichen) und bildgebenden Untersuchungen (Röntgen, MRT):
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Insbesondere Kinder
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Starke Schmerzen
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Dauer der Schmerzen > 4 Wochen oder zunehmende Schmerzen
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Beeinträchtigung der Funktion der Wirbelsäule
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Neurologische Symptome (z. B. Stuhl- und Harnentleerungsstörung; Fußheberschwäche)
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Begleitende Allgemeinsymptome (z. B. rotes Auge; blutige Stühle, Gelenkschmerzen)
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Schonhaltung der Wirbelsäule
Wann sollten bildgebende Verfahren (Ultraschall, Rö, MRT, CT) eingesetzt werden?
Bei Erkrankungen des muskuloskelettalen Systems kann die Ultraschalluntersuchung sehr hilfreich sein im Hinblick auf differenzialdiagnostische Überlegungen, die Indikation zur weitergehenden bildgebenden Diagnostik und zur Vermeidung strahlenbelastender Untersuchungen.
Häufigste Indikation für die Sonografie sind Erkrankungen der Hüftgelenke, z. B. bei Verdacht einer Coxitis fugax, sowohl zur Erstdiagnostik und als auch zum Verlauf (DD: M. Perthes). Am Kniegelenk ist die Baker-Zyste sicher darstellbar. Bei Schwellungen im Bereich der Gelenke lassen sich extra- oder intraartikuläre Lokalisationen der Schwellung eindeutig differenzieren. Frakturen und Veränderungen an den Knochenoberflächen sind gut darstellbar, bedürfen aber zur Differenzierung in der Regel weiterer Bildgebung. Bei entsprechender Expertise sind Verletzungen der Muskulatur gut zu erkennen (z. B. Einblutung des M. sternocleidomastoideus beim Neugeborenen).
6.9.5. Beratung und Therapie
Viele Schmerzen im Bereich des muskuloskelettalen Systems beruhen auf harmlosen UrsachenMuskuloskelettale SchmerzenBehandlung, die sich spontan bessern, dazu gehören z. B. die benignen nächtlichen Beinschmerzen, Prellungen, Muskelkater, Coxitis fugax, akute Myositis und belastungsabhängige Gelenkschmerzen bei Gelenk-Hypermobilität. Die jeweiligen Schmerzen können symptomatisch gelindert werden z. B. durch vorübergehende Schonung der schmerzhaften Körperregion und/oder Gabe von schmerzstillenden Medikamenten (Ibuprofen, Paracetamol). Eine gute Beratung von Eltern und Patienten ist ausreichend und zielführend.
Nach dem Prinzip der partizipativen Entscheidungsfindung sind besonders sportlich aktive Jugendliche mit länger anhaltenden belastungsabhängigen Beschwerden zu beraten bei Diagnosen mit guter Prognose wie z. B. M. Osgood-Schlatter und den vielfältigen Insertions-Tendopathien. Behandlungsvorschläge für diese Probleme sollten grundsätzlich konservativ sein, dies insbesondere im Hinblick auf überflüssige Diagnostik, nicht indizierte Therapien (Steroidinjektionen) und strikte Sportverbote etc. Bei akuten Schmerzen können Eisbehandlungen, antiphlogistische Salbeneinreibungen und vorübergehende Ruhigstellung Linderung verschaffen. Manchmal ist ein Wechsel auf eine andere Sportart angeraten. Kniebandagen oder Fersen-Schockabsorber können unterstützend wirken. Auch können Sportlehrer oder Trainer um ein dosiertes Aufbautraining der zur Sehnenreizung zugehörigen Muskelgruppen gebeten werden.
Frakturen werden von Kinderchirurgen oder Kinderorthopäden primär versorgt. Diese beraten über die Dauer der Ruhigstellung und das Verhalten nach Entfernen der Schienen oder des zirkulären Gipsverbands. Aufgabe in der Grundversorgung kann u. U. die Verordnung von Physiotherapie zur Bewegungs- und Gangschulung sein.
Eine geschlossene, nicht dislozierte Klavikula-Fraktur (Schaftfraktur mittleres Drittel) kann in der Kinder- und Jugendarztpraxis durch einen Rucksackverband oder eine Armtragschlinge versorgt werden. Der Rucksackverband muss regelmäßig kontrolliert und nachgespannt werden.
Bei Erkrankungen mit akuten Schmerzen und Gangstörung wie z. B. bei der Coxitis fugax und der benignen akuten Myositis des Kindesalters sind Eltern zutiefst beunruhigt. Nach Sicherung der Diagnose werden die Eltern über das Krankheitsbild, den Verlauf und v. a. die gute Prognose aufgeklärt. Bei Bedarf kann eine Schmerztherapie empfohlen werden. Ist das Kind mit Coxitis fugax fieberfrei und in gutem Allgemeinzustand, erübrigt sich eine Labordiagnostik (Entzündungsparameter). Die Verlaufskontrolle erfolgt klinisch und sonografisch. Hat sich der Gelenkerguss nach drei Wochen sonografisch nicht vollständig zurückgebildet, sollte ein M. Perthes per MRT ausgeschlossen werden. Bei der akuten Myositis mit unkompliziertem Verlauf (Schmerzfreiheit innerhalb von 72 Stunden) ist eine klinische Kontrolle und eine Labor-Kontrolle nach 10–14 Tagen ausreichend. Bei nicht eindeutiger Diagnose sollte aufgrund des breiten Spektrums an Differenzialdiagnosen eine stationäre Abklärung erwogen werden.
Sehr selten ergibt sich der Verdacht auf eine schwerwiegende chronische (z. B. JIA) oder maligne Erkrankung (z. B. Leukämie, Osteosarkom). Das „Überbringen der schlechten Nachricht“ sollte in ruhiger Umgebung, ohne Unterbrechung durch z. B. Telefonate und in einem angemessenen Zeitrahmen stattfinden. Der Arzt muss mental und emotional gut vorbereitet sein. Es bedarf der Empathie für die Situation der Eltern und des Patienten. In angemessener Sprache soll über die Erkrankung und die Behandlungsmöglichkeiten aufgeklärt werden. Verschiedene Möglichkeiten (Einrichtungen) der weiteren spezialisierten Behandlung werden mit dem Patienten und seinen Eltern erörtert und ein optimaler Weg, angepasst an die Bedürfnisse des Patienten und der Familie, gesucht. Wichtig ist die Versicherung, dass der (grundversorgende) Arzt für das Kind/den Jugendlichen und die Eltern weiter für die kontinuierliche Grundbetreuung und bei Bedarf auch als Mittler zur tertiären Einrichtung und zur psychischen Unterstützung ansprechbar bleibt.
Fallbeispiel.
Auflösung
Die Ultraschalluntersuchung der Hüftgelenke zeigt rechts eine Verbreiterung des echoarmen Bereichs zwischen Schenkelhals und Kapsel (4–6 mm rechts zu 1,5 mm links). Es handelt sich also um eine Coxitis (fugax).
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•
Differenzialdiagnostisch kommt eine akute septische Arthritis nicht in Betracht, da Paul kein Fieber hat und in gutem Allgemeinzustand ist.
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Ein M. Perthes entwickelt sich langsam, die Schmerzen sind belastungsabhängig.
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Die Epiphysiolysis capitis femoris tritt nicht im Alter von fünf Jahren auf.
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Die juvenile idiopathische Arthritis manifestiert sich nicht zuerst am Hüftgelenk.
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Eine Laboruntersuchung mit Bestimmung der Entzündungszeichen erübrigt sich.
Literatur
- AWMF-Leitlinie: www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/025-032-S2k: Muskuloskelettale Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen: Algorithmus zur differenzialdiagnostischen Abklärung eines onkologischen Leitsymptoms.
- Hefti F. Springer-Verlag; 2014. Kinderorthopädie in der Praxis. eBook. [Google Scholar]
- Tallen G., Creutzig U. Handlungsempfehlungen zur Primärdiagnostik von muskuloskelettalen Schmerzen. Monatsschr Kinderheilkd. 2016;164:142–146. [Google Scholar]
6.10. Bauchschmerzen
6.10.1. Akute Bauchschmerzen
Fallbeispiel.
Ein siebenjähriger Junge klagt seit einem Tag über krampfartige BauchschmerzenBauchschmerzen im Mittelbauch. Seit dem Vortag Inappetenz mit noch ordentlichem Trinkverhalten, der Bauch ist leicht abwehrgespannt, im rechten Mittelbauch zeigt sich ein diskreter Druckschmerz. Aktuell erstmals 39,7 °C Fieber, Stuhlgang zuletzt geformt.
Fragen zum Fallbeispiel
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Ist eine abwartende Haltung gerechtfertigt?
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Welche unverzügliche Diagnostik fordert die geschilderte Situation?
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Welche therapeutischen Maßnahmen sind geeignet?
Stellenwert in der Grundversorgung
Bei Klein- und Grundschulkindern stehen Bauchschmerzen mit 69 % der Fälle an erster Stelle aller Schmerzzustände. (Bei Jugendlichen dominieren Kopf- und Regelschmerzen.) Bei Säuglingen wird allein die Prävalenz von Koliken mit > 20 % angegeben. Die Schwierigkeit besteht darin, Krankheitsbilder, die unmittelbar behandelt werden müssen, herauszufiltern.
Merke.
1 % der Fälle bedarf der chirurgischen Intervention. Leider sind Warnzeichen nicht immer fassbar, gerade wenn das Kind frühzeitig vorgestellt wird. Daher sind eine hohe Vigilanz des Untersuchers und eine gute Beratung der Eltern gefordert.
Pathophysiologie
Bauchschmerzen entstehen maßgeblich durch drei Mechanismen:
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Entzündung
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Dehnung
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Ischämie
Die Übertragung des viszeralen Schmerzes erfolgt über nicht myelinisierte, langsame C-Fasern des autonomen Nervensystems über sympathische und parasympathische Ganglien. Daher ist die Lokalisation viszeraler Schmerzen häufig diffus. Der somatische Schmerz wird meist durch das Peritoneum und anliegende Organe ausgelöst und daher konkreter wahrgenommen. Bestimmte Organe zeigen durch segmentale Repräsentation ihren Schmerz in assoziierten Dermatomen. Ischämiebedingte Schmerzen gehen oft mit vegetativen Symptomen einher, die als Warnzeichen dienen. Hier ist Eile geboten.
Klinisches Erscheinungsbild
Bei kleineren Kindern finden sich indirekte Schmerzzeichen wie Stöhnen, Unruhe, Jammern, Wimmern, Pressen, Schonhaltung mit angezogenen Beinen, Blässe oder halonierte Augen (Facies abdominalis). Die Schmerzangabe von älteren Kindern außerhalb der Nabelregion weist auf ein betroffenes Organ hin, wie auch ein lokalisierter Druckschmerz, Resistenzen, hochgestellt klingende oder plätschernde Darmgeräusche. Eine Abwehrspannung findet sich bei peritonitischer Reizung. Die rektale Untersuchung ist gerade bei der häufigen Differenzialdiagnose „akute Obstipation“ hilfreich. Sorgfältige Auskultation der Lunge (basale Pneumonie), Abklopfen der Wirbelsäule und Nieren dienen der Erfassung extraabdomineller Ursachen.
Diagnosen und Differenzialdiagnosen
Die Differenzialdiagnostik ist breit (Tab. 6.30 ), altersbezogen unterschiedlich und umfasst auch extragastrointestinale und funktionelle Krankheitsbilder.
Tab. 6.30.
Häufige altersbezogene Differenzialdiagnosen akuter BauchschmerzenBauchschmerzenakute
| Säuglinge | Kleinkinder | Schulkinder | Jugendliche |
|---|---|---|---|
| Regulationsstörungen („3-Monats-Koliken“) Kap. 5.5 |
Gastroenteritis | Gastroenteritis | Gastroenteritis |
| Gastroenteritis | Obstipation | Appendizitis | Appendizitis |
| Obstipation | Lymphadenitis mesenterialis | Obstipation | Obstipation |
| Harnwegsinfektion | Harnwegsinfektion | Funktionelle Bauchschmerzen | Funktionelle Bauchschmerzen |
| Virusinfekte | Trauma | Harnwegsinfekte | CED |
| Hernien | Virusinfekte | Lymphadenitis | Hodentorsion |
| Invagination | Purpura Schoenlein-Henoch | Pneumonie | Ovarialtorsion |
| Volvulus | Fehlbildungen | Purpura Schoenlein-Henoch | Dysmenorrhö |
| M. Hirschsprung | Appendizitis | CED | Eileiterschwangerschaft |
| Fehlbildungen | Abort |
Akutes Abdomen
Definition: PlötzlichAkutes Abdomen auftretender heftiger Bauchschmerz mit Bauchdeckenspannung
Leitsymptome bei Neugeborenen/Säuglingen:
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Schreien/Wimmern
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•
Aufgetriebenes, evtl. verfärbtes (gerötetes, livides, glasiges) Abdomen, Abwehrspannung
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•
Schmerzhafte abdominale Resistenz
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Schlechter AZ; körperlicher Verfall
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Blut- und Schleimabgang
-
•
Evtl. Fieber (Sepsiszeichen)
Leitsymptome bei älteren Kindern:
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Schmerz
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•
Verkrampfte Haltung
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•
Gespannte Bauchdecken (Abwehrspannung)
-
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Erbrechen
Maßnahmen:
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•
Neugeborene, Säuglinge: sofortige Klinikeinweisung (keine Zeit verlieren, Einweisung per NAW, Differenzialdiagnose der Klinik überlassen)
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•
Ältere Kinder: wenn vertretbar, Behandlungsversuch mit Klistier (z. B. akute Stuhlverhaltung, siehe Differenzialdiagnose unten); Klinikeinweisung
Vorsicht.
Akutes Abdomen – „Red Flags“
Sichtbar krankes Kind
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•
Peritonismus
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•
Ileuszeichen
-
•
Lokaler Druckschmerz
-
•
Evtl. blutige Stühle
-
•
Evtl. Schock
Akute funktionelle Bauchschmerzen
Der funktionelle BauchschmerzenfunktionelleBauchschmerz umfasst die sicher größte Gruppe der Kinder, die wegen „Bauchschmerzen“, „Nabelkoliken“ vorgestellt werden; ausführliche Darstellung (Kap. 8.3.3), rezidivierender funktioneller Bauchschmerz (Kap. 6.10.2).
Akute Obstipation
Symptome: BauchschmerzenObstipationakute, keine Infektzeichen, bei Schulkindern wird aus Schamgefühl eine auffällige Anamnese oft nicht zugegeben. Bei älteren Kinder können obstipative Bauchschmerzen plötzlich und hochakut auftreten, kommen in gebückter Stellung in die Praxis (Kap. 8.3.2)
Diagnostik: palpable Resistenzen im linken Unterbauch, Stuhlimpaktation bei der rektalen Untersuchung, Abdominalsonografie.
Therapie:
-
•
Erleichterung durch Klistier, z. B. 20 ml NaCl 0,9 % Spülung bei kleineren Kindern < 3 Jahren; ½–1 salinisches Klysma 130 ml bei Kindern > 3 Jahre; Glyzerin-Klysma
-
•
Stuhlregulation mit osmotisch wirksamen Laxantien (Macrogolpräparate 0,5–2 Btl. pro Tag; Lactulose bei jungen Säuglingen 2,5 ml pro Mahlzeit), endgültige Menge je nach Stuhlkonsistenz und -frequenz
Bei osmotisch wirksamen Laxantien besteht kein Gewöhnungseffekt, die Therapie muss in der Regel über einen längeren Zeitraum fortgesetzt werden.
Appendizitis
Symptome: AppendizitisSchmerzbeginn oft im Mittelbauch nach rechts unten wandernd, oft Erbrechen, meist kein hohes Fieber, zunehmender Druckschmerz (DS) oder peritonitische Zeichen (bei Kleinkindern selten, häufig atypische Symptomatik).
Diagnostik:
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•
Ist der Palpationsbefund eindeutig (hochgradiger lokalisierter DS im rechten Unterbauch), erfolgt die stationäre Einweisung.
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•
Bei nicht eindeutiger Klinik ist die Labordiagnostik mit milder CRP-Erhöhung und/oder moderater Leukozytose hinweisend, die Sonografie ist dann die zielführendere Untersuchung (Darstellung der verdickten Appendix Abb. 6.12 ).
Abb. 6.12.

Verdickte Appendix
[P292]
Therapie: Appendektomie.
Die gegenwärtig diskutierte Antibiotikatherapie einer „unkomplizierten“ Appendizitis birgt Gefahren. Die Entscheidung sollte dem Chirurgen überlassen bleiben.
Invagination
Symptome:
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•
Meist im 2. Säuglingshalbjahr (Peak): Akuter Bauchschmerz mit Erbrechen (50 %), später typisch das „wimmernde“ Kind, keine eigenständige Aktivität, Blässe, schmerzhafte Resistenz im rechten Unter-/Mittelbauch
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•
Mit Leitstruktur (Lymphknoten, abdominale Tumoren) in jedem Lebensalter möglich, gefürchtetes symptomarmes Intervall (Abb. 6.13 )
Abb. 6.13.

Kokarde bei ileocolischer Invagination
[P292]
Diagnostik: typischer Ultraschall mit Pseudokidneyzeichen oder Zielscheibe, himbeergeleeartiger Stuhl.
Therapie: stationäre Einweisung, in bis zu 95 % gelingt die hydrostatische Devagination. Bei verspäteter Diagnose drohen durch die verminderte Durchblutung Ödem und Nekrose mit der Notwendigkeit der operativen Resektion.
Eine verspätete Rota-Virus-Impfung (je nach Impfstoff nicht > 24 Wochen [Rotarix®] bzw. 32 Wochen [RotaTeq®]) ist mit einer erhöhten Invaginationsgefahr assoziiert und daher kontraindiziert.
Refluxösophagitis/Gastritis
Symptome: Gastritis Refluxösophagitisrezidivierender, auch nächtlicher Oberbauchschmerz, epigastrischer Druckschmerz, bei plötzlichem Beginn an Helicobacter pylori denken, anamnestisch Gabe von Steroiden, NSAID, Stress; auch Verbrühung oder Trauma beachten.
Diagnostik: beim Schulkind und Jugendlichen und typischer Klinik Behandlung mit Protonenpumpen-Inhibitor (PPI) auch ohne weitere Diagnostik zunächst für vier Wochen empfohlen. Bei Rezidiven (oder zusätzlicher Symptomatik wie Anorexie, Teerstühle, Gewichtsverlust) Ösophago-Gastro-Duodenoskopie (ÖGD) notwendig (Abb. 6.14 ).
Abb. 6.14.

GänsehautmukosaGänsehautmukosa bei H. pylori-Gastritis
[P292]
Therapie:
-
•
PPI für 4 Wochen (Dosierung in Tab. 6.31 ; bereits nach 1 Woche muss es hierbei zu einem weitgehenden Verschwinden der Symptomatik gekommen sein)
-
•
Ernährungsberatung (säureauslösende Speisen und Getränke meiden)
-
•
Gewichtsreduktion, optimierte Mischkost, Stressreduktion
Tab. 6.31.
Tripletherapie bei H. pylori-Infektion
| Medikament | Dosierung | Maximaldosierung |
|---|---|---|
| Amoxicillin (immer) | 50 mg/d in 2 ED | 2 × 1 g |
| PPI (immer) z. B. Omeprazol | < 30 kg 2 × 10 mg > 30 kg 2 × 20 mg |
2 × 20 mg |
| Clarithromycin | 20 mg/d in 2 ED | 2 × 500 mg |
| Metronidazol | 20 mg/d in 2 ED | 2 × 500 mg |
Merke.
Ein alleiniger Helicobacter-pyloriHelicobacter pylori-Nachweis (Stuhl; C13-Test) bei einer Refluxösophagitis ist keine Indikation für eine Eradikation. Nur bei gastroskopisch nachgewiesenem Ulkus bzw. gastroskopisch nachgewiesener Entzündung durch Helicobacter pylori erfolgt die Eradikation mittels Tripletherapie (Tab. 6.31).
Kontrolle durch C13-Atemtest oder Antigennachweis im Stuhl (beide gleich sensitiv 85–95 %).
Akute Bauchschmerzen – Fazit:
Die zu ergreifenden Maßnahmen hängen sehr von der klinischen Präsentation ab. Liegt kein akutes Abdomen vor, sind symptomatische Behandlung, Wärme, Massage, Zuwendung entscheidend. Wurde ein meldepflichtiger Erreger festgestellt, kann eine Wiederzulassung zu Gemeinschaftseinrichtungen nur nach den Maßgaben des IFSG erfolgen.
Fallbeispiel.
Auflösung
Aufgrund der Klinik mit Fieber, Abwehrspannung und lokalem Druckschmerz ist eine akut behandlungsbedürftige Erkrankung wahrscheinlich. In der Abdomensonografie (Abb. 6.15 ) kann eine große zystische Struktur im rechten Oberbauch nachgewiesen werden. Der Laborbefund zeigt ein CRP von 120 mg/l und eine Leukozytose von 18 GPT/l. Intraoperativ findet sich eine infizierte Omentum majusZyste.
Abb. 6.15.

Omentum majus-Zyste [P292]Omentum-majus-Zyste
6.10.2. Chronisch rezidivierende Bauchschmerzen
Fallbeispiel.
Ein zehnjähriges Mädchen stellt sich erstmalig vor: Seit zwei Jahren leidet sie unter gelegentlichen heftigen BauchschmerzenBauchschmerzenchronisch rezidivierende mit Erbrechen. Die Episoden dauern von wenigen Stunden bis zu drei Tagen, bei den mehrfachen stationären Aufenthalten in einer allgemeinpädiatrischen Abteilung erhielt sie bilanzierte Infusionen bis zur Normalisierung der Situation, Größe und Gewichtsperzentile im Bereich der unteren Norm. Der fünfjährige Bruder ist schwerstbehindert und bestimmt das Leben der alleinerziehenden Mutter. Bei vermuteter psychischer Genese war eine Psychotherapie bisher erfolglos. Im Intervall waren Laborwerte und Abdomensonografie unauffällig. ÖGD und Stuhlbefunde waren ebenfalls nicht auffällig. Medikamentös waren die Episoden nicht beeinflussbar. Jetzt wirken Kind und Mutter verzweifelt. Das Kind ist blass, der Bauch bei Anspannung nicht gut beurteilbar, die Peristaltik gesteigert.
Fragen zum Fallbeispiel
-
•
Wie können banale von therapiebedürftigen Erkrankungen unterschieden werden?
-
•
Wann bedarf es weitergehender Diagnostik?
-
•
Welche Erkrankungen sind weitgehend altersspezifisch?
-
•
Wie ist bei sogenannten funktionellen Erkrankungen mit hohem Leidensdruck zu beraten?
Stellenwert in der Grundversorgung
Bei Bauchschmerzen handelt es sich mit ca. 15 % der Akutvorstellungen um eines der häufigsten Symptome, die zur kinderärztlichen Vorstellung führen. Bei Kleinkindern sind Bauchschmerzen die häufigste, bei älteren Schulkindern nach Kopfschmerzen die zweithäufigste Schmerzlokalisation. 20 % der Kinder leiden an rezidivierenden Episoden. In 50 % der Fälle beklagen die Kinder Schmerzen auch an anderen Körperteilen. Die Häufigkeit funktioneller nicht organischer Störungen je nach Definition beträgt bis zu 90 %. Trotzdem zeigen z. B. 12 % der Kinder Entzündungszeichen in der ÖGD, 20 % eine Lactosemalabsorption und 4 % eine im weiteren Sinne entzündliche Darmerkrankung.
Somit haben wir es oft mit mehreren Diagnosen unterschiedlicher Relevanz beim gleichen Patienten zu tun, die unterschiedlich gewichtet werden müssen.
Auch bei chronischen abdominalen Schmerzzuständen besteht eine breite Differenzialdiagnose mit banalen bis akut lebensbedrohlichen Erkrankungen. Zudem führen anhaltende Schmerzepisoden zu sozialen Beeinträchtigungen mit weiteren Komorbiditäten.
Klinisches Erscheinungsbild
Einerseits wirkt die Vorstellung der Kinder mit rezidivierenden Bauchschmerzen gleichförmig mit Schmerzlokalisation meist periumbilikal ohne besonders aufregende Befunde. Andererseits kann durch eine sorgfältige Anamnese – vor allem unter Einbeziehung des Kindes – und die Betrachtung von Ernährungs-, Stuhl- und schulischem Verhalten, ergänzt mit familiären Angaben, die Komplexität der Differenzialdiagnose eingegrenzt werden.
Definition
Man spricht von einem chronischen Bauchschmerz, wenn er
-
•
länger als 2 Monate besteht,
-
•
mindestens 1-mal wöchentlich auftritt und eine
-
•
unmittelbare schmerzbedingte Beeinträchtigung der Aktivität nach sich zieht.
Es können organisch bzw. nicht-organisch verursachte (sog. funktionelle) Bauchschmerzen unterschieden werden (Tab. 6.32).
Organisch verursachte chronische Bauchschmerzen
Tab. 6.32.
Organische Ursachen chronischer Bauchschmerzen und diagnostische Hilfen
| Diagnose | Klinik | Paraklinik |
|---|---|---|
| Lymphadenitis mesenterialis | Hartnäckig |
|
| Obstipation | Rektale Untersuchung |
|
| Nahrungsmittelunverträglichkeiten | Anamnese | H2-Atemtest |
| Refluxkrankheit/Ösophagitis |
|
ÖGD |
| Harnwegsinfektion | Variabel | Urinstatus |
| Malabsorptionen | Dünnere Stühle |
|
| Gastritis (H. pylori) | Plötzlicher Beginn | ÖGD |
| Mikrobielle Darmerkrankungen | Durchfälle, Übelkeit | Parasiten im Stuhl |
| Pankreatitis | Heftig | Lipase |
| Gallenwegserkrankungen | Rechter Oberbauch |
|
| Chronisch entzündliche Darmerkrankungen |
|
|
| Zystische Fibrose |
|
Schweißtest |
| Anatomisch∗ (embryologisch) z. B. Malrotation, Duplikaturen | Hämatochezie (Meckel) rezidivierend, kolikartig |
|
| Tumorerkrankungen∗ | Sehr variabel |
|
| Pseudoperitonismus∗ bei Diabetes | Stark beeinträchtigt | BZ, SBH |
| Porphyrie∗ |
|
Protoporphyrine im Urin |
| Bei Verdacht gezielte Untersuchung Überweisung |
sehr selten
Funktionelle Bauchschmerzen
BeiBauchschmerzenfunktionelle 90 % der rezidivierenden Schmerzepisoden finden sich so – wie in der Definition beschrieben – keine strukturellen und biochemischen Erkrankungen und somit keine eindeutigen organbezogenen Ursachen. Hier wird von funktionellen Beschwerden gesprochen. Seit 2006 sind die mühevoll ausgearbeiteten Konzepte als pädiatrische Rome-III-Kriterien publiziert und gelten für Kinder zwischen 4 und 11 Jahren (Tab. 6.33 ).
Tab. 6.33.
Einteilung funktioneller chronischer Bauchschmerzen (Auszug Rome-III-KriterienRome-III-Kriterien)
|
Für die Eltern ist hier entscheidend, dass der Arzt nach einem strukturierten Muster Eltern und Patienten mit eindeutigen Botschaften führt. Die Eltern dürfen nie das Gefühl haben, dass „der Kinderarzt nichts gefunden hat“.
Im Übrigen sind die Übergänge durch Schädigung oder funktionell bedingte Schmerzen fließend („postenteritisches Syndrom“ sehr variabel nach Enteritis). Findet sich in der Differenzialdiagnostik keine Erkrankung, sind die Rome-III-Kriterien hilfreiche Orientierungspunkte.
Diagnostik
Für die Diagnostik rezidivierender Bauchschmerzen spielt die Anamnese eine besonders wichtige Rolle. Es ist empfehlenswert, sie durch die Führung eines Bauchschmerzprotokolls zu erweitern.
-
•
Anamnestische Fragen
Zeitspanne, nächtlicher Schmerz, Begleitumstände bei initialem Schmerz (Schwellensituation, Infektion,) Häufigkeit, Dauer, Charakter, Lokalisation, Nahrungsmittelzusammenhang, Stuhlfrequenz, Konsistenz, Bezug Ernährung, soziales Umfeld, Stuhlgang, Leidensdruck
-
•
Protokoll (hilft bei der ätiologischen Zuordnung und dient der Objektivierung)
-
–Zeitpunkt und Dauer der Beschwerden
-
–Intensität der Schmerzen (Skala 1–10)
-
–Aufgenommene Nahrungsmittel vor der Schmerzepisode
-
–Konsistenz des folgenden Stuhlgangs
-
–Evtl. begleitende Umstände (Fieber, Erbrechen, Ausschlag)
-
–
-
•
Befund (Inspektion, Palpation, Auskultation, rektale Untersuchung)
-
•
Labor (BB, Diff, CRP, Ferritin, Lipase, Bilirubin, ALAT, IgA, Transglutaminase-Ak, T4, TSH)
-
•
Urin (Leukozyten)
-
•
Stuhl (Calprotectin, Bakterien, H. pylori-Antigen, Parasiten, Lamblien)
-
•
Sonografie (anatomische Auffälligkeiten, Passagestörungen, Durchblutung)
-
•
H2-Atemtest (Laktose, Fruktose, Transitzeit)
Fallbeispiel.
Auflösung
Aufgrund der langen Vorgeschichte und des subakuten Befunds weisen Sie das Kind nach telefonischer Ankündigung in eine Klinik mit pädiatrischer Gastroenterologie/Kinderchirurgie ein. Hier fällt in der Sonografie mit gezielter Fragestellung eine seitenverkehrte Lage der A. und V. mesenterica superior auf, was auf eine Malrotation hinweist. Auf eine gezielte bildgebende Diagnostik kann daher verzichtet werden. Trotz jetzt wieder unauffälliger Klinik erfolgt laparoskopisch die Operation der Ladd'schen Bänder und somit die Beseitigung der Dünndarmobstruktion. Die nicht so seltene embryonale Fehlbildung (1:600) ist beim Schulkind oft asymptomatisch und beim jungen Säugling oft mit Volvulus oder Strangulation ein akuter Notfall.
Literatur
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- Kulmer U., Gehring S. Somatische Differenzialdiagnose chronischer Bauchschmerzen. Monatsschr Kinderheilkd. 2012;160:32–39. [Google Scholar]
6.11. Durchfall und/oder Erbrechen
Fallbeispiel.
Ein dreijähriger Durchfall ErbrechenJunge wird wegen dünnerer Stühle und Bauchschmerzen seit einem Jahr vorgestellt. Die Mutter kommt aus Bolivien. Ihre Heimat hat sie mit dem Kind mehrfach besucht. Ein Nahrungsmittelzusammenhang lässt sich nicht finden. Die Eltern sind genervt, das Kind wirkt bei leicht geblähtem Abdomen nicht sonderlich krank und ist gut gediehen, hat aber im letzten Jahr nicht zugenommen.
Fragen zum Fallbeispiel
-
•
Welche pathophysiologischen Mechanismen führen zu Erbrechen und Durchfall?
-
•
Wann ist eine weitergehende Diagnostik erforderlich?
-
•
Was sind die wahrscheinlichsten Differenzialdiagnosen?
6.11.1. Stellenwert in der Grundversorgung
Spucken und Erbrechen sind extrem häufig (50 %). Nur in weniger als 5 % ist von einer relevanten ursächlichen Erkrankung mit allerdings breiter Differenzialdiagnose auszugehen. Am häufigsten imponieren – wie beim Durchfall – selbstlimitierende Infektionen, die mit jährlich drei Episoden/Kind angegeben werden. Aufgrund notwendiger Krankschreibungen für Eltern erfolgt trotzdem sehr häufig die Vorstellung in der Praxis.
6.11.2. Definitionen
Das durch Muskelkontraktionen reflektorisch gesteuerte Hervorbringen von vorher aufgenommenen Nahrungsbestandteilen wird als Erbrechen bezeichnet. Bei der Regurgitation Regurgitation kommt es zum passiven Rückfluss aus Magen und/oder Ösophagus in die Mundhöhle. Die Rumination Rumination bezeichnet ein z. T. als lustvoll empfundenes Hochwürgen von Mageninhalt.
Eine pathologische Erhöhung der Stuhlfrequenz mit Erhöhung des wässrigen Anteils bezeichnet man als Durchfall. Es wird zwischen akuter (bis 14 Tage), persistierender (> 14 Tage) und chronischer (> 14 Tage plus einem spezifischen Pathomechanismus mit zugrunde liegender Erkrankung) Diarrhö unterschieden.
Erbrechen zeigt sich typischerweise in drei Phasen mit Übelkeit, Würgen und Hervorbringen der Nahrung, die allerdings auch für sich allein auftreten können. Die anatomische Schaltzentrale liegt im Hirnstamm mit Afferenzen aus Großhirn, Sinnesorganen, Kleinhirn und Vagus, der auch Füllungszustände des Gastrointestinaltrakts (GIT) meldet, und mit Efferenzen zur glatten Muskulatur von Magen, Ösophagus und Pharynx. Darüber hinaus ist das Brechzentrum durch Chemorezeptoren mit diversen Stimuli wie Toxine, Medikamente und Stoffwechselprodukte aktivierbar, was die breite Differenzialdiagnose Erbrechen auslösender Erkrankungen erklärt. Als Neurotransmitter fungieren u. a. Serotonin, Histamin und Dopamin, deren Antagonisten als Antiemetika eingesetzt werden.
Bei den Durchfällen kann man zwischen osmotischer (inadäquate Verdauung oder fehlende Aufnahme von osmotisch wirksamen Nährstoffen mit Verbleib von H2O im Darmlumen) und sekretorischer Diarrhö (Aktivierung von Flüssigkeitsproduktion der Mucosa oder nahrungsunabhängiger Flüssigkeitsverlust durch eine beeinträchtigte Mucosa) unterscheiden. Gesteigerte Peristaltik mit verringerter Resorptionszeit für die Wasserrücksesorption im Dickdarm führt ebenfalls zu Durchfällen. Eine Steatorrhö führt zu gesteigerten Stuhlmengen, die ebenfalls als Durchfall interpretiert werden.
6.11.3. Klinisches Erscheinungsbild
Warnsymptome und Leidensdruck bestimmen das weiter Prozedere.
-
•
Bei wiederholtem Erbrechen und häufigen Durchfällen zeigen sich bei Dehydratationsgefahr entsprechende Symptome. Hier liegt meist eine infektiöse Genese vor.
-
•
Anhaltendes Nüchternerbrechen weist auf einen erhöhten Hirndruck hin. Hier ist das Augenmerk auf weitere Zeichen wie (okzipitaler) Kopfschmerz, Gangstörungen und Ausfallserscheinungen zu achten.
-
•
Gelblich-grünliches Erbrechen spricht für eine Obstruktion jenseits der Papilla vateri.
Im Säuglingsalter gilt ein gastroösophagealer Reflux (GÖR) mit häufigem Spucken und Erbrechen als physiologisch (bis 70 % mit vier Monaten, „Speikinder – Gedeihkinder“). Bei einer Refluxkrankheit (GÖRD) kommen relevante intestinale oder extraintestinale Symptome hinzu, die nach Lebensalter variieren (Erbrechen, Nahrungsverweigerung, Gedeihstörung, Unruhe, Jammern, Aspiration, Husten, Atemwegsinfekte, pulmonale Obstruktion, Sodbrennen, Schmerzen, Heiserkeit, Bluterbrechen, Teerstuhl, auffällige Bewegungsmuster von Kopf und Hals).
Merke.
Bei Kindern mit schwerer Mehrfachbehinderung wird zu selten an eine gastroösophageale Refluxkrankheit gedacht.
Ausgesuchte Erkrankungsbilder
Akute infektiöse Gastroenteritis
Symptome: Gastroenteritis, akute infektiöseBeginn in der Regel mit Übelkeit/Erbrechen und später einsetzendem Durchfall (1–2 Tage), je nach Flüssigkeitsverlust AZ-Verschlechterung, fieberhafte und nicht-fieberhafte Verläufe, geblähtes Abdomen, Bauchschmerzen, Peristaltik ++, ähnliche Erkrankungen im Umfeld.
Diagnostik:
-
•
Kind wiegen und Gewichtsverlauf dokumentieren!
-
•
In der Regel keine Erregerdiagnostik notwendig, nur in Abhängigkeit vom klinischen Bild (z. B. Blut im Stuhl: rationelle Stufen und Stuhldiagnostik)
-
•
Einweisung in Abhängigkeit von aktuellem Status bzw. Verlauf
Therapie:
-
•
Orale Rehydratation: Flüssigkeitsverluste (Tab. 6.34 ) ersetzen:
Menge = Tagesbedarf + Flüssigkeitsverlust (bei 5 % KG Flüssigkeitsverlust zusätzlich ca. 50 ml/kg KG) Bei andauerndem Flüssigkeitsverlust über Stuhl und Erbrechen zusätzlich die Perspiratio (Fieber) einberechnen. Bei nicht ausreichendem Trinken und anhaltendem Erbrechen → stationäre Einweisung!
Tab. 6.34.
Einteilung des FlüssigkeitsverlustsFlüssigkeitsverlustEinteilung
| KG-Flüssigkeitsverlust | Beobachtungskriterien |
|---|---|
| Leicht: bis 5 % KG-Verlust | Guter bis befriedigender AZ, keine oder nur geringe Symptome |
| Mittelschwer: 5–10 % KG-Verlust | Reduzierter AZ, Turgor vermindert (Haut teigig), Schleimhäute trocken→ stationäre Einweisung, wenn das Kind schlecht trinkt! |
| Schwer: > 10 % KG-Verlust | Schlechter AZ (Somnolenz), hohes Fieber (Volumenmangel), stehende Hautfalten, Schleimhäute ausgetrocknet, eingesunkene Fontanelle (Säugling)→ stationäre Einweisung immer erforderlich! |
Flüssigkeit ersetzen mittels Glukose-Elektrolyt-Tee gemäß der WHO-Lösung (fertige Konzentrate via Apotheke) oder: auf eine 200-ml-Flasche 2 gehäufte Teelöffel Traubenzucker und eine gute Prise Salz.
-
•
Ernährung: anfangs stärkereich (z. B. Kartoffeln, Reis, Nudeln, Salzstangen, Zwieback), rasche Normalisierung der Ernährung anstreben, auf Wünsche des Kindes eingehen.
Vermeiden: Frischmilch, kochzuckerhaltige Getränke
-
•
Medikamente wie der Sekretionshemmer Racecadotril (ab > 3 Monaten) und Probiotika verkürzen nach Studienlage die Gesamtdauer, nicht aber Krankenhauseinweisungen bei schweren Verläufen
-
•
Umgebung schützen: auf Hygiene wie häufiges Händewaschen hinweisen; Kind darf nicht in Gemeinschaftseinrichtungen
Rationelle Stufen und Stuhldiagnostik gezielt (epidemische Fragestellung [a], V. a. Immundefekt [b], bekannte chronische Erkrankung [b], blutige Diarrhöen [c], ausgeprägte oder anhaltende Symptomatik [b, c, d], Reiseanamnese [d])
-
a.
Noro-Rotavirus
-
b.
CMV, Adenoviren, Kryptosporidien, Microsporidien, Mycobacterien
-
c.
Bakterielle Erreger, EHEC, Clostridium-difficile-Toxin
-
d.
Lamblien, Amöben, Parasiten
Lactose-/Fructosemalabsorption
Osmotische Diarrhöen durch die häufigen KohlenhydratmalabsorptionKohlenhydratmalabsorptionen lassen sich in der Regel anamnestisch zuordnen. Mindestens 25 % der mitteleuropäischen Bevölkerung sind betroffen. Allerdings leiden die wenigsten unter profusen Diarrhöen. Nur bei nicht eindeutigem Nahrungsmittelzusammenhang ist ein H2-Atemtest hilfreich. Reduktion der auslösenden Nährstoffe auf das verträgliche Maß mit Einsatz von Lactose-armen Produkten sollte angestrebt werden.
Gastroösophagealer Reflux (GÖR)
Goldstandard Gastroösophagealer Reflux (GÖR)der Diagnostik ist die Ösophago-Gastro-Duodenoskopie (ÖGD). In der Behandlung der GÖRD sind symptomatische, diätetische, medikamentöse und chirurgische Optionen abzuwägen. Gastroösophageale Refluxepisoden sind bis zu 4 % der Gesamtzeit physiologisch, beim Säugling deutlich höher und nur bei Beschwerden pathologisch (Speikind – Gedeihkind).
Linksseitenlage und Andicken der Nahrung reduzieren Erbrechen und Regurgitationen bei Säuglingen. Bei Kindern über zwölf Jahre kann bei typischer Symptomatik ein medikamentöser Behandlungsversuch mit PPI wie bei Erwachsenen auch ohne Endoskopie eingesetzt werden. Liegen Mehrfachbehinderungen vor, werden auch bei jüngeren Kindern Aufwand und Risiken der Endoskopie im Vergleich zur Medikamentengabe bei nicht gesicherter Diagnose abgewogen. Bei extraintestinaler Manifestation gilt der Therapieerfolg durch PPI als Bestätigung der Diagnose. Bei Unklarheiten kann eine pH-Metrie mit Impedanzmessung beim Subspezialisten erfolgen.
Manchen Nahrungsmitteln wird als nicht IgE-vermittelte Unverträglichkeit ein negativer Einfluss auf die Motilität eingeräumt, sodass die Elimination wie Meiden von Kuhmilch ein probates Mittel sein kann.
Fallbeispiel.
Auflösung
Bei der Reiseanamnese besteht der Verdacht auf eine chronisch infektiöse Erkrankung. In der Stuhldiagnostik fordern Sie gezielt eine Untersuchung auf Parasiten an, da diese häufig übersehen werden. Es findet sich eine Lambliasis. Nach einwöchiger Therapie mit Metronidazol bessert sich die Symptomatik und der Junge wird beschwerdefrei.
Literatur
- Ferreira C.T. Gastroesophageal reflux disease: exaggerations, evidence and clinical practise. J Pediatr (Rio J) 2014;90(2):105–118. doi: 10.1016/j.jped.2013.05.009. [DOI] [PubMed] [Google Scholar]
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6.12. Nahrungsmittel-assoziierte Erkrankungen
Fallbeispiel.
Die eineinhalbjährige Lisa wurde wegen zunehmender Schlappheit vorgestellt, erschreckenderweise laufe sie nicht mehr und sei lethargisch. Seit der U6 hat sie nicht mehr zugenommen, im Untersuchungsbefund fällt Ihnen ein geblähtes ausladendes Abdomen und eine Hypotonie auf. Das Essverhalten sei nicht auffällig, die Ernährung ausgewogen. Das Einzelkind wird von der Mutter sehr liebevoll umsorgt.
Fragen zum Fallbeispiel
-
•
Wie kann man bei V. a. NahrungmittelunverträglichkeitNahrungsmittelunverträglichkeit diagnostisch zum Ziel kommen?
-
•
Welche Untersuchungen helfen, bedrohliche Allergien rechtzeitig zu erkennen?
-
•
Welche sinnvollen Schnittstellen zum Subspezialisten sollten genutzt werden?
6.12.1. Stellenwert in der Grundversorgung
Ob Lebensmittel gut vertragen werden oder reale bzw. von den Eltern gefühlte Symptome auslösen, sind im Alltag des Pädiaters häufig gestellte Fragen. Sie drehen sich um Ursachenforschung zu Blähungen und Hautauffälligkeiten über atopische Manifestationen bis hin zu lebensbedrohlichen Anaphylaxien. Entsprechend schwierig sind Prävalenzangaben zu dem Gesamtkomplex. Je nach Definition reagieren bis zu 10 % aller Säuglinge und Kleinkinder allergisch auf Nahrungsmittel, ein Viertel davon auf Kuhmilch.
Die Lactose- und Fructosemalabsorption gehören zu den häufigsten Krankheitsbildern überhaupt (25 % der Kaukasier). Die Zöliakie, die nach Diagnosestellung eine konsequente Gluten-freie Ernährung fordert, ist ebenfalls nicht selten (0,5 %).
6.12.2. Definition
Sehr simplifiziert, aber dadurch auch klar wird die Nahrungsmittelunverträglichkeit als eine auffällige, meist unangenehme reproduzierbare Reaktion auf bestimmte Nahrungsbestandteile angesehen. Prinzipiell entstehen Symptome entweder durch Überempfindlichkeit oder Intoleranz. Bei den immunologisch vermittelten werden IgE- und nicht IgE-vermittelte Reaktionen unterschieden.
6.12.3. Klinisches Erscheinungsbild
Beim atopischen Kind zeigen sich Nahrungsmittel-assoziierte Symptome an den Atemwegen, der Haut, im GIT und im Herz-Kreislaufsystem. Es findet sich hier in der Regel ein erhöhtes spezifisches IgE, was für die Diagnose hilfreich ist, aber nicht beweisend.
Bei potenziell lebensbedrohlichen Anaphylaxien kein Zeitverzug → pädiatrischer Allergologe, Notfallmedikamente, Epinephrin-Autoinjektor, spezielle Diagnostik!
Die Kuhmilchprotein-induzierte Enteroproktokolitis auch beim ausschließlich gestillten Säugling ist eine nicht IgE-vermittelte, oft mit blutigen Stuhlbeimengungen einhergehende Unverträglichkeit. Abdominale Koliken, Erbrechen, Durchfälle mit Schleimauflagerungen kommen vor. Eine kuhmilchfreie Ernährung führt zu prompter Besserung.
Bei fehlenden Beschwerden und nur leicht blutig besprenkelten Stühlen ist eine abwartende Haltung unter Muttermilchernährung gerechtfertigt. Eine milchfreie Diät der Mutter erweist sich hier oft als hilfreich.
Die Zöliakie Zöliakie führt durch Zottenatrophie im Dünndarm zu einem Malabsorptionssyndrom mit Gedeihstörung, geblähtem Abdomen und Durchfällen. Da es sich um ein häufiges und sich oft atypisch manifestierendes Krankheitsbild handelt, sind auch bei nur geringen Verdachtsmomenten Antikörper gegen die Gewebstransglutaminase und ein Gesamt-IgA zu bestimmen. (Bei IgA-Mangel ist die Antikörperproduktion eingeschränkt und so nicht informativ.) Eine Duodenalbiopsie sichtert die Diagnose.
Gibt es in der Anamnese zwar Anhaltspunkte für Nahrungsmittel-induzierte Beschwerden, aber in der allergologischen und gastroenterologischen Diagnostik keinen Nachweis für eine der o. g. Erkrankungen, sind Eliminationen oder eine gezielte Provokation mit einem möglichen Auslöser im häuslichen Setting bis hin zu einer DBPCFC (doppel blind Placebo-kontrollierten Nahrungsprovokation) in einer spezialisierten Abteilung zielführend. Bei Diätempfehlungen müssen mögliche klinische Verbesserungen gegen psychosoziale Folgen durch den Eliminationsaufwand abgewogen werden.
Warum sollte ein pädiatrischer Gastroenterologe bei Zöliakie hinzugezogen werden?
Der pädiatrische Gastroenterologe
-
•
sichert die Diagnose durch endoskopisch durchgeführte Biopsie.
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darf in seltenen Fällen auf eine Biopsie verzichten.
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berät über Risiken (z. B. Diabetes bis zu 10 % im Verlauf), Familienscreening und Komplikationen.
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überprüft den Verlauf (latente, potenzielle, refraktäre Zöliakie) und Mangelerscheinungen.
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•
koordiniert Diätberatung und Kontakt zu lokalen Patientengruppen.
Merke.
Bei Malabsorptionssymptomen von mehr als einem Nahrungsbestandteil sowie bei Obstipation, Wachstumsstörung, Eisenmangelanämie, Lethargie, Irritabilität, psychomotorischer Retardierung eines vorher gesunden Kindes, Anorexie, Aphthen und Arthralgien auch an eine Zöliakie denken!
Fallbeispiel.
Auflösung
Der Verlust der Gehfähigkeit ist eine dramatische Angelegenheit. Durch Klinik, Labor und Ultraschall wird eine entzündliche Erkrankung am Bewegungsapparat weitgehend ausgeschlossen. Da das ausladende Abdomen an eine Zöliakie erinnert, werden u. a. Transglutaminase-Antikörper mit pathologischem Ergebnis bestimmt und die Verdachtsdiagnose bioptisch bestätigt. Unter glutenfreier Ernährung kommt es rasch zu einer Verbesserung.
Literatur und Internet
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- Rodeck B. Springer; Heidelberg: 2012. Zimmer KP Pädiatrische Gastroenterologie Hepatologie und Ernährung. [Google Scholar]
- Deutsche Zöliakiegesellschaft www.dzg-online.de
- Zöliakie-Treff www.zoeliakie-treff.de
- Forschungsinstitut für Kinderernährung Dortmund www.fke-do.de (optimierte Mischkost)
6.13. Gastrointestinale Blutungen
Fallbeispiel.
Ein dreijähriges Mädchen hat seit sechs Monaten gelegentlich schleimige Blutbeimengungen im Stuhl ohne weitere klinische Auffälligkeiten. Die Eltern geben an, dass zwischenzeitlich eine Hämorrhoide nach dem Stuhlgang zu sehen sei.
Fagen zum Fallbeispiel
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Welche Erkrankungen führen zu analem Blutabgang oder zu Bluterbrechen?
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Welche diagnostischen Schritte sind zielführend?
6.13.1. Stellenwert in der Grundversorgung
Magen-Darm-Blutungen Magen-Darm-Blutungen gehörenGastrointestinale Blutungen für die Eltern zu den bedrohlichsten Symptomen und führen daher oft zu unverzüglicher Vorstellung beim Kinder- und Jugendarzt. Zum Glück sind die wenigsten Blutungsereignisse lebensgefährdend, eine Diagnose allerdings zur prognostischen Einschätzung zwingend. Bei Kindern betreffen mindestens drei Viertel der Blutungen den unteren Magen-Darm-Trakt. Über die Prävalenz im Kindesalter gibt es keine verlässlichen Daten, sie liegt aber deutlich unter 1 %.
6.13.2. Klinisches Erscheinungsbild
Bluterbrechen zeigt sich rötlich oder kaffeesatzartig in Abhängigkeit vom Kontakt zu Magensäure. Beachtet werden sollten auch Blutungsquellen im HNO-Bereich.
Bei analem Blutabgang werden
-
•
Teerstuhl (ebenfalls nach Säurekontakt aus dem oberen GIT),
-
•
Hämatochezie (frisches Blut) und
-
•
okkultes Blut (nicht sichtbar) unterschieden.
Die verlorenen Blutvolumina werden in der Regel überschätzt, bei hämodynamisch wirksamem Blutverlust zeigt sich eine auffällige Klinik (Hautperfusion, Blässe, Blutdruck).
Übersicht der häufigsten Differenzialdiagnosen
Blutungen des oberen Gastrointestinaltrakts (GIT)
Erbrechen von verschlucktem Blut:
-
•
Bei gestillten Kindern blutige Brustwarzen der Mutter beachten, Nasenbluten, Zahnverlust
-
•
Weiteres Vorgehen: Beratung, Abklärung HNO
Entzündung/Ulzera von Ösophagus/Magen/Duodenum:
-
•
Stress, Steroidemedikation, NSAID, Mehrfachbehinderung
-
•
Weiteres Vorgehen: Überweisung zum Kindergastroenterologen (→ ÖGD)
Blutungsdiathese:
-
•
Anamnese, Haut/Gelenksblutungen
-
•
Weiteres Vorgehen: Labor
Blutungen des unteren GIT
Infektiöse Colitis:
-
•
Blutige Diarrhöen, krampfartige Schmerzen
-
•
Weiteres Vorgehen: Isolation, Erregerdiagnostik (TPER, Clostridien)
Vorsicht.
HUS: daher immer Urinteststreifen benutzen (Hämoglobin)
Analfissur:
-
•
Defäkationsschmerz, Blut oft nur am Toilettenpapier (hellrot), Obstipation, typischer Analbefund bei Spreizen des Anus
-
•
Weiteres Vorgehen: Analhygiene, Wundsalbe, Stuhlregulation
Polypen:
-
•
Schleimig rötliche Blutauflagerungen mit symptomfreien Intervallen, meist juveniler Polyp, oft distal
-
•
Weiteres Vorgehen: Überweisung zu Kindergastroenterologen (→ Koloskopie mit Polypektomie)
Kuhmilchproteinallergie:
-
•
Blutige Diarrhöen oder blutig besprenkelter Stuhl, gestillte und/oder mit Kuhmilchformula ernährte Säuglinge
-
•
Weiteres Vorgehen: Umstellen auf extensiv hydrolysierte Formula (eHF) bzw. Aminosäuren-Formula (AF), ggf. Überweisung zu Kindergastroenterologen
Chronisch entzündliche Darmerkrankung:
-
•
Blutige Diarrhöen, Stuhldrang, Defäkationsschmerz > 14 Tage
-
•
Weiteres Vorgehen: Labor, Überweisung zu Kindergastroenterologen (→ Koloskopie)
Meckel-Divertikel:
-
•
Hämatochezie, Teerstühle
-
•
Weiteres Vorgehen: Meckelszintigrafie, MRT, Laparoskopie
Fallbeispiel.
Auflösung
Weder bei der Inspektion noch bei der rektalen Untersuchung finden Sie eine Erklärung. Daher bitten Sie die Eltern, ein Foto mit dem Handy anzufertigen. Hier zeigt sich ein vom Aspekt her klassischer juveniler Darmpolyp (Abb. 6.16 ), der im Verlauf endoskopisch mit Metalldrahtschlinge und Strom entfernt wird.
Abb. 6.16.

Klassischer juveniler Darmpolyp [P292]Darmpolyp
Literatur
- Gershman G. Bercowitz's Pediatrics A Primary Care Approach. WB Sounders Company; 2014. Gastrointestinal Bleeding. [Google Scholar]
- Henker J., Winkler U. Blutige Stühle im Kindesalter. Pädiatrie hautnah. 2000;5:200–202. [Google Scholar]
- Lifschitz C.H. Marcel Dekker Inc; New York: 2002. Pediatric Gastroenterology and Nutrition in Clinical Practice. [Google Scholar]
- Rodeck B. Springer; Heidelberg: 2012. Zimmer KP Pädiatrische Gastroenterologie Hepatologie und Ernährung. [Google Scholar]
6.14. Gedeihstörungen im Kleinkind- und Schulalter
Fallbeispiel.
Aktueller Vorstellungsgrund: Drei Jahre altes Mädchen, Vorstellung wegen rezidivierender Bauchschmerzen. Diese waren in den letzten Wochen mit zunehmender Häufigkeit und wechselnder Intensität aufgetreten. Appetit mäßig, gemischte Kost, kein Anhalt für eine Mangel- oder Fehlernährung, kein Erbrechen. Kein Hinweis für eine Nahrungsmittelunverträglichkeit oder -allergie. Wegen eher harter Stuhlkonsistenz erfolgten bereits zuvor Behandlungen mit Feigensirup und Macrogol. In den ersten 18 Monaten normale Gewichts- und Längenentwicklung knapp unterhalb der 50. Perzentile, anschließend unzureichende Gewichtszunahme mit kontinuierlichem Abfall in der Gewichtsperzentile.
Anamnese: erstes Kind gesunder Eltern, unauffällige Familienanamnese, Geburt in der 40. SSW nach unauffälligem Schwangerschaftsverlauf, Geburtsgewicht 3250 g, als Säugling Ernährung mit Formula-Nahrung, üblicher Nahrungsaufbau, normale statomotorische und psychosoziale Entwicklung. Wiederholt Inhalationstherapie wegen rezidivierender obstruktiver Bronchitiden. Problematische familiäre Bedingungen (Mutter alleinerziehend, teilweise dysfunktionale Erziehung).
Körperlicher Untersuchungsbefund: Befriedigender Allgemeinzustand, leicht reduzierter Ernährungszustand, Länge 95 cm (25. Perzentile), Gewicht 12,5 kg (3. Perzentile), Body-Mass-Index 13,85 kg/m2 (3. Perzentile), Hautblässe, Cheilitis, mäßig geblähtes Abdomen, leichter diffuser Druckschmerz (ohne eindeutiges Punctum maximum), sonst unauffälliger altersentsprechender Befund.
Fragen zum Fallbeispiel
-
•
Wie wird eine GedeihstörungGedeihstörung diagnostiziert?
-
•
Wie kann der Schweregrad der Störung eingeschätzt werden?
-
•
Wie lauten die wichtigsten somatischen Differenzialdiagnosen im Kleinkind- und Schulalter?
-
•
Welche nichtorganisch bedingten Störungen gibt es und wie häufig treten sie auf?
-
•
Wie erfolgt die Beratung und Behandlung in der Praxis?
6.14.1. Stellenwert in der Grundversorgung
Störungen der somatischen Entwicklung (insbesondere eine unzureichende Gewichtsentwicklung) und Sorgen der Eltern bezüglich der gesunden Ernährung sind ein häufiger Vorstellungsgrund in der Praxis. Eine unzureichende Gewichts- und/oder Längenentwicklung ist immer ein wichtiger abzuklärender Befund. Durch die allgemein gute Versorgung mit Nahrungsmitteln sind schwere Erkrankungen durch Nahrungsmangel eine Rarität. Lang anhaltende Gedeihstörungen sind meist durch chronische Erkrankungen bedingt. Viel häufiger erfolgen Vorstellungen mit weniger ausgeprägten Störungen, teilweise lassen sich objektiv auch gar keine Hinweise für eine manifeste Gedeihstörung finden.
Faktoren für den hohen Stellenwert in der Praxis:
-
•
Sehr häufiger Vorstellungsgrund in der Praxis im Zusammenhang mit Sorgen und Ängsten der Eltern
-
•
Gutes Gedeihen ist eine wesentliche Voraussetzung für eine gesunde physische und psychische Entwicklung
-
•
Gedeihstörung tritt als Begleitsymptom bei einer großen Zahl von somatischen Erkrankungen und psychosozialen Störungen auf
-
•
Notwendigkeit der möglichst frühen Diagnosestellung zur Therapieeinleitung mit dem Ziel der Behebung der Gedeihstörung und der Vermeidung von Folgeschäden
-
•
Komplexität der Betreuung von Patienten mit chronischen Gedeihstörungen
6.14.2. Definition und Pathogenese
Als Gedeihstörung wird laut AWMF-Leitlinie eine Verzögerung der somatischen Entwicklung bezeichnet, die häufig von Auffälligkeiten in der motorischen und psychosozialen Entwicklung begleitet ist.
Die Gedeihstörung stellt keine Diagnose dar, sondern ist ein deskriptiver Begriff.
Sie umfasst grundsätzlich alle Formen unzureichender Gewichts- und Längenentwicklung. Teilweise werden dabei auch isolierte Störungen der Längenentwicklung (z. B. Wachstumshormon-Mangel) einbezogen. Im engeren Sinne bezieht sich der Begriff jedoch auf Erkrankungen, die zu einer Form einer unzureichenden Aufnahme oder Verwertung der Nahrung führen.
Das Hauptsymptom einer Gedeihstörung ist eine unzureichende Gewichts- und/oder Längenentwicklung.
Abhängig von der Grunderkrankung und von der jeweiligen Ausprägung, sind Gedeihstörungen mit weiteren auffälligen klinischen Befunden assoziiert. Bezüglich der Pathogenese lassenGedeihstörungPathogenese sich die folgenden Formen unterscheiden:
-
•
Unzureichende Nahrungsaufnahme
Erkrankungen mit Inappetenz oder Erbrechen, Fehlernährung, Essstörung, anatomische Fehlbildungen
-
•
Verminderte Verwertung der Nahrungsbestandteile durch
gestörte Spaltung der Nährstoffe (= Maldigestion, z. B. Pankreasinsuffizienz bei zystischer Fibrose) oder durch verminderte Absorption (= Malabsorption, angeborene oder erworbene Schädigung der Darmschleimhaut, z. B. Zöliakie, Kurzdarm, Infektionen, chronisch-entzündliche Darmerkrankung, Chloriddiarrhö)
-
•
Erhöhter Energiebedarf
Erkrankungen mit erhöhtem Energieumsatz (z. B. Hyperthyreose, chronische Entzündungen, konsumierende Erkrankungen, schwere Herz- oder Lungenerkrankungen)
6.14.3. Klinisches Erscheinungsbild
Gedeihstörungen treten im Säuglings- und Kleinkindalter häufiger auf als bei älteren Kindern. Säuglinge und Kleinkinder haben einen höheren Energiebedarf bezogen auf das Körpergewicht und geringere Energiereserven. Auch Kinder mit chronischen Erkrankungen haben ein höheres Risiko für die Entwicklung einer Malnutrition, v. a. bei neurologischen und gastroenterologischen Grundkrankheiten.
Je nach Schweregrad der Erkrankung lassen sich auffällige klinische Befunde in unterschiedlicher Ausprägung feststellen.
Zeichen der ausgeprägten Gedeihstörung
-
•
Deutliche NormabweichungenGedeihstörungKennzeichen der anthropometrischen Messwerte (deutlicher Abfall unter die 3. BMI-Perzentile, Längensollgewicht < 70 %)
-
•Reduzierter Allgemein- und Ernährungszustand (Abb. 6.17 )
Abb. 6.17.
Neunjähriges Mädchen mit typischen Zeichen einer schweren Gedeihstörung bei Zöliakie[T860] -
•
Blasse, trockene Haut
-
•
Reduzierter Hautturgor
-
•
Geringes/kein Unterhaut-Fettgewebe
-
•
Reduziertes Haar- und Nagelwachstum
-
•
Generalisierte Muskelatrophie
-
•
Ödeme
Mögliche Folgen chronischer GedeihstörungenGedeihstörungFolgen:
-
•
Gestörtes Längenwachstum (in den ersten Lebensjahren u. U. auch des Kopfumfangs)
-
•
Verzögerte Knochen- und Pubertätsentwicklung
-
•
Defizite in der sprachlichen, statomotorischen und kognitiven Entwicklung
Durch die allgemein gute Versorgung mit Nahrungsmitteln und den hohen medizinischen Versorgungsstandard sieht man ausgeprägte Gedeihstörungen in der allgemeinpädiatrischen Praxis sehr selten. Viel häufiger sind sich entwickelnde Störungen oder gering ausgeprägte Erkrankungen mit grenzwertigen Befunden (z. B. BMI zwischen 10. und 3. Perzentile). Hier müssen neben Erkrankungen v. a. auch behandlungsbedürftige psychosoziale Störungen ausgeschlossen werden, die unbehandelt die gesunde körperliche und auch psychische Entwicklung beeinträchtigen können.
Vorsicht.
Achtung bei grenzwertigen Befunden
Auch bei gering ausgeprägter Beeinträchtigung der Gewichts- und Längenentwicklung können behandlungsbedürftige Störungen vorliegen, die wegen der negativen Folgen für die Entwicklung nicht übersehen werden dürfen. Beispiele: chronische Fehlernährung, Zöliakie mit BMI-Werten im unteren Normbereich.
6.14.4. Diagnose
Zur korrekten Diagnosestellung und zur anschließenden Einleitung einer angemessenen Therapie sollten grundsätzlich die folgenden Fragen beantwortet werden:
-
•
Liegt eine behandlungsbedürftige Gedeihstörung vor?
-
•
Welche Ausprägung hat sie?
-
•
Welche Ätiologie und Pathogenese liegen vor?
Die wichtigsten Bestandteile der diagnostischen Abklärung sind:
-
•
Anamnese
-
•
Aktuelle anthropometrische Werte, langfristige Perzentilenverläufe
-
•
Körperlicher Untersuchungsbefund
-
•
Labordiagnostik
-
•
Apparative Diagnostik
-
•
Einbeziehung von Subspezialisten
Anamnese
Durch die Erhebung richtungsweisender anamnestischer Befunde lässt sich in den meisten Fällen das Spektrum der möglichen Ursachen eingrenzen. Gerade bei nur leichten klinischen Zeichen einer Gedeihstörung ist eine ausführliche Anamneseerhebung notwendig, um beginnende Erkrankungen oder andere interventionsbedürftige Störungen (z. B. Fehlernährungen) erkennen zu können.
Aspekte der Anamneseerhebung
-
•
Familienanamnese (Körpergröße und Gewicht von Eltern und Geschwistern)
-
•
Sozialanamnese (häusliche Situation, Belastung durch Beruf oder weitere Kinder, Alleinerziehung? Psychische Erkrankung Mutter oder Vater?)
-
•
Schwangerschafts-Anamnese (Nikotin, Alkohol, Medikamente, Erkrankung von Mutter oder Kind)
-
•
Geburtsanamnese (Geburtsgewicht, Frühgeburtlichkeit, Komplikationen)
-
•
Bisherige Entwicklung (Meilensteine)
-
•
Vorbefunde, Vorerkrankungen (bisheriger Perzentilenverlauf, bereits erfolgte Untersuchungen)
-
•
Ernährung (Nahrungszusammensetzung, -menge, Essverhalten, Meidung bestimmter Nahrungsmittel? Trinkmenge, viel Säfte?)
-
•
Regelmäßigkeit der Mahlzeiten, gemeinsames Essen zu Hause?
-
•
Ess-/Trinkverhalten in anderer Umgebung (z. B. Kita)
-
•
Beschwerden (z. B. Bauchschmerzen: Art, Erstmanifestation, zeitliches Auftreten, situationsabhängig oder im Zusammenhang mit Nahrungszufuhr. Erbrechen, Blähungen, Sodbrennen, allergische Reaktionen, Unverträglichkeiten)
-
•
Stuhlkonsistenz (Diarrhö?), Beimengungen (Blut, Schleim, Fett), auffälliges Stuhlvolumen?
Sozioökonomische Faktoren spielen eine große Rolle als Risikofaktoren für psychosoziale Störungen und sollten im Rahmen der anamnestischen Abklärung angemessen berücksichtigt werden – wichtig wegen der Häufigkeit!
Risikofaktoren für psychosoziale Störungen:
-
•
ÜberforderungGedeihstörungRisikofaktoren der Eltern (Stress, berufliche Überlastung, sehr junge Eltern)
-
•
Erziehungsprobleme
-
•
Geringe soziale Kompetenz, Unwissenheit/niedriger Bildungsstand
-
•
Ungünstige sozioökonomische Bedingungen
-
•
Trennung der Eltern, Alleinerziehung
-
•
Gewalt, Missbrauch in der Familie
-
•
Psychische oder psychiatrische Erkrankungen der Eltern
-
•
Essstörungen bei den Eltern
-
•
Ablehnung des Kindes, Desinteresse
Zur Erfassung der Ernährungsgewohnheiten des Kindes ist es oft hilfreich, ein einwöchiges Nahrungsprotokoll führen zu lassen. Dadurch lassen sich ggf. quantitativ und qualitativ ungeeignete Nahrungszusammensetzungen erkennen, z. B. auch Diäten, die als kritisch für die ausreichende Versorgung mit essenziellen Nahrungsbestandteilen anzusehen sind (z. B. streng vegane Kost). Auch eine Abschätzung der Kalorienzufuhr ist bei genauer Protokollierung möglich, genaue Berechnungen sind jedoch aufwendig und in der Praxis eher die Ausnahme.
Wichtige Hinweise können auch von anderen Personen kommen, die das Kind betreuen (wichtig z. B. Essverhalten in der Kita). Dabei können sich Hinweise auf gravierende Probleme wie z. B. Fehlernährung, Essstörungen, Störungen der Eltern-Kind-Interaktion oder Vernachlässigung ergeben.
Anthropometrie
Die Erfassung und Bewertung von Länge und Gewicht ist ein sehr wichtiger Bestandteil zur Diagnosestellung einer Gedeihstörung. Bei der Interpretation der anthropometrischen Messwerte ist es wichtig, den Verlauf über einen längeren Zeitraum zu erfassen. Es sollten dazu aktuelle geschlechtsbezogene Perzentilenkurven für Gewicht, Länge, Body-Mass-Index und Kopfumfang verwendet werden (Kap. 3.1). In der Praxis werden üblicherweise die in den Vorsorgeheften enthaltenen Kurven von Kromeyer-Hauschild (2001) verwendet. In den ersten beiden Lebensjahren kann ein Wechsel um eine Hauptperzentile normal sein. Anschließend sollte die Gewichts- und Längenentwicklung weitgehend entlang der individuell determinierten Perzentile erfolgen. Gerade bei nur grenzwertigen Abweichungen ist die Beurteilung, ob sich ein Kind noch in seinem genetisch determinierten Normbereich entwickelt, nicht immer einfach zu treffen. Hier sollte eine individuelle Bewertung erfolgen, auch unter Berücksichtigung familiär-konstitutioneller und ethnischer Einflüsse (ggf. Verwendung der WHO-Perzentilen).
Exkurs.
Die Referenzwerte der WHO mit einer internationalen Vergleichspopulation weichen teilweise deutlich von den vorgenannten Kurven ab. Als Ursache geringerer Längen- und Gewichtswerte sind eher ethnische als sozioökonomische Faktoren anzunehmen, da nur Kinder unter guten Ernährungsbedingungen in die Referenzpopulation der WHO-Perzentilen aufgenommen wurden.
Die folgenden Abweichungen anthropometrischer MesswerteGedeihstörungMesswerte sprechen für eine relevante Gedeihstörung:
-
•
Gewichtsabfall unter die 3. Gewichts-Perzentile
-
•
Perzentilenwechsel (= „Perzentilenschneiden“) um mehr als zwei Hauptperzentilen (3., 10., 25., 50., 75., 90., 97. Perzentile) nach unten
-
•
Body-Mass-Index (Körpergewicht in kg/Körperlänge in m2) < 3. Perzentile (in den ersten Lebensjahren geringere Sensitvität [1])
-
•
Längensollgewicht (Körpergewicht × 100/Gewichtsmedian entsprechend der Körperlänge) < 80 % spricht für eine Mangelernährung, < 70 % für eine schwere Mangelernährung
Aus der längerfristigen Betrachtung der Längen-Gewichts-Relation lassen sich auch differenzialdiagnostische Schlüsse ziehen.
Typische Perzentilenverläufe (Ausprägung des Abfalls im Rang)
-
•
Gewichtsverlauf perzentilenschneidend abfallend, Länge mäßig abfallend, Kopfumfang kaum/gar nicht beeinträchtigt: Energiemangel (Maldigestion, Malabsorption, Mangelernährung, Abb. 6.18 , Abb. 6.19 , Abb. 6.20 )
Abb. 6.18.

Gewichtsverlauf bei Energiemangel
[P293]
Abb. 6.19.

Längenverlauf bei Energiemangel
[P293]
Abb. 6.20.

Kopfumfang bei Energiemangel
[P293]
-
•
Gewicht und Länge perzentilenschneidend abfallend (bei normaler Relation), Kopfumfang kaum/gar nicht beeinträchtigt: Wachstumsstörung ohne Energiemangel (z. B. hormonelle Erkrankung, Abb. 6.21 , Abb. 6.22 , Abb. 6.23 )
Abb. 6.21.

Gewichtsverlauf bei Wachstumsstörung ohne Energiemangel
[P293]
Abb. 6.22.

Längenverlauf bei Wachstumsstörung ohne Energiemangel
[P293]
Abb. 6.23.

Kopfumfang bei Wachstumsstörung ohne Energiemangel
[P293]
-
•
Gewicht, Länge und Kopfumfang perzentilenparallel vermindert (unterer Rang): kombinierte Wachstumsstörung (Small-for-gestational-age, pränatale Noxe, Syndrom, Abb. 6.24 , Abb. 6.25 , Abb. 6.26 )
Abb. 6.24.

Gewichtsverlauf bei kombinierter Wachstumsstörung
[P293]
Abb. 6.25.

Längenverlauf bei kombinierter Wachstumsstörung
[P293]
Abb. 6.26.

Kopfumfang bei kombinierter Wachstumsstörung
[P293]
Körperliche Untersuchung
Neben der Anthropometrie sind die Befunde der körperlichen Untersuchung richtungsweisend für die Einschätzung des Schweregrads einer Gedeihstörung. Bei leicht ausgeprägten Erkrankungen werden meist nur dezente klinische Auffälligkeiten gesehen (z. B. Blässe, Müdigkeit). Schwere Gedeihstörungen sind i. d. R. mit typischen pathologischen Befunden assoziiert. Besondere Berücksichtigung sollten sog. Red Flags (anamnestisch und klinisch) als mögliche Hinweise für das Vorliegen einer Grunderkrankung finden.
Red Flags für Vorliegen einer Grunderkrankung
AnhaltenderGedeihstörungRed Flags Gewichtsstillstand, kontinuierliche Gewichtsabnahme, sehr schnelle Gewichtsabnahme, rezidivierende oder anhaltende Diarrhö, Blut- und/oder Schleimbeimengungen im Stuhl, voluminöse Stühle, chronisch-rezidivierendes Erbrechen, starke lokalisierbare Bauchschmerzen, Hepatosplenomegalie, tastbare Resistenzen, Ödeme, rezidivierende Aphthen, Dysmorphien/Stigmata
Bei anamnestisch nicht eindeutig zu klärender Ernährungssituation (z. B. bei hoher psychosozialer Belastung) oder bei einem konkreten Verdacht sollte auch ein stationärer Aufenthalt, z. B. zur kontrollierten Ernährung oder zur Beobachtung der Eltern-Kind-Interaktion, erwogen werden.
Labordiagnostik
Die Grenze zwischen noch normaler und bereits auffälliger Befundkonstellation ist nicht immer eindeutig zu ziehen. Grundsätzlich hat der Ausschluss einer Grunderkrankung einen sehr hohen Stellenwert, da sich auch hinter grenzwertigen Befunden behandlungsbedürftige Erkrankungen verbergen können (z. B. Zöliakie) und eine möglichst frühzeitige Diagnose für die weitere Prognose des Patienten entscheidend sein kann (z. B. zystische Fibrose). Daher sollte auch bei gering ausgeprägten Symptomen die Indikation für eine laborchemische Basisdiagnostik großzügig gestellt werden.
Basis-Labordiagnostik
BKS, BB, BZ, GOT, GPT, AP, Na, K, Ca, P, LDH, Harnsäure, Gesamteiweiß, Albumin, Lipase, Kreatinin, Eisen, Ferritin, TSH, IgA-Transglutaminase-Ak, IgA, Urin-Status, Stuhl auf Elastase
Ohne einen entsprechenden Verdacht durch richtungsweisende Befunde müssen bei ausgepägten Gedeihstörungen ergänzend weitere laborchemische Untersuchungen erfolgen.
Erweiterte Diagnostik (nach Fragestellung durchzuführen)
IGF-1, IGF-BP3, Immunglobuline, Cholinesterase, Folsäure, Vit. B12, 25-OH-Vit. D, Zink, CK, FX-5-Screening, HIV-Serologie, Stuhl auf Calprotectin, Stuhl auf Lamblien, Cryptosporidien, Amöben, Schweißtest, TB-Test
Ergänzend zu der o. g. Vor-Diagnostik können zur Diagnosestellung zusätzlich apparative Untersuchungen und Überweisungen zu Subspezialisten erforderlich sein.
Apparative Untersuchungen
-
•
Eine Sonografie (Oberbauch, Nieren und ableitende Harnwege) ist ohne spezielle Fragestellung oft ohne richtungsweisenden Befund. Aufgrund der sehr vielfältigen Differenzialdiagnosen im gesamten Spektrum der klinischen Pädiatrie, der geringen Belastung für den Patienten und bei häufiger Vorhaltung in der Praxis kann die Indikation trotzdem großzügig gestellt werden.
-
•
Die Röntgen-Untersuchung der Handwurzel besitzt einen hohen Stellenwert bei der ätiologischen Einordnung einer Gedeihstörung. Durch die Bestimmung des Skelettalters kann überprüft werden, ob der körperliche Entwicklungsstand dem chronologischen Alter entspricht oder eine Entwicklungsretardierung vorliegt. Eine retardierte Skelettentwicklung kann bei organisch bedingten Gedeihstörungen beobachtet werden, ausgeprägt auch bei konstitutioneller Entwicklungsverzögerung. Bei familiärem Kleinwuchs wird ein altersentsprechendes Knochenalter gefunden. Über das Knochenalter ist (nach Bayley und Pinneau) auch eine Berechnung der prognostizierten Endgröße möglich.
Die Indikationsstellung weiterer aufwendiger und für die Patienten belastender Untersuchungen (z. B. pH-Metrie, Gastroskopie, Koloskopie, Dünndarm-Biopsie, Rö-MDP oder MRT-Schädel) sollte i. d. R. gemeinsam mit einem pädiatrischen Gastroenterologen erfolgen.
Überweisung zu Subspezialisten
Der angemessene Zeitpunkt für die Überweisung zu einem gastroenterologischen Subspezialisten (z. B. pädiatrischer Gastroenterologe, Radiologe, Neurologe, Humangenetiker) ist abhängig von
-
•
der Ausprägung der Beschwerden,
-
•
den Ergebnissen der Diagnostik,
-
•
den erforderlichen Untersuchungen (z. B. Endoskopie) zur Diagnosestellung,
-
•
dem Erkrankungsverlauf (schwerer oder chronischer Verlauf) und
-
•
von der Fachkompetenz des behandelnden Pädiaters.
Merke.
Teilweise lassen sich Erkrankungen, wie auch Normvarianten, erst im längerfristigen Verlauf diagnostizieren (z. B. Small-for-gestational age, chronisch entzündliche Darmerkrankungen, Normvarianten).
Daher sollten bei Kindern mit ätiologisch nicht eindeutig geklärten Störungen des Gedeihens (nach abgeschlossener Diagnostik) regelmäßige Verlaufskontrollen erfolgen. Im Rahmen regelmäßiger Reevaluationen muss über eine eventuell notwendige Wiederaufnahme der Diagnostik entschieden werden.
Auch Kinder mit der Diagnose „konstitutionelle Entwicklungsverzögerung“ sollten in regelmäßigen Abständen bezüglich der körperlichen, kognitiven und psychomotorischen Entwicklung kontrolliert werden.
Eine Übersicht über die verschiedenen Schritte zur Diagnosestellung in Abhängigkeit von der Ausprägung der Störungen zeigt Abb. 6.27 .
Abb. 6.27.

Diagnose-Algorithmus Gedeihstörung [P293]GedeihstörungDiagnostik
6.14.5. Differenzialdiagnosen
Die Differenzialdiagnose der Gedeihstörung umfasst grundsätzlich alle somatischen Erkrankungen und psychosozialen Störungen, die zu einer längerfristigen Beeinträchtigung des Ernährungszustands führen können. Bei kindlichen Gedeihstörungen liegen wesentlich häufiger nicht-organische als organisch bedingte Störungen vor. Je nach Kohorte und Autor wird der Anteil der Gedeihstörungen auf ausschließlicher Basis einer Grunderkrankung mit 10–30 % angegeben. Auch kombinierte Störungen mit einer Grunderkrankung und zusätzlichen nicht-organischen Störungen kommen vor (z. B. schwere chronische Erkrankung und Überforderung der Eltern, Zöliakie und Compliance-Problem bezüglich der erforderlichen Diät).
Nachfolgend werden die wichtigsten Differenzialdiagnosen organischer bzw. nicht-organischer Ursachen im Kleinkind- und Grundschulalter vorgestellt.
Wichtige Differenzialdiagnosen organisch bedingter Gedeihstörungen
-
•
Pränatal determiniert: Embryofetales-Alkohol-Syndrom, Nikotin-, Drogenabusus, Small-for-gestational age (SGA)
-
•
Zöliakie, Zystische Fibrose
-
•
Genetische Ursachen (Chromosomendefekte, Syndrome)
-
•
Endokrinologische Erkrankungen (Hyperthyreose, Hypothyreose, Wachstumshormon-Mangel)
-
•
Stoffwechselerkrankungen
-
•
Chronische Erkrankungen (z. B. Nieren, Herz)
-
•
Schwere neurologische Erkrankungen (Cerebralparese, neuromuskuläre Erkrankungen)
-
•
Tumorerkrankungen (z. B. ZNS)
-
•
Infektionskrankheiten (z. B. Lamliasis)
-
•
Fehlbildungen (z. B. Kurzdarm-Syndrom, auch nach Darmresektion)
-
•
Schwere Immundefekte
-
•
Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen
-
•
Psychiatrische Erkrankungen (z. B. Anorexie)
-
•
Nahrungsmittelallergien, Kohlenhydrat-Unverträglichkeiten
Wichtige Differenzialdiagnosen nicht-organisch bedingter Gedeihstörungen
Normabweichungen:
-
•
Familiär-konstitutionelle Genese
-
•
Konstitutionelle Entwicklungsverzögerung:
-
–Unauffällige Basisdiagnostik
-
–Oft ähnlich verspätete Entwicklung bei Eltern/Geschwistern
-
–Niedrige Wachstumsgeschwindigkeit in den ersten 2–4 Lebensjahren, anschließend Wachstum im Bereich der 3. Perzentile (perzentilenparallel)
-
–Zeitlich verlängertes Wachstum, verspäteter Eintritt der Pubertät
-
–Retardierte Skelettentwicklung
-
–Genetischer Zielgrößenbereich wird i. d. R. erreicht
-
–Jungen häufiger als Mädchen betroffen
-
–
Psychosoziale Störungen:
-
•
Unsicherheit/Überforderung der Eltern (mangelnde Kompetenz, soziale Probleme)
-
•
Dysfunktionale Erziehung
-
•
Interaktionsstörungen Eltern-Kind
-
•
Mangelernährung durch Diäten (z. B. vegane Ernährung)
-
•
Mangelnde Kooperation/Therapieadhärenz
-
•
Vernachlässigung
-
•
Psychische/psychiatrische Erkrankung der Eltern (z. B. Depressionen, Psychosen, Münchhausen-Syndrom)
Bei im Vordergrund stehender Wachstumsstörung müssen neben primären Wachstumsstörungen auch häufig vorkommende Normvarianten (familiär-konstitutioneller Kleinwuchs, konstitutionelle Entwicklungsverzögerung) differenzialdiagnostisch berücksichtigt werden (Kap. 3.1; Kap. 6.24). Ein isolierter Kleinwuchs unklarer Genese sollte endokrinologisch abgeklärt werden.
Berechnung des genetisch determinierten Zielgrößenbereichs:
Größe Mutter + Größe Vater/2, bei Mädchen – 6,5, bei Jungen + 6,5 cm.
Zielbereich: +/− 8,5 cm (ausführliche Informationen hierzu Kap. 3.1)
Praxisrelevante Hinweise zu ausgewählten Krankheitsbildern
Zöliakie
-
•
Hohe GedeihstörungZöliakiePrävalenz (ca. 1:200)
-
•
Zunahme subklinischer Verläufe, auch dadurch teilweise keine oder zu späte Diagnosestellung
-
•
Großzügige Indikationsstellung für spezifische Diagnostik (IgA-Gewebs-Transglutaminase-Antikörper unter gliadinhaltiger Kost)
-
•
Gesamt-IgA sollte immer mitbestimmt werden (mögl. IgA-Mangel)
-
•
Auf die früher immer obligate Dünndarmbiospie kann heute z. T. bei eindeutiger Befundkonstellation verzichtet werden (ESPGHAN Krit. 2012)
Nahrungsmittel-assoziierte Erkrankungen Kap. 6.12
Zystische Fibrose (Mucoviszidose)
-
•
Häufig GedeihstörungMucoviszidoseauftretende autosomal-rezessive Erkrankung (ca. 1:3.000 Geburten)
-
•
Sehr unterschiedliche klinische Ausprägung und Manifestation
-
•
Verschiedene Organsysteme betroffen (Intestinum, Pankreas, Lunge, Leber, HNO, Hoden)
-
•
Langfristig letaler Verlauf, die Patienten profitieren aber von einer frühen Diagnosestellung und Therapieeinleitung (höhere Lebenserwartung)
-
•
Erkrankung frühzeitig differenzialdiagnostisch in Erwägung ziehen (Pankreas-Elastase im Stuhl, Pilokarpin-Iontophorese [Schweißtest])
-
•
Bei positivem Schweißtest molekulargenetischer Nachweis der ursächlichen Gen-Mutation (CFTR-Gen)
Zystische Fibrose Kap. 7.7
Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen
-
•
Manifestation meist im Jugend- und jungen Erwachsenenalter (Kap. 7.5.1)
-
•
Erkrankungsbeginn aber ab erstem Lebensjahr möglich(!), als mögliche Differenzialdiagnose auch in den ersten Lebensjahren zu berücksichtigen (Bestimmung Calprotectin im Stuhl)
Essstörungen (z. B. Anorexia nervosa)
-
•
Erkrankungsbeginn meist im Jugendalter
-
•
Typische Beschwerden können bei Patienten ab dem Grundschulalter auftreten
-
•
Eine frühzeitige therapeutische Intervention verbessert die Prognose, rechtzeitige psychiatrische Diagnostik veranlassen
Embryofetales Alkoholsyndrom
-
•
Eine der häufigsten angeborenen Erkrankungen GedeihstörungEmbryofetales Alkoholsyndrom(Inzidenz Vollbild ca. 1:300)
-
•
Klinische Ausprägung sehr variabel, leichte Verläufe werden oft übersehen
-
•
Bei unklaren Gedeihstörungen mit weiteren Entwicklungsdefiziten (Statomotorik, Sprache, geistige Entwicklung) oder mit Verhaltensstörungen differenzialdiagnostisch rechtzeitig in Erwägung ziehen
-
•
Diagnosestellung durch das klinische Bild (typisch: Mikrozephalie, craniofaziale Dysmorphien)
-
•
Frühzeitige interdisziplinäre Behandlung kann die schwerwiegenden Folgen der Erkrankung abmildern
Das auffällig aussehende Kind Kap. 6.25
Kohlenhydrat-Unverträglichkeiten (Laktoseintoleranz, Fruktosemalabsorption)
-
•
Genetisch determinierter GedeihstörungKohlenhydrat-UnverträglichkeitEnzymmangel
-
•
Hohe Prävalenz
-
•
Die Aufnahme hoher Mengen des entsprechenden Zuckers kann zu anhaltenden Beschwerden führen (z. B. Bauchschmerzen, Diarrhö)
-
•
Geht nicht mit einer Schädigung der Darmschleimhaut einher, führt daher auch nicht zu einer Malabsorption der anderen Nahrungsbestandteile
-
•
Kann sekundär bei Darmerkrankungen auftreten (z. B. bei Zöliakie, bei postenteritischem Syndrom)
-
•
Wird bei unspezifischen Beschwerden von Eltern häufig als Ursache vermutet, häufig Durchführung von (oft unnötigen) Auslassdiäten
-
•
Diagnosestellung: Elimination des Kohlenhydrates, anschließende Besserung und erneutes Auftreten der Beschwerden nach Wiedereinführung (oder H2-Atemtest)
Nahrungsmittel-assoziierte Erkrankungen Kap. 6.12
Nahrungsmittelallergien
-
•
Werden von Eltern häufig vermutet, als Ursache einer GedeihstörungNahrungsmittelallergieGedeihstörung sehr selten (im Säuglingsalter möglich, z. B. Kuhmilchproteinallergie)
-
•
Bei starken, potenziell vital bedrohlichen allergischen Symptomen Diagnosestellung durch stationäre doppelblinde placebokontrollierte Provokation indiziert
-
•
Erfolgreiche Behandlung durch Auslassdiät (Substitution durch Hydrolysate, Aminosäuren)
-
•
In den meisten Fällen entwickelt sich bis zum Schulalter eine Toleranz, sodass Kuhmilch wieder aufgenommen werden kann
Nahrungsmittel-assoziierte Erkrankungen Kap. 6.12
6.14.6. Beratung und Behandlung
Grundlagen der Therapie
Der geeignete Therapieansatz richtet sich nach der jeweiligen diagnostischen Einordnung der Gedeihstörung. In Abhängigkeit davon, ob eine Organerkrankung, eine psychosoziale Störung, eine Mischform beider Ursachen oder eine Normabweichung vorliegt, werden unterschiedliche Behandlungsmaßnahmen gewählt. Eine Übersicht über das Spektrum der verschiedenen Therapieansätze, der realistischen Therapieziele und der ggf. längerfristig durchzuführenden Maßnahmen zeigt Abb. 6.28 .
Abb. 6.28.

Therapie-Spektrum der Gedeihstörung in der Praxis
[P293]
Nachweis einer Organerkrankung
Beim Vorliegen einer Organerkrankung als Ursache einer Gedeihstörung sollte diese so weit wie möglich kausal behandelt werden. Dies kann z. B. durch eine Eliminationsdiät, Hormonsubstitution, erfolgreiche Behandlung einer konsumierenden Erkrankung oder mittels einer chirurgischen Korrektur von Fehlbildungen erfolgen.
Ist keine Heilung der Grunderkrankung möglich, muss für einen geeigneten Therapieansatz die jeweils zugrunde liegende Pathogenese der Gedeihstörung berücksichtigt werden. Es können auch kombinierte Störungen vorliegen, z. B. die Kombination von Maldigestion und Malabsorption. Nicht alle organischen Erkrankungen, die mit einer Gedeihstörung einhergehen, lassen sich in der o. g. Pathogenese-Systematik eindeutig einordnen, so z. B. hormonelle oder genetische Störungen.
Für die Ernährungstherapie
GedeihstörungErnährungstherapiestehen die folgenden Maßnahmen zur Auswahl:
-
•
Erhöhung oder Normalisierung der Nahrungsmenge (z. B. bei Fehlernährung bei Unwissenheit der Eltern, Vernachlässigung)
-
•
Erhöhung der Kalorienzufuhr durch Zusatz von Ölen, Fetten, Kohlenhydraten (Sahne, hochwertige Öle, Nüsse, Milchshakes), z. B. bei pränatal oder genetisch determinierten Erkrankungen, chronischen Erkrankungen
-
•
Zusatz von Vitaminen oder Spurenelementen bei nachgewiesenem Defizit (z. B. Zystische Fibrose)
-
•
Zusatz altersadaptierter energiereicher Trink- oder Sondennahrungen (bei hohem zusätzlichen Kalorienbedarf oder behinderter Nahrungsaufnahme, z. B. konsumierende Erkrankungen, Essstörungen, Fehlbildungen)
-
•
Ernährung über vollbilanzierte Nahrungen (= Bedarfsdeckung aller essenziellen Nährstoffe, oft mittels Sondenernährung, z. B. schwere zerebrale oder neuromuskuläre Erkrankungen)
-
•
Spezialnahrungen (Hydrolysate, Aminosäuremischungen, fettangereicherte Nahrungen, z. B. bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen, schwere Nahrungsmittelallergien)
-
•
Auslassdiäten (z. B. Zöliakie, Stoffwechselerkrankungen, schwere Nahrungsmittelallergien)
Grundlage jeder Ernährungstherapie ist die ausführliche Ernährungsberatung von Eltern und Patient. Bei Patienten mit einer Dauerbehandlung (z. B. Auslassdiät bei Zöliakie, Thyroxinsubstitution bei Hypothyreose) sollte die Therapieeinstellung (und Compliance) regelmäßig klinisch und laborchemisch kontrolliert werden. Die Intervalle richten sich nach der Grunderkrankung und dem Erfolg der Therapieeinstellung.
Bei schweren oder chronischen Erkrankungen sollten Ernährungsberatungen durch eine Ernährungsfachkraft für Kinder und Jugendliche erfolgen. Die aufwendige, zumeist interdisziplinäre Betreuung der betroffenen Familien stellt den ambulant tätigen Kinder- und Jugendarzt vor große Herausforderungen. Besonders wichtig ist eine langfristige psychosoziale Betreuung, d. h. die Unterstützung der Eltern und Patienten bei der Bewältigung der alltäglichen Probleme. Falls auch durch eine optimale Behandlung keine Gewichtsnormalisierung erreicht werden kann, sollte mit den Eltern eine Absprache realistischer Therapieziele erfolgen.
Weitere mögliche Maßnahmen zur Betreuung chronisch kranker Patienten können sein:
-
•
Anbindung an pädiatrisch-gastroenterologische Poliklinik
-
•
Anbindung an ein Sozialpädiatrisches Zentrum (z. B. bei Behinderung)
-
•
Organisation ambulanter Pflegehilfe (häusliche Kinderkrankenpflege)
-
•
Einleitung von Rehabilitationsmaßnahmen
-
•
Sozialberatung (z. B. Kostenübernahmen)
-
•
Vermittlung von Selbsthilfegruppen oder Vereinen
-
•
Rechtzeitige Suche und Kontaktaufnahme mit weiterbetreuenden Ärzten der Grundversorgung, wenn der Patient das Erwachsenenalter erreicht (Transition)
Durch die über viele Jahre erfolgte intensive Betreuung entwickelt sich meist eine enge Bindung dieser Patienten und deren Eltern zum betreuenden Praxisteam. Oft resultiert daraus der Wunsch einer Weiterbetreuung über das achtzehnte Lebensjahr hinaus, z. T. auch wegen fehlender entsprechend spezialisierter Behandlungsangebote im Bereich der Erwachsenenmedizin.
Rechtzeitige Maßnahmen für eine erfolgreiche Transition
Beim Übergang zum Erwachsenenalter sollten die erforderlichen Maßnahmen für eine erfolgreiche Transition (Kap. 7.1) rechtzeitig eingeleitet werden. Diese gestalten sich in der Praxis, besonders bei seltenen chronischen Erkrankungen, häufig schwierig.
Psychosoziale Störungen im Zusammenhang mit Gedeihstörungen
Die Behandlung psychosozialer Störungen im Kontext mit Gedeihstörungen nimmt im PraxisalltagGedeihstörungpsychosoziale Störungen wegen ihrer Häufigkeit einen großen Raum ein. Neben individuellen Problemen auf familiärer Ebene wirken sich auch problematische gesellschaftliche Entwicklungen ungünstig aus, wie z. B. Alltagszwänge (Berufstätigkeit beider Eltern oder lange Schulzeiten) oder allgemein veränderte Essgewohnheiten (Fast Food, Fertigkost, keine gemeinsamen Mahlzeiten).
Unabhängig von der zugrunde liegenden Störung sollten grundsätzlich die folgenden Basis-Empfehlungen vermittelt werden:
-
•
Regelmäßige gemeinsame Mahlzeiten
-
•
Positive Atmosphäre, ausreichend Zeit beim Essen
-
•
Angemessene Berücksichtigung von Vorlieben und Abneigungen
-
•
Kein Zwang zum Aufessen
-
•
Nahrungszusammensetzung: altersentsprechende optimierte Mischkost anstreben
Zur besseren Vermittlung der fachlichen Inhalte im Sinne einer altersentsprechend optimierten Mischkost können Infomaterialien hilfreich sein, wie sie z. B. von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) angeboten werden. Fachlich hochwertige Internetadressen sind z. B. www.was-wir-essen.de oder www.kindergesundheit-info.de. Interessierte Eltern sollten Empfehlungen über geeignete Fachbücher erhalten (z. B. Empfehlungen für die Ernährung von Kindern und Jugendlichen, Forschungsinstitut für Kinderernährung Dortmund, www.fke-do.de).
Therapieansätze wichtiger psychosozial bedingter Gedeihstörungen
Unwissen, Überforderung der Eltern
Bei einfach gelagerten Fällen und kooperativen Eltern lassen sich Fehl- oder Mangelernährungen nach einer Ernährungsberatung durch eine Ernährungsumstellung oder durch eine Nahrungsanreicherung beheben. Die unterstellte Krankheitspathogenese wird über die anschließende Gewichtsnormalisierung bestätigt, weitere Untersuchungen sind nicht erforderlich.
Sehr unerfahrene, unsichere oder ängstliche Eltern benötigen neben der medizinisch-fachlichen Betreuung oft Unterstützung in familiär-sozialen Bereichen, die sich auf die Nahrungsaufnahme der Kinder auswirken können (z. B. familiäre Situation, Eltern-Kind-Interaktion, Erziehung, Ängste der Eltern).
Ein weiteres häufiges Problem sind überlastete Eltern, z. B. durch berufliche Überbeanspruchung, familiäre Konflikte oder durch Alleinerziehung. Hier sollte mit den Eltern nach Möglichkeiten zusätzlicher Ressourcen zur Entlastung gesucht werden (Großeltern, Freunde).
Teilweise sind die Sorgen der Eltern unbegründet und resultieren aus eigenen Ängsten oder falschen Vorstellungen über die erforderliche Menge und Zusammensetzung der Nahrung. Nicht selten werden Nahrungsmittelallergien oder Unverträglichkeiten (z. B. Laktoseintoleranz) vermutet, auch ohne darauf hinweisende Symptome. Zur Verunsicherung der Eltern tragen auch die Informationsflut der neuen Medien und zweifelhafte alternativmedizinisch gestellte Diagnosen bei. Neben praktischen Ratschlägen ist es hier wichtig, den Eltern Sicherheit zu vermitteln („Sie machen alles richtig“) und unbegründete Ängste und Sorgen abzubauen.
Dysfunktionale Erziehung, Interaktionsstörungen
Nicht selten Gedeihstörungdysfunktionale Erziehungerfolgt eine einseitige Ernährung durch sich fixierende Vorlieben der Kinder bei Überforderung bzw. mangelnder Erziehungskompetenz der Eltern. Dsyfunktionale Erziehung bezüglich der Essgewohnheiten (z. B. unstrukturierte Tagesabläufe) und Eltern-Kind-Interaktionsstörungen können zu Fehl- und Mangelernährungen führen. Langfristig können sie auch zur Entstehung von Essstörungen beitragen. Hinweise auf entsprechende Störungen können am ehesten im Rahmen der kontinuierlichen Betreuung der Familien gewonnen werden. In weniger schwerwiegenden Fällen können Beratungen in der Praxis ausreichend sein. Bei gravierenden Problemen kann die Einbeziehung einer Erziehungs- und Familienberatungsstelle sinnvoll sein.
Mangelernährung durch Diäten
Zunehmend häufiger müssen einseitige Diäten wie vegane Kost oder Trennkost als Ernährungsproblem in der Praxis thematisiert werden, um Fehl- und Mangelernährungen der Kinder zu verhindern. Die meist sehr vielfältig informierten Eltern handeln aus unterschiedlichen, z. T. schwer nachvollziehbaren Motiven heraus (u. a. weltanschauliche Gründe, Ernährungstrends). Eine Ernährungsberatung allein ist zur Überzeugung der Eltern meist nicht Erfolg versprechend. Nur durch eine längerfristige eingehende Beratung und empathische Begleitung können die Vorbehalte der Eltern abgebaut werden, um die Fortführung unnötiger restriktiver Diäten zu verhindern.
Ungünstige sozioökonomische Bedingungen
In der KIGGS-Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (2003 bis 2006) ließ sich nachweisenGedeihstörungsozioökonomische Bedingungen, dass ein niedriger sozio-ökonomischer Status einen eigenständigen Risikofaktor für einen schlechten Ernährungsstatus darstellt. Auch die ethnische Herkunft ist in diesem Zusammenhang ein wichtiger Einflussfaktor. Entsprechend häufiger sind auch ungünstige Einflussfaktoren in den betroffenen Familien feststellbar, die bei der Behandlung berücksichtigt werden müssen. Neben der Behandlung der Fehlernährung sind dabei meist Maßnahmen erforderlich, die nicht oder nur teilweise im Ausbildungs- und Tätigkeitsbereich eines Kinder- und Jugendarztes stehen (z. B. Sozialarbeit). Die Hauptaufgaben bei der Betreuung entsprechender Familien im Rahmen der hausärztlich-pädiatrischen Versorgung sollten daher sein:
-
•
Regelmäßige Kontrollen des körperlichen und seelischen Zustands des Kindes (auch ohne dringende medizinische Indikation)
-
•
Regelmäßige Beratung zur Alltagsbewältigung (Schwerpunkt Ernährung), schrittweise Verbesserung der Ernährungssituation des Kindes
-
•
Aktivierung möglicher Ressourcen zur Entlastung (Großeltern, Freunde)
-
•
Identifizierung der im Vordergrund stehenden familiären Probleme
-
•
Vermittlung von Beratungsstellen (z. B. Erziehungs- und Familienberatung, Krisenberatung, Selbsthilfegruppen)
-
•
Vermittlung von Hilfen (Öffentlicher Gesundheitsdienst, Jugendamt, freie Träger)
Vernachlässigung
Im Rahmen der längerfristigen hausärztlichen BetreuungGedeihstörungVernachlässigung können sich Hinweise für eine Mangelernährung im Rahmen einer Vernachlässigung ergeben. Probleme wie z. B. Überforderung, Überlastung, Eheprobleme, Gewalt in der Familie oder eigene psychische Erkrankungen werden von den Eltern oft nicht angesprochen. Die Thematisierung eines entsprechenden Verdachts erfordert eine angemessen-vorsichtige und geschickte Kommunikation mit den Eltern. Eine Belastung des Vertrauensverhältnisses zwischen Eltern und Arzt kann resultieren, im ungünstigsten Fall kann auch ein Arztwechsel damit verbunden sein. Im Sinne des Kindeswohls sollte dies den Arzt bei ausreichenden Hinweisen trotzdem nicht davon abhalten, einen entsprechenden Verdacht anzusprechen. Dies gilt genauso für Verdachtsmomente einer möglichen schweren Kindswohlgefährdung (schwere Vernachlässigung, Misshandlung oder psychische Erkrankungen der Eltern). In diesen Fällen müssen Beratungsstellen, Kriseneinrichtungen und/oder das zuständige Jugendamt eingeschaltet werden (Kap. 10.1).
Fallbeispiel.
Auflösung
Wegen der persistierenden Beschwerden und der ätiologisch unklaren Gewichtsabnahme erfolgte eine Labordiagnostik, die die folgenden auffälligen Werte ergab: Hämoglobin 10,8 (Nw 11,1–14,3), MCH mit 27,7 pg grenzwertig erniedrigt, (sonstige Blutbildwerte unauffällig), Eisen 37 ug/dl (Nw 43–184), Ferritin 11 ng/ml (Nw 15–150), IgG 1375 mg/dl (Nw 540–1340), ASAT (GOT) 67 U/l (Mw bis 53), Transglutaminase-IgA-Ak > 100 U/ml (Nw < 4). Bei deutlich erhöhtem tTG-IgA-Wert mit grenzwertiger Anämie bei Eisenmangel wurde die Verdachtsdiagnose Zöliakie gestellt. Nach einer entsprechenden Beratung der Mutter erfolgte eine Überweisung zu einer ambulanten Vorstellung in einer gastroenterologischen Poliklinik. Eine anschließend im Rahmen einer Gastro-Duodenoskopie durchgeführte Dünndarmbiopsie zeigte intraepitheliale Lymphozytenvermehrungen und eine Zottenatrophie (Marsh-Typ IIIa). Somit ließ sich die Diagnose einer Zöliakie auch histologisch bestätigen. Nach der Befundbesprechung erfolgte eine ausführliche Beratung zur Grunderkrankung. Anschließend wurden Eltern und Kind im Rahmen einer Ernährungsberatung durch eine Ernährungsfachkraft ausführlich über eine strikt glutenfreie Ernährung informiert. Nach Einleitung der Diät erfolgten weitere Wiedervorstellungen in der Praxis des betreuenden Kinderarztes. In den folgenden Wochen musste die zunächst offenkundig überforderte Mutter in der Umsetzung der Diätempfehlungen unterstützt werden. Wegen schwieriger häuslicher Bedingungen (u. a. Alleinerziehung, ungünstige bisherige Ernährungsgewohnheiten, Erziehungsprobleme) waren neben wiederholten fachlichen Erläuterungen auch Hilfestellungen im sozialen und häuslichen Umfeld erforderlich. Die Ernährungsempfehlungen für das Kind konnten erst nach mehreren Wochen konsequent umgesetzt werden. Die Ernährungsvorgaben wurden an weitere, an der Ernährung des Kindes Beteiligte (Großeltern, Bekannte, Kindergarten) weitergegeben. Der Mutter wurden weitere Informationsmöglichkeiten vermittelt (Deutsche Zöliakie-Gesellschaft, Internetadressen, Selbsthilfe-Gruppen).
Bei der ersten geplanten Verlaufskontrolle nach drei Monaten zeigte sich ein bereits gebesserter Ernährungszustand (Anstieg des BMI und Aufholwachstum), das Kind war aktiver und zeigte eine rückläufige Hautblässe. Die Laborkontrolle ergab deutlich rückläufige tTG-IgA-Antikörper, die zuvor erniedrigten Werte für Hämoglobin, MCH, Eisen und Ferritin waren bereits im Normalbereich. Auch die Kontrollen von Vitamin B12 und Folsäure ergaben Werte im unteren Normalbereich. Die durchgeführte Eisensubstitution konnte beendet werden. Wegen der guten Therapieadhärenz wurden die nächsten Kontrollen nach sechs und anschließend nach weiteren zwölf Monaten vereinbart. Die tTG-IgA-Antikörper waren im weiteren Verlauf nicht mehr nachweisbar. Die Längen- und Gewichtsentwicklung verlief nach einem Perzentilenwechsel um zwei Hauptperzentilen nach oben kontinuierlich knapp unterhalb der fünfzigsten Perzentile. Bei bisher weiter komplikationslosem Verlauf erfolgten weitere regelmäßige klinische und laborchemische Verlaufskontrollen (BB, Feritin, tTG-IgA-Ak, GOT, BZ, TSH) einmal pro Jahr. Weitere, häufiger mit der Zöliakie assoziierte Erkrankungen (z. B. Diabetes mellitus, Schilddrüsenerkrankung) traten nicht auf.
Literatur und Internet
- AWMF-Leitlinie Zöliakie 2014. awmf.de
- Buderus S., Scholz D., Begrens R. Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen bei pädiatrischen Patienten. Dtsch Ärztebl Int. 2015;112:121–127. [Google Scholar]
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- Referenzperzentile für anthropometrische Maßzahlen und Blutdruck aus der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, RKI. 2013. [Google Scholar]
6.15. Hautausschlag
6.15.1. Stellenwert in der Grundversorgung
Hauterkrankungen von Hauterkrankung HautausschlagKindern und Jugendlichen gehören mit etwa 13 % nach Husten, Schmerzen und Fieber zu den vierthäufigsten Vorstellungsanlässen in der ambulanten Pädiatrie. Die sogenannten „klassischen“ Exanthem-Erkrankungen (Masern, Scharlach, Röteln, Ringelröteln, Dreitagefieber) müssen in der Praxis erkannt und von anderen Erkrankungen mit Hautausschlag abgegrenzt werden. Die Windeldermatitis ist die häufigste Hauterkrankung im ersten und zweiten Lebensjahr mit einer Prävalenz von 7–35 %. Neugeborene und Säuglinge zeigen in 40–70 % transitorische Hautveränderungen. Sogenannte „Muttermale“ sind die häufigsten Fehlbildungen im Säuglingsalter. Das atopische Ekzem (AE) ist mit einer Prävalenz von 5–12 % je nach Lebensalter eine wichtige chronische Erkrankung im Kindesalter. Etwa 60–70 % der 12- bis 25-Jährigen zeigen Symptome der Akne vulgaris. Sie ist somit die häufigste Erkrankung im Jugendalter.
6.15.2. Definitionen
Hautdiagnosen sind Blickdiagnosen.
Das visuelle Erscheinungsbild der Haut gibt, im Gegensatz zu anderen Erkrankungen, bereits den entscheidenden Hinweis auf die Diagnose. Da für Kinder und Eltern die meisten Hautsymptome „offen-sichtlich“ sind, erhoffen sie sich auch vom Untersucher eine unmittelbare Klärung. Daher ist es wichtig, sich mit der Effloreszenzenlehre vertraut zu machen. Hinter dem von Eltern oft benutzten Ausdruck „Ausschlag“ gilt es die sogenannten Primärläsionen zu suchen, wie Makulae, Papeln, Plaques, Noduli, Zysten, Pusteln oder Bläschen. Hautfarbe, Juckreiz und die sogenannten sekundären Zeichen wie Schuppung, Erosionen und Fissuren sind weitere wichtige Mosaiksteine der Diagnose. Problemorientierte Algorithmen anhand des visuellen Erscheinungsbilds, wie sie sich in manchen Lehrbüchern finden, erleichtern die Diagnosestellung. Hautsymptome sind häufig Zeichen einer Allgemeinerkrankung. Nach der Anamneseerhebung muss immer auch eine Ganzkörperuntersuchung erfolgen.
6.15.3. Klinisches Erscheinungsbild: Exantheme
Fallbeispiel.
Vanessa, sieben Jahre alt, wurde vor zwei Tagen aus der Schule nach Hause geschickt. Sie klagte über Kopf- und Halsschmerzen und fühlte sich ausgesprochen krank, obwohl das Fieber nur bis maximal 38,7 °C anstieg. Einen Tag später entwickelte sich ein feiner, samtartiger, zunehmend flächiger, hochroter Ausschlag vom Hals ausgehend, der jetzt auch in den Leistenbeugen besonders gut sichtbar ist. Im vorderen Zungenbereich finden sich „rote Punkte“; eine deutliche Rötung des vorderen Rachenrings und der Tonsillen sind weitere Symptome.
Fragen zum Fallbeispiel
-
•
WelchesExanthem sind die wichtigsten anamnestischen Fragen zur Differenzialdiagnose von Exanthemen?
-
•
Welches sind die unterschiedlichen Formen und Verteilungsmuster von Exanthemen mit und ohne Fieber?
-
•
Welche zusätzlichen Untersuchungen helfen bei der Differenzialdiagnose?
-
•
Welche unterschiedlichen Therapieansätze und Umgebungsmaßnahmen (Quarantäne, Wiederzulassung zu Gemeinschaftseinrichtungen, Riegelimpfung, Meldepflicht nach dem Infektionsschutzgesetz) sind zu beachten?
Scharlach
-
•
Durch Streptokokken-EndotoxinScharlach bedingte Trias aus Fieber, Enanthem und Exanthem (Abb. 6.29 )
-
•
Bei mäßig erhöhtem Fieber von 38–39 °C deutliches Krankheitsgefühl mit Halsschmerzen, hochrotem Enanthem im Bereich des vorderen Rachenrings und sogenannter „Erdbeerzunge“ als Zeichen der geschwollenen Papillen
-
•
Sichtbar ist ein „blasses Munddreieck“ und ein konfluierendes, samtartiges Erythem besonders inguinal, später auch auf den Stamm sich ausbreitend
-
•
Rachenabstrich (RA) zum Streptokokkennachweis (Streptokokkennachweis im RA ohne Exanthem ist kein Scharlach Kap. 6.6)
-
•
Über die richtige Therapie des Scharlachs wird immer wieder diskutiert (siehe Literatur). Ein bewährtes Schema ist: Penicillin V 100.000 I. E./kg KG/Tag für 10 Tage
-
•
Wiederzulassung zu Gemeinschaftseinrichtungen nach 48 Stunden bei sicherer Medikamenteneinnahme und Fieberfreiheit
Abb. 6.29.

Scharlachexanthem
[G550]
Masern
-
•
MasernMasern (Abb. 6.30 ) sind impfpräventabel, aber 2013 wurden 1.789 Fälle und in 2015 noch 2.459 Fälle gemeldet
-
•
Beginn mit katarrhalischem Vorstadium (Konjunktivitis, Pharyngitis, Husten und Fieber, Kopliksche Flecken an der bukkalen Mundschleimhaut)
-
•
Nach erneutem Fieberanstieg „morbilliformes“ Exanthem, sich über den gesamten Körper ausbreitend
-
•
Die Kinder fühlen sich krank und meiden das Licht
-
•
Die Diagnose wird klinisch gestellt. Es besteht Meldepflicht bei Verdacht, Erkrankung und Tod nach dem Infektionsschutzgesetz
Abb. 6.30.

Masernexanthem
[E816, R190–003]
Röteln
-
•
RötelnRöteln sind durch Impfprävention selten geworden
-
•
Beginn mit geringem Krankheitsgefühl, subfebrile Temperaturen, oft sehr diskretes, variables Exanthem (nicht konfluierende Makulae vom Gesicht ausgehend, sich über den Stamm ausbreitend)
-
•
Nuchale und parazervikale Lymphknoten!
-
•
Sichere Diagnose nur durch Serologie
-
•
Symptomatische Therapie
-
•
Es besteht Meldepflicht bei Verdacht, Erkrankung oder Tod nach dem Infektionsschutzgesetz
-
•
Bei wichtigen Entscheidungen wie dem klinischen Verdacht auf kongenitale Röteln oder Rötelnverdacht bzw. -kontakt von Schwangeren sollte eine serologische Abklärung erfolgen
Ringelröteln
-
•
RingelrötelnRingelröteln (Erythema infectiosum Abb. 6.31 Erythema infectiosum): Parvovirus B19
-
•
Kaum Krankheitsgefühl, Beginn mit Wangenrötung, Ausbreitung des girlandenförmigen Exanthems auf die Extremitäten. Bei Erscheinen des Exanthems bereits nicht mehr ansteckend
-
•
Keine Therapie
-
•
An mögliche Komplikationen denken: Arthritis (Hand- und Kniegelenk), Anämie, Thrombopenie. Umgebungsaufklärung wegen möglicher intrauteriner Infektion. Hier Serologie unabdingbar
Abb. 6.31.

Ringelröteln
[E422]
Dreitagefieber
-
•
DreitagefieberDreitagefieber (Exanthema subitumExanthema subitum): HHV 6 und 7
-
•
Dem Exanthem vorausgehend hohes Fieber, dabei Gefahr von Fieberkrämpfen, nach plötzlichem Entfiebern stammbetontes, kleinfleckiges, scarlatiniformes Exanthem
-
•
Meist Kleinkinder betroffen
-
•
Symptomatische Therapie
Was sieht ähnlich aus?
Unspezifische Virusexantheme werden meist durch Enteroviren ausgelöst, Morphe und Ausbreitung sehr variabel, von generalisiert morbilliform oder scarlatiniform zu vereinzelt fleckig oder anuläre (Abb. 6.32 ). Serologie nutzlos und teuer. Symptomatische Therapie.
Abb. 6.32.

Erythema chronicum migrans [E422]Erythema chronicum migrans
Wichtig Abgrenzung zu:
-
•
Arzneimittelexantheme zeigen ebenfalls ein sehr buntes Hautbild. Anamnese wichtig. Klassisch ist das Exanthem am siebten Tag nach einer mit Amoxicillin behandelten Mononukleose
-
•
Erythema chronicum migrans (anulares Erythem mit zentrifugaler Ausbreitung um den Zeckenbiss) als kutane Erstmanifestation der Borreliose
-
•
Urticaria acuta zeigt plötzlich auftretende ring- oder kreisförmige, leichte erhabene, juckende weiß-rote Plaques (Quaddeln), die an jeder Stelle des Körpers oft wandernd bereits innerhalb von Stunden wieder abblassen können (Abb. 6.33 ). Den Auslöser zu identifizieren ist oft schwierig und gelingt am ehesten über eine ausführliche Anamneseerhebung. Bei rezidivierender oder chronischer Urticaria empfiehlt sich das Führen eines Symptomkalenders. Die Therapie der akuten Phase besteht in der Gabe von Antihistaminika der 2. Generation wie Cetirizin oder Loratadin, bei ausgeprägtem Symptom auch orale Glucocorticoide.
Abb. 6.33.

Urticaria acuta [E422]Urticaria acuta
-
•
Erythema exsudativum multiforme: meist unbekannte Auslöser (medikamentös oder parainfektiös, häufig nach HVS- oder Mykoplasmen-Infektionen). Nach vorausgehendem leichten Krankheitsgefühl runde, rötliche Makulae besonders an den Streckseiten der Extremitäten (Abb. 6.34 ). Nach einigen Tagen entwickeln sich die typischen dreifarbigen Kokarden mit zentraler dunkler Macula.
Abb. 6.34.

Erythema exsudativum multiforme
[E422]
Behandlung und Beratung
Vorsicht.
Alle Kinder mit „Hautausschlägen“ und hohem Fieber sollten immer zeitnah ärztlich untersucht werden. Keine telefonische Beratung!
Seltener Notfall: Waterhouse-Friderichsen-Syndrom bei Meningokokkensepsis: rötliche bis bläuliche nicht wegdrückbare Makulae bei hochfieberndem, stark beeinträchtigtem Kind → Notarzt! Sofortige intravenöse Gabe von Penicillin G (250.000–400.000 U/kg/24h) – auch bei Verdachtsdiagnose – kann lebensrettend sein.
Die Meldepflicht für Infektionskrankheiten kann in einzelnen Bundesländern durch Landesgesetze unterschiedlich geregelt sein.
Fallbeispiel.
Auflösung
Vanessa zeigt alle Zeichen des Scharlachs: Fieber, Halsschmerzen, typisches Exanthem 12–24 Stunden nach Krankheitsbeginn. Ein Schnelltest auf Streptokokken sollte durchgeführt werden. Antigennachweis im Schnelltest sehr spezifisch, aber weniger sensibel. Die Therapie erfolgt typischerweise mit Penicillin-V-Kalium oder Benzathin-Penicillin-V, das eine zweimal tägliche Gabe ermöglicht und somit die Compliance deutlich erhöht. Vanessas Mutter sollte die Schule informieren. Vanessa kann bei Symptom- und Fieberfreiheit frühestens nach 48 Stunden konsequenter Penicillintherapie wieder in die Schule gehen. Wichtig: Die Penicillinbehandlung muss auch bei Symptomfreiheit über zehn Tage durchgeführt werden.
6.15.4. Klinisches Erscheinungsbild: Ekzeme
Fallbeispiel.
Der sechs Monate alte Levi zeigt eine zunehmende Rötung von Wangen, Kinn, Hals und oberem Brustbereich. Das Erythem der Wangen ist großflächig und nässend. Die Mutter berichtet von „trockener“ Haut mit einzelnen juckenden „Pickeln“ im Gesichtsbereich bereits nach dem dritten Lebensmonat. Bisher erst eine Impfung im Rahmen der Grundimmunisierung. Ein Geschwisterkind (fünf Jahre alt) hat „häufig Bronchitis“, der Vater leidet an Heuschnupfen.
Fragen zum Fallbeispiel
-
•
WelchesEkzem sind die Charakteristika des atopischen Ekzems (Morphe, Ausbreitung, Lebensalter)?
-
•
Wie verändert sich die Morphe im zeitlichen Ablauf?
-
•
Welche sekundären Veränderungen zeigt das atopische Ekzem?
-
•
Welche Therapieansätze gibt es?
-
•
Welches sind die wichtigsten anamnestischen Fragen zur Differenzialdiagnose und zur Familienanamnese des atopischen Ekzems?
Atopisches Ekzem (AE)
-
•
Altersabhängiges Verteilungsmuster der Effloreszenzen (Abb. 6.35 )
Abb. 6.35.

Altersverteilung des atopischen Ekzems [E422]Ekzematopisches
-
•
Beginn frühestens nach dem dritten Lebensmonat (Gesicht, Stamm, Streckseiten der Extremitäten, Windelregion ausgespart). Bei 80 % der Fälle Beginn bis zum zweiten Lebensjahr (Abb. 6.36 )
-
•
Ab Schulalter Chronifizierung mit besonderem Befall der Beugen (Arme und Beine), des Gesichts, des Nackens und später auch der Hände
-
•
Wechselnde Morphe je nach Alter und Chronifizierung: von papulosquamös, bei sekundärer Infizierung nässend, bis zur Lichenifikation
Abb. 6.36.

Atopisches Ekzem im Säuglings- und Kleinkindalter: Erythrodermie, Erosionen, sekundäre Infektion, starker Juckreiz
[E422]
Faktoren, die das AE verschlimmern:
-
•
Trockene Haut
-
•
Schwitzen
-
•
Stress und Ängste
-
•
Sekundäre bakterielle Infektionen
Was sieht ähnlich aus?
-
•
Seborrhoisches Ekzem: Im Säuglingsalter Erkrankungsbeginn häufig bereits vor dem dritten Lebensmonat (Milchschorf, Gesicht, Hals-und Windelregion). Lokalisation in der Adoleszenz: Gesichtsbereich und vordere und hintere „Schweißrinne“
-
•
Kontaktekzem: akutes Auftreten, Lokalisation je nach Exposition, genaue Anamnese!
-
•
Scabies: längliche Papeln und intrakutane Gänge, Befall von Händen und Füßen, besonders nächtlicher Juckreiz. Wichtig: Umgebungsuntersuchung und engmaschige Therapieüberwachung!
-
•
Pityriasis rosea: meist Jugendliche betroffen, typische ovale erythematöse Effloreszenzen über dem Stamm, linienartig angeordnet, größerer rötlicher Patch mit randständiger Schuppenkrause, sogenanntes Primärmedaillon, ist beweisend (Abb. 6.37 )
Abb. 6.37.

Pityriasis roseaPityriasis rosea: linienförmig angeordnete Makulae mit großem Primärmedaillon
[a: E636; b: L157]
-
•
Tinea capitis und corporis: einzelne scharf abgegrenzte erythematöse Plaques mit randständiger Schuppung (Abb. 6.38 ). Anamnestisch: Tierkontakt? Auslandsaufenthalt? Diagnostik: Wood-Lampe, abgeschabtes Material in 10-prozentiger Kalilauge mikroskopieren
Abb. 6.38.

Tinea corporisTinea corporis
[E816]
-
•
Seltene DD: Psoriasis vulgaris, Lichen planus, Lichen striatus
Behandlung und Beratung
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•
Die Behandlung des atopischen Ekzems ist eine Herausforderung, zumal sich auf diesem Gebiet Mythen und „Wunderheiler“ ausgebreitet haben. Die Therapie ist abhängig von Alter, Schweregrad (Ekzem-Score, Fotodokumentation nützlich), Sekundärinfektionen und Leidensdruck des Kindes und der Eltern; sie wird in Basistherapie, antiinfektiöse und antiinflammatorische Therapie unterteilt. Aufklärung (Kortisonangst), Patientenführung (Neurodermitisschulung) und Compliance sind wesentliche Bestandteile des immer auf einen langen Zeitraum angelegten Behandlungsplans.
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Das seborrhoische Ekzem des Säuglings wird mit hydrophiler Lotio behandelt, keine fettenden Salben. Gute Prognose: Symptomfreiheit meist im zweiten Lebensjahr.
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Scabies: 2,5- oder 5-prozentige Permethrin-Creme als wirksamstes Mittel der Wahl. Einmaliger Auftrag für 8–12 Stunden (ausführliche Therapieanweisung siehe Literatur).
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•
Pityriasis rosea bedarf keiner Behandlung.
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•
Tinea capitis und corporis: fungistatische Externa wie Clotrimazol (Canesten®) oder Bifonazol (Mycospor®). Behandlung zur Vermeidung von Rezidiven ein bis zwei Wochen über den Abheilungsprozess hinaus.
Fallbeispiel.
Auflösung
Es handelt sich um die Erstmanifestation einer atopischen Dermatitis mit Sekundärinfektion. Typisch sind der Beginn nach dem dritten Lebensmonat und der Erstbefall von Gesicht und Hals. Wichtig ist die Behandlung der Sekundärinfektion z. B. mit hydrophiler Chlorhexidin-Creme 1 %, danach hydrophile Creme und langsamer Übergang auf rückfettende Externa. Ausführliche Information der Mutter über den weiteren Verlauf und die Prognose. Wiedervorstellung aufgrund der Sekundärinfektion spätestens in einer Woche. Nach Abklingen der Sekundärinfektion Impfungen nach Impfplan vervollständigen. (Das atopische Ekzem stellt kein Hindernis dar!) Bei Persistenz des Ekzems und anhaltendem Leidensdruck Hinweis auf weitere Hilfen wie z. B. „Neurodermitisschulung“. Das fünfjährige Geschwisterkind sollte zur Abklärung eines kindlichen Asthmas einbestellt werden.
6.15.5. Klinisches Erscheinungsbild: Akne
Fallbeispiel.
Der 14-jährige Frank kommt zu J1-Untersuchung. Er fühlt sich gesund, hat keine Fragen, keine Beschwerden, keine Klagen. Die körperliche Untersuchung zeigt einen völlig normalen Jungen, außer einer Reihe von „Pickeln“ im Stirnbereich, auf Wangen und Kinn. Flache, hautfarbenen Milien wechseln mit offenen, dunklen Komedonen ab. Vereinzelt finden sich entzündete Papeln.
Fragen zum Fallbeispiel
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Welches ist die Pathogenese der Akne vulgarisAkne vulgaris?
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Welche verschiedenen Typen der Akne gibt es?
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Welches sind die Behandlungsmethoden der unterschiedlichen Verlaufsformen?
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Welches sind die Indikationen für eine systemische Isotretinoin-Therapie?
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Wie ist die Prognose der juvenilen Akne?
Akne vulgaris
Die Pathogenese der Akne vulgaris (Abb. 6.39 ) erklärt sich durch hormonell bedingte Verhornungsstörungen der Talgdrüsenöffnungen mit folgender Seborrhö und bakteriellen Superinfektionen durch Propionibacterium acnes.
Abb. 6.39.

Akne papulopustulosa: einzelne entzündliche Läsionen
[E422]
-
•
Milde Form: Akne miliaris, Akne comedonica: Milien und Komedonen
-
•
Mäßig schwere Form: Akne papulosa, Akne papulo-pustulosa: Komedonen, entzündliche Pusteln und Papeln
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Schwere Form: Akne nodulocystica, Akne conglobata: entzündliche Papeln, Zysten und Knoten
Was sieht ähnlich aus?
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•
Rosazea, besonders Steroid-Rosazea
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•
Molluscum contagiosum, wenn sekundär entzündet
Beratung und Behandlung
Die psychologische Beeinträchtigung des Jugendlichen kann schwerwiegend sein und muss in den Behandlungsplan mit eingehen. Die Stufentherapie der Akne vulgaris setzt wegen der langsamen Heilungserfolge eine besondere Überzeugungsarbeit zur Einhaltung der Compliance voraus. Glücklicherweise heilt die unkomplizierte Akne in bis zu 90 % der Fälle nach dem 20. Lebensjahr unkompliziert ab. Allerdings können Narben lebenslang zurückbleiben, deswegen ist eine frühe und aggressive Therapie wichtig:
-
•
Geduld! Keine zusätzlichen „todsicher“ wirkenden Salben oder Cremes
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Für das Gesicht seifenfreie Reinigung, möglichst ölfreie Kosmetika
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Keine Manipulation oder Ausdrücken der Komedonen
Medikamentöse Behandlung
Die einzelnen Therapeutika sollten mindestens drei Monate, die einzelnen Stufen mindestens vier Wochen eingehalten werden.
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•
Milde Form: Benzoylperoxid (BP) 2,5-/5-/10-prozentig zweimal jeden zweiten Tag, topische Retinoide täglich abends; ggf. topische antibiotische Therapie (Erythromycin, Clindamycin oder Kombination von Clindamycin/BP).
-
•
Mäßig schwere Form: zusätzlich orale antibiotische Therapie mit Erythromycin 20–30 mg/kg KG/Tag oder Doxycyclin 100 mg einmal täglich.
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•
Schwere Formen sollten zum Dermatologen zur oralen Retinoid-Therapie überwiesen werden. Während der Retinoid-Therapie ist bei Mädchen Kontrazeption essenziell.
Fallbeispiel.
Auflösung
Frank sollte eine Therapie mit Benzoylperoxid, topischen Retinoiden und einem topischen Antibiotikum angeboten werden: z. B. Aknefug-Oxid 3–5 % Gel, Isotrex Gel und Aknederm-Ery Gel 2–4 %. Trockene Haut als Nebenwirkung und die langsamen und nur bei regelmäßiger Therapie sichtbaren Erfolge sollten kommuniziert werden. Eine Wiedervorstellung bei Problemen auch ohne Termin, sonst in 4–6 Wochen.
6.15.6. Klinisches Erscheinungsbild: Bläschen, Pusteln, Papeln
Fallbeispiel.
Der fünfjährige Ali hat seit zwei Tagen Fieber um die 39 °C. Er ist appetitlos und entwickelte im Gesicht und am Stamm juckende rote Flecken und mit klarer Flüssigkeit gefüllte Bläschen. Rote Flecken zeigen sich auch an der Mundschleimhaut.
Fragen zum Fallbeispiel
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•
Welches ist die häufigste Diagnose bei Kindern mit vesikulärem Exanthem und Fieber?
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•
Welches sind wichtige anamnestische Fragen zur Differenzierung von vesikulären Exanthemen?
Windpocken (Varizellen)
-
•
ImpfpräventabelWindpocken (Varizellen) Varizellen, daher zunehmend seltener.
-
•
Über 2–5 Tage entwickeln sich schubweise Bläschen am Kopf, Stamm, Extremitäten, aber auch an der Mundschleimhaut (Abb. 6.40 ).
-
•
Starker Juckreiz.
-
•
Fieber meist unter 39 °C, nach Ausbruch des Exanthems noch 2–3 Tage anhaltend. Durch das schubweise Auftreten erscheinen die Stadien der Effloreszenzen (Vesikeln, Pusteln und Krusten) oft nebeneinander. Nach 7–10 Tage beginnen die Krusten abzufallen.
-
•
Narbenloses Abheilen, falls die Effloreszenzen nicht aufgekratzt werden.
-
•
Hochansteckend ein bis zwei Tage vor und 5–6 Tage nach Auftreten der ersten Bläschen.
-
•
Wiederzulassung zu Gemeinschaftseinrichtungen gewöhnlich nach 10 Tagen.
-
•
Es besteht Meldepflicht nach dem Infektionsschutzgesetz bei Krankheitsverdacht, Erkrankung sowie Tod.
Abb. 6.40.

Varizellen: Bläschen, Pusteln, Erosionen
[E422]
Therapie
Unkomplizierte Windpocken bedürfen keiner Behandlung. Zur Milderung des Juckreizes Lokaltherapie mit z. B. Tannosynt® Lotio. Nur bei immunsupprimierten Kindern Gabe von Aciclovir i. v.
Komplikationen der Varizellen
-
•
Bakterielle Superinfektionen besonders auf dem Boden eines atopischen Ekzems
-
•
Narben (18,7 %)
-
•
Zerebellitis (1:4 000): Gangunsicherheit nach Abklingen der Symptome!
-
•
Kongenitale Varizellen des Neugeborenen bei Erkrankung der Mutter 2–3 Wochen vor der Geburt.
Vorsicht.
Keine Acetylsalicylsäure bei Varizellen (und anderen Viruserkrankungen): Gefahr des Reye-Syndroms!
Hand-Fuß-Mund-Krankheit
-
•
Coxsackie A 16 und andere VirenHand-Fuß-Mund-Krankheit
-
•
Schmerzhafte Bläschen an der Mundschleimhaut und Lippen, dazu an Fingern, Händen und Füßen vereinzelte meist längliche Vesikel (Abb. 6.41 )
-
•
Keine Behandlung
Abb. 6.41.

Hand-Fuß-Mund-Krankheit
[R305]
Herpangina
-
•
Coxsackie A und B-Viren
-
•
Sehr schmerzhafte rupturierende Bläschen am weichen Gaumen und vorderen Rachenring (Kap. 6.6)
-
•
Bei Kleinkindern häufig Nahrungsverweigerung
Herpes zoster
-
•
Varizella-zoster-VirusHerpes zoster
-
•
Morphe wie Varizellen, typische Verteilung entlang der thorakalen Dermatome (aber auch: Zoster ophthalmicus und Zoster oticus)
-
•
Im Gegensatz zum Erwachsenenalter im Schulalter wenig juckend und wenig schmerzhaft
-
•
Leichte Fälle Behandlung wie Varizellen
Herpes simplex
-
•
Gruppe Herpes simplexvon Bläschen auf erythematöser Basis als Herpes labialis, Herpes facialis (Abb. 6.42 ), aber auch an Fingern und perianal
-
•
Perianal als Condylomata acuminata (auch an sexuellen Missbrauch denken)
Abb. 6.42.

Herpes facialis
[E422]
Gingivostomatitis herpetica (Mundfäule)
Gingivostomatitis herpetica Mundfäule
-
•
Schmerzhafte Bläschen und Erosionen im Lippen- und Mundbereich, intraoral Belege und foetor ex ore (Abb. 6.43 ).
-
•
Fieber und Nahrungsverweigerung häufig.
-
•
Therapeutisch Versuch mit Mundspülung mit Kamille-Lösung und Lokalanästhetika wie Lidocain (z. B. Dynexan® Mundgel).
-
•
Auf ausreichende Flüssigkeitszufuhr achten!
-
•
Lokale oder systemische Virostatika sind von geringem Nutzen, da sie meist zu spät im Verlauf der Krankheit eingesetzt werden.
Abb. 6.43.

Gingivostomatitis herpetica
[E422]
Impetigo contagiosa
-
•
StaphylokokkenImpetigo contagiosa 60–70 %, Streptokokken 30–40 %
-
•
Zarte, rasch rupturierende Bläschen, schmierig-gelbe Krusten auf erythematösem Grund
-
•
Bei Staphylokokken eher blasig (Impetigo bullosa)
-
•
Nur bei begrenztem Hautbefall lokal antiinfektiös behandeln z. B. mit Fucidine® Creme
-
•
Meist ist eine orale antibiotische Therapie notwendig z. B. mit Cefadroxil oder Cefaclor
Sonderform: Furunkel und Karbunkel.
Dermale Papeln und Knoten
-
•
Warzen (Verruca vulgaris): HauterkrankungWarzen Warzen Papeln, dermalePapillomaviren (HPV). Vereinzelte Papeln mit rauer Oberfläche meist an den Extremitäten, um das Nagelbett als periunguale Warzen. Plantare Dornwarzen an den Fußsohlen sind schmerzhaft und schwierig zu behandeln. Therapeutischer Versuch mit Solco-Derman®-Lösung in mehreren Sitzungen in der Praxis. Keine chirurgische Exzision oder Lasertherapie palmo-plantarer Warzen!
-
•
Dellwarzen (Molluscum contagiosum): DNA-VirusDellwarzen (Molluscum contagiosum). DerbeMolluscum contagiosum, hautfarbene Papeln, 2–5 mm Durchmesser, mit zentraler Delle, Aussaat in Gruppen. Meist keine Therapie notwendig, da oft spontane Remission nach Wochen und Monaten.
-
•
Selten: Epidermale Zysten 59 % aller Hautknoten im Kindesalter.
Stiche, Bisse und andere juckende Exantheme
-
•
Kopfläuse Kopfläuse (Pediculosis capitis Pediculosis capitis ): Nachweis von lebenden Läusen, Nissen allein nicht beweisend. Therapie mit hoch und niedrig viskosem Dimeticon (Nyda®) oder Permethrin-Lösung (Infectopedicul®) nach Gebrauchsanweisung. Nissen sorgfältig auskämmen, ggf. Wiederholung nach sieben Tagen
-
•
Katzenfloh und Hundefloh: oftFlöhe linear angeordnete stark juckende Papeln
-
•
Zecken (Ixodes ricinus): ZeckenZeckenbisseIxodes ricinus sind meist schmerzlos und bleiben oft unbemerkt. Entfernen der Zecke mit spezieller „Zeckenzange“. Etwa drei Wochen Nachbeobachtung zum Ausschluss eines Erythema migrans als Erstmanifestation einer Borreliose
-
•
Zerkarien-Befall Zerkarien-Befall (Bade-und Entenbeiß): stark juckende erythematöse Papeln nach Baden in Binnengewässer (Bodensee) oder Trombidiose-(Milben)befall nach Spielen im Gebüsch oder Heu
Von Zecken übertragbare Krankheiten:
-
•
Arboviren als Erreger der Frühsommer-Meningoenzephalitis. In FSME-Risikogebieten wird eine Impfung empfohlen.
-
•
Borrelien als Erreger der Borreliose.
Fallbeispiel.
Auflösung
Ali hat die typischen Zeichen der Windpocken. Die Therapie ist symptomatisch, gegen den Juckreiz z. B. Tannosynt®-Lotio.
6.15.7. Klinisches Erscheinungsbild: Windeldermatitis
Fallbeispiel
Alina, zehn Monate alt, hat seit fünf TagenWindeldermatitis eine Rötung im Windelbereich. Unauffällige Vorgeschichte: kein Fieber, kein Infekt der oberen Luftwege, kein Erbrechen oder Durchfall. Die Mutter gibt an, dass nach Gabe von „Vitaminsaft“ vor einer Woche der Stuhl etwas häufiger und dünnflüssiger gewesen sei. Sie habe schon mehrfach die Windelmarke gewechselt, ohne dass Besserung eingetreten sei. Es findet sich eine flächenhafte Rötung unter weitgehender Aussparung der Inguinalfalten. Die Rötung zeigt marginale weißliche Schuppung und erythematöse Satelliten mit Schuppung im Bereich der Oberschenkel. Bei der weiteren Untersuchung des Kindes keine Auffälligkeiten.
Fragen zum Fallbeispiel
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Welches sind die häufigsten Ursachen der Windeldermatitis?
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Welche unterschiedlichen Erscheinungsformen helfen bei der Differenzialdiagnose?
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Welches sind die Grundlagen der Behandlung?
Formen der Windeldermatitis
Rötung und erythematöse Papeln mit oder ohne Schuppung, manchmal mit Ulzerationen im Windelbereich und des unteren Abdomens (Abb. 6.44 ). Als Ursache kommen Hautirritationen durch Urin und Stuhl sowie Luftabschluss und Übererwärmung der betroffenen Hautbezirke infrage. Häufig Superinfektionen mit Candida albicans (Abb. 6.45 ).
Abb. 6.44.

Windeldermatitis: unscharf begrenzte erythematöse Papeln und Flecken, oft mit Hauterosionen
[G194]
Abb. 6.45.

Windeldermatitis mit Candidasuperinfektion: satellitenartige scharf begrenzte Papeln
[E696]
Was sieht ähnlich aus?
-
•
Irritative Kontaktdermatitis: erosive Jacquets-Dermatitis als schwerer Verlauf
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•
Candid-superinfizierte Windeldermatitis: häufig assoziiert mit Mundsoor
-
•
Impetigo durch Staphylokokken und Streptokokken im Anogenitalbereich (Abstrich!)
-
•
Seborrhoisches Ekzem: nicht nur Windelbereich betroffen
-
•
Seltene Differenzialdiagnosen: Psoriasis, Zinkmangel-Dermatitis, atopisches Ekzem
Behandlung und Beratung
-
•
Luft an die Haut lassen!
-
•
Häufiger Windelwechsel.
-
•
Zinksalbe (Pasta zinci mollis DAB), auch in Kombination mit Tannin 1 %. Bei Candidabefall antimykotische Therapie (Clotrimazol, Miconazol). Bei Mundsoor auch Brustwarzen der Stillenden mitbehandeln. Bei lang andauerndem oder therapieresistentem Verlauf und/oder häufigen Rezidiven auch an andere Grunderkrankungen denken.
Fallbeispiel.
Auflösung
Alina hat eine superinfizierte Windeldermatitis, wahrscheinlicher Auslöser ist die Gabe von fruchtsäurehaltigem „Vitaminsaft“. Aufklärung über Pflegemaßnahmen (häufiger Windelwechsel, hochabsorbierende Windeln), Verschreibung einer weichen Zinkpaste mit Zusatz von topischen Antimykotika. Wiedervorstellung in einer Woche, falls keine Verbesserung eingetreten ist.
6.15.8. Hauterkrankungen des Neugeborenen und des jungen Säuglings
Fallbeispiel.
Christoph: Die Mutter Hauterkrankungbeim Neugeborenendes zehn Tage alten Neugeborenen bemerkt multiple weiße ein bis 2 mm große weiße „Pickel“ auf der Stirn, Nasenrücken und Wangen, zusätzlich auch im Bereich des Gaumens. Die Schwangerschaft verlief normal, die vaginale Geburt ohne Komplikationen. Das Kind wird voll gestillt und zeigt keine weiteren Auffälligkeiten.
Sabine: Eine nach unkomplizierter vaginaler Geburt am dritten Tag entlassene Mutter bemerkt bei Sabine eine flächige Rötung mit multiplen Bläschen insbesondere im Brust- und Bauchbereich. Die Hebamme habe rektal „Fieber“ von 37,8 °C gemessen.
Fragen zum Fallbeispiel
-
•
Welches sind die Besonderheiten der Haut des Neugeborenen und jungen Säuglings?
-
•
Welches sind die häufigsten transitorischen Hauterkrankungen des Neugeborenen und jungen Säuglings?
-
•
Welche nicht transitorischen Hauterscheinungen des Neugeborenen und jungen Säuglings sollten einem dermatologisch erfahrenen Pädiater oder pädiatrisch erfahrenen Dermatologen vorgestellt werden?
Transitorische Hautveränderungen
-
•
Erythema toxicum neonatorum: Ab 2.–3. LebenstagErythema toxicum neonatorum, hochrote Flecken von 2–3 cm Durchmesser mit einer winzigen, 1 bis 2 mm großen Pustel auf Brust und Rücken, Gesicht, Extremitäten (Abb. 6.46 ). Blasst nach 4–5 Tagen ab; kein Fieber, keine Therapie!
Abb. 6.46.

Erythema toxicum neonatorum: erythematöse Flecken und Plaques mit einzelnen Papeln und Pusteln
[E422]
-
•
Milien: Bereits bei der Geburt vorhandene 1 bis 2 mm große Papeln, hauptsächlich auf Stirn, Wangen und Nase (Abb. 6.47 ). Als Eppsteinperlen im Mund häufig beidseits der medianen Gaumenraphe. Keine Therapie.
Abb. 6.47.

Milien [E422]Milien
-
•
Seborrhoisches Ekzem des Säuglings: gelblich fettig glänzendes schuppendes Ekzem (Abb. 6.48 ), besonders in den Hals-und Beugefalten sowie im Windelbereich. Als Milchschorf im Kopfbereich. Im Gegensatz zur atopischen Dermatitis bereits vor dem dritten Lebensmonat sichtbar. Therapie: Aufweichen der Krusten mit Öl, Hautpflege mit fettarmer Creme oder Lotio, im Windelbereich weiche Zinkpaste.
Abb. 6.48.

Seborrhoisches Ekzem [E816]Ekzemserborrhoisches
Was sieht ähnlich aus?
-
•
Transiente neonatale pustulöse Melanose: ähnlich Erythema toxicum
-
•
Miliaria cristallina: 1 bis 2 mm große Bläschen meist auf der Stirn, Ursache: feuchtwarme Luft
-
•
Naevus sebaceus: orange-gelbliche Plaques, ab Geburt meist im Kopfbereich
Infektiöse Hautveränderungen (selten)
-
•
Impetigo contagiosa
-
•
Neonatale Scabiose
-
•
Kongenitale und neonatale Candidiasis
-
•
Varizella- und Zostervirus-Infektionen des Neugeborenen
Vorsicht.
Staphylodermie: gelbliche gefüllte Pusteln 1–9 mm, rötliche Basis → Abstrich, Sepsis-Verdacht!
„Muttermale“
-
•
Naevus simplex (Storchenbiss) (40 % aller Kinder): blassrosa Erythem Muttermal Storchenbiss Mongolenfleck Feuermalunterschiedlicher Größe, besonders im Nackenbereich, Augenlider und Rücken. Blasst mit zunehmendem Alter ab und verschwindet im Verlauf der ersten beiden Lebensjahre.
-
•
Mongolenfleck: Bevorzugt Kinder aus Asien und Afrika. Bläulichschwarze Flecken mit unscharfen Rändern, meist am Rücken, werden mit zunehmendem Alter blasser.
-
•
Naevus flammeus (Feuermal): häufigNaevus flammeus unilaterales oder segmentales hellrotes Erythem, bereits bei Geburt vorhanden. Frühbehandlung mit gepulstem Farbstofflaser je nach Lokalisation und Ausbreitung. (Cave: medianer Lumbosakralbereich → Spina bifida occulta)
-
•
Säuglingshämangiome: 1,1–2,6 % Säuglingshämangiomaller reifen Neugeborenen mit einem Anstieg auf bis zu 12 % in den ersten zwölf Lebensmonaten. Je nach Lage (intra- oder subkutan) flach bis erhaben, Farbe dunkelrötlich, in der Regressionsphase von livide zu grau wechselnd (Abb. 6.49 ). Therapieoptionen hängen im Wesentlichen von der Lage ab: Hämangiome im Gesichtsbereich, einschließlich Mund und Lippen, Genitalbereich und Lumbosakralbereich müssen einem dermatologisch erfahrenen Pädiater oder einem pädiatrisch erfahrenen Dermatologen vorgestellt werden.
Abb. 6.49.

Nasales HämangiomHämangiom mit Atembehinderung
[E422]
Fallbeispiel.
Auflösung
Christoph: Es handelt sich um Neugeborenenmilien, Beruhigung der Mutter, keine Therapie.
Sabine: Auch das Erythema toxicum neonatorum bedarf keiner Behandlung. Bei Verdacht auf Staphylodermie Abstrich. Aufklärung der Mutter über die Frage: Wann spricht man von „Fieber“. Einweisung in rektales Fiebermessen.
Literatur
Pädiatrische dermatologische Lehrbücher:
- Abeck D., Cremer H. 4. Aufl. 2015. Häufige Hautkrankheiten im Kindesalter: Klinik-Diagnose-Therapie. [Google Scholar]
- American Academie of Pediatrics . Pediatric Dermatology: A Quick Reference Guide. 3. Aufl. 2016. [Google Scholar]
- Blume-Peytavi U., Albrecht-Nebe H., Sterry W. 1. Aufl. 2016. Atlas der pädiatrischen Dermatologie. [Google Scholar]
- Höger P.H. 3. Aufl. 2011. Kinderdermatologie: Differenzialdiagnose und Therapie bei Kindern und Jugendlichen. [Google Scholar]
Infektionserkrankungen und Infektionsschutzgesetz(letzter Zugriff: 20.1.2017):
- Übersicht www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/merkblaetter_node.html
- Scharlach www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber_Streptococcus_pyogenes.html;jsessionid=691117F20B95E26919FA0B5C347BE603.2_cid381#doc2374548bodyText9
- FSME www.rki.de/DE/Content/Infekt/Impfen/ImpfungenAZ/FSME/FSME.html
- Borreliose www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber_LymeBorreliose.html
- Scabies www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2009/19/Art_01.html
- Atopisches Ekzem Höger HP. Externatherapie des atopischen Ekzems im Kindesalter. Monatsschr Kinderheilkd. 2015;163:981–990. [Google Scholar]
6.16. Rote und verklebte Augen
Fallbeispiel.
Der Mutter fällt beim Abholen ihrer fröhlichen vier Jahre alten Tochter aus dem Kindergarten im Spätherbst ein einseitig verklebtes und gerötetes Auge auf (Abb. 6.50 ). Schmerzen oder Juckreiz gibt das Kind nicht an. Fieber hat es nicht. Rosa war zuvor nie mit ähnlichen Problemen aufgefallen. Auf Nachfrage bei der Kindergartenleitung hatten in den zurückliegenden Tagen andere Kinder ähnliche Beschwerden.
Abb. 6.50.

Rotes, verklebtes Auge
[F940–001]
Fragen zum Fallbeispiel
-
•
Welche Auge, gerötet und verklebtAngaben sind für die Diagnosefindung zielführend?
-
•
Wie soll die Mutter beraten und das Kind behandelt werden?
-
•
Was wären wichtige Differenzialdiagnosen, wenn das Mädchen zehn Monate bzw. zwölf Jahre alt wäre?
6.16.1. Stellenwert in der Grundversorgung
Rote und meist auch „verklebte“ Augen sind ein häufiges Problem der pädiatrischen Grundversorgung mit einem Anteil von ca. 5 % an allen Akutvorstellungen. Es lässt sich dabei eine deutliche Altersabhängigkeit mit einem Gipfel bei den Säuglingen (6,1 %) und einer kontinuierlichen Abnahme bis zu 2,5 % bei Jugendlichen feststellen. Aufgrund der Infektiosität (Schmierinfektion) erlauben viele Kindergärten für die Dauer der Erkrankung nicht den Besuch der Gemeinschaftseinrichtung. Die Kindeseltern benötigen deshalb hierfür häufig eine „Ärztliche Bescheinigung für den Bezug von Krankengeld bei Erkrankung eines Kindes“.
6.16.2. Definition
Das „rote Auge“ kommt zustande durch eine Weitstellung der konjunktivalen Blutgefäße. Häufig besteht eine ödematöse Bindehautschwellung (Chemosis).
Betroffen sind die Konjunktiven (Konjunktivitis), weniger häufig die Augenlider (Blepharitis) und deutlich seltener das Tränennasengangssystem (Dakryozystitis), extrem selten die Hornhaut (Keratitis).
Entzündungen der Uvea (Uveitis) mit ihren vier Bestandteilen (Iris, Ziliarkörper, Chorioidea und Retina) können mit einer Bindehautentzündung verwechselt werden, weil sie bei der vorderen Uveitis (Iris, Ziliarkörper) auch zu einer Hyperämie der Bindehaut (konjunktivale Injektion) führen können. Sie weisen auf eine systemische Grunderkrankung (siehe unten) oder seltene infektiöse Auslöser hin (z. B. Tuberkulose, Toxoplasmose, Toxocara).
Selten, wenn auch gefürchtet, ist die entzündliche Mitbeteiligung tiefer liegenden Strukturen in der Augenhöhle (Orbitalphlegmone).
Hauptursachen der Konjunktivitis Konjunktivitissind bakterielle oder virale Infektionen und Allergien (meist Pollinosis), weniger häufig Fremdkörper und sehr selten autoimmunologische Erkrankungen (Rheuma; M. Kawasaki).
6.16.3. Klinisches Erscheinungsbild
Das Erscheinungsbild variiert mit den Ursachen der Erkrankung und dem Alter des Kindes.
Neugeborene und Säuglinge
-
•
In der Regel bakterielle Infektionen: stark gefäßinjizierte Konjunktiven, gelbliche Sekretbildung, Wimpern- und Lidrandverklebung, Ödem der Bindehaut, gelegentlich Lidschwellung
-
•
Im Geburtskanal übertragene Erreger wie Chlamydien, Gonokokken
-
•
Ein- oder beidseitige Tränennasengangsobstruktion; Fremdkörper; sehr selten angeborenes Glaukom
Tränengangsobstruktion
PrävalenzTränengangsobstruktion 1–6 % der Neugeborenen und Säuglinge, verschwindet spontan bei 80 % der Säuglinge innerhalb des ersten Lebenshalbjahres und bei weit über 90 % bis zum ersten Geburtstag. Aufgrund des „Tränensees“ (Unterlidsack) besteht die Gefahr der Infektion und nachfolgenden Konjunktivitis.
Vorschulkinder
-
•
Allmählich dominieren virale über bakterielle Infektionen: typische bakterielle Verursacher: Haemophilus influenzae, Pneumokokken; Staphylokokken sind die Hauptverursacher der akuten Lidentzündung und der akuten Talgdrüsenentzündung am Lidrand (Hordeolum)
-
•
Virale Konjunktivitis oft Begleiterscheinung anderer Viruserkrankungen v. a. des Respirationstrakts
-
•
Symptomatik wie oben, bei rein viraler Ursache häufig stärker ausgeprägte Gefäßinjektion und Chemosis, Lichtempfindlichkeit
-
•
Nicht-infektiöse Ursachen:
Allergie (Pollinosis): Juckreiz, eher mäßige konjunktivale Injektion, Chemosis, eher wässriges Sekret
Schulkinder, Jugendliche
-
•
Allergie (Pollinosis): Symptome siehe oben
-
•
Virale Infektionen (Adenoviren; selten: Herpesviren): gefäßinjizierte Konjunktiven; Tränenfluss, Lichtempfindlichkeit
-
•
Nicht selten: nichtinfektiöse und nichtallergische Ursachen: Fremdkörper; toxische Reaktionen (Gas, Chemikalien, Hitze)
-
•
Selten: herpetische Keratokonjunktivitis (bei einseitigen periokulären vesikulären Effloreszenzen an Herpesinfektion denken!)
-
•
Sehr selten: Begleiterscheinung von Autoimmunerkrankungen (z. B. juvenile idiopathische Arthritis; M. Kawasaki): konjunktivale Injektion, Iridozyklitis, Keratitis, Uveitis
6.16.4. Diagnosen und Differenzialdiagnosen
Die infektiöse und die allergische Konjunktivitis sind die häufigsten konjunktivalen Erkrankungen. Der klinische Befund in Verbindung mit dem Alter des Kindes und der Anamnese führt schnell zur Diagnose.
Dem Labor (Kulturen, Serologie, Entzündungsparameter) kommt eine untergeordnete Rolle zu. Ausnahme ist der Verdacht auf
-
•
eine Infektion durch Chlamydien oder Gonokokken (Blenorrhö) bei Neugeborenen mit stark geschwollenen Augen,
-
•
eine Herpesinfektion,
-
•
einen komplizierten Verlauf (v. a. phlegmonöse Entwicklung): Blutbild und CRP.
Bei allen persistierenden, therapierefraktären „roten Augen“ → Augenarzt (Spaltlampenuntersuchung)
6.16.5. Beratung und Behandlung
Die meisten unkomplizierten Entzündungen der vorderen Augenabschnitte im Kindesalter sind in der Regel zwar selbstlimitierende Erkrankungsbilder, allerdings auch von langer Dauer (bis ca. zehn Tage).
Rezidivierende Konjunktivitiden auf dem Boden einer angeborenen Tränengangstenose erfordern ein an die Situation adaptiertes Vorgehen.
Tränengangstenose
-
•
Eine kreisförmige lokale Massage überTränengangstenose dem Nasolakrimalwinkel bewirkt manchmal einen Abfluss des gestauten Tränenwassers.
-
•
Bei Persistenz jenseits des ersten Lebensjahres: Bougierung des Gangs unter Narkose in Betracht ziehen.
-
•
Bei vermehrtem Tränenfluss und verklebten Lidern ohne Entzündungszeichen: nasses Auge auswaschen und abtupfen (nicht mit potenziell allergisierender Kamillenlösung).
Infektion
-
•
Ohne Komplikationen: evtl. zunächst abwartendes Verhalten (ein bis zwei Tage), Entfernung des Sekrets und der Krusten mit feuchtem Tuch
-
•
Fehlende Besserung oder vermehrte Eitersekretion: Verabreichung eines topischen Antibiotikums (Tobramycin, Kanamycin, Moxifloxazin, Gentamycin u. a.)
-
•
Ziel: Beschleunigung der klinischen Besserung und Verhinderung von Ansteckungen
-
–Bei Säuglingen und Kleinkindern besser Salben (einfachere Applikation)
-
–Bei älteren Kindern Tropfen (Sichttrübung durch Salben)
-
–Gute Händehygiene
-
–
Allergie
-
•
Stark juckende Konjunktivitis: antiallergische Tropfen (z. B. Levocabastin) bzw. corticoidhaltige topische Präparate (Cave: relative Kontraindikationen [Herpeskeratitis] und potenzielle Nebenwirkungen [Katarakt und Glaukom])
-
•
Hyposensibilisierung (SCIT, SLIT) kann entsprechend den Leitlinienvorgaben erwogen werden
Der Besuch einer Gemeinschaftseinrichtung (v. a. Kindergarten) ist wieder möglich, wenn eine deutliche Symptombesserung eingetreten ist. Eine Gesundheitsbescheinigung durch den Arzt ist gesetzlich nicht vorgesehen, wird aber in der Praxis sehr häufig verlangt. Nur bei nachgewiesener Adenovirus-Infektion empfiehlt das RKI aufgrund der Dauer der Ansteckungsfähigkeit eine Kindergartenkarenz von 2–3 Wochen. Eine Meldepflicht nach dem Infektionsschutzgesetz besteht hier nur bei nachgewiesenem Erreger im Konjunktivalsekret.
Fallbeispiel.
Auflösung
Zielführende anamnestische Angaben ergeben sich aus dem Alter und dem Kindergartenumfeld mit ähnlichen Erkrankungsbildern; die Jahreszeit schließt eine allergische Ursache durch z. B. Gräserpollen aus, die bei älteren Kindern zu einer anderen Jahreszeit differenzialdiagnostisch in Erwägung gezogen werden müsste. Eine Tränengangsenge betrifft vor allem die jüngeren Säuglinge und ist in diesem Alter sehr selten.
Die klinische Untersuchung (nicht krank wirkend, schmerzlose und nichtjuckende Rötung, Schwellung und Sekretion) erhärtet den Verdacht auf eine infektiöse Konjunktivitis.
Empfehlungen an die Eltern: Zunächst abwartende Beobachtung mit sorgfältigem Säubern/Abwaschen, Karenz (KiTa), je nach Verlauf antibiotische Augentropfen.
Literatur
- Berkowitz C. Berkowitz's Pediatrics 5th Edition. Chicago: American Academy of Pediatrics. 495–500, 501–504.
- Pleyer U. Differenzialdiagnose bei Augenentzündungen. Gratwanderung zwischen harmlos und böse. Pädiatrie Hautnah. 2008;6:372–377. [Google Scholar]
6.17. Jungenmedizin und Kindergynäkologie
6.17.1. Jungenmedizin
Fallbeispiel.
Justin (15 Jahre) kommt in die Praxis mit unklarem „Ziehen“ in der rechten Leiste. Er hat seit Kurzem eine Freundin.
Frage zum Fallbeispiel
Hidden agenda?
Stellenwert der Jungenmedizin in der Grundversorgung
Während vor JungenmedizinPubertätseintritt die Jungen wie die Mädchen meist in elterlicher Begleitung zu Vorsorgen und bei Erkrankungen in die Praxis kommen (ähnliche Fallzahlen Mädchen/Jungen), brechen die Arztbesuche in und nach der Pubertät deutlich bei Jungen ein. Statistisch scheinen die Jungen gesünder zu sein und seltener eine medizinische Betreuung zu benötigen. Folgendes wird dabei übersehen:
-
•
Für Jungen ist Krankheit mit Weiblichkeit verbunden. Zumeist haben sich die Mütter darum gekümmert. In der Phase der Geschlechtsidentifikation ist Krankheit eher mit Peinlichkeit behaftet. Gesundheit ist für Jungen primär selbstverständlich. Das Bild von Männlichkeit verträgt sich nicht mit Krankheit.
-
•
Die Eltern sind bzgl. ihrer Töchter wesentlich sensibler im Hinblick auf Erkrankungen und Verletzungen als bei ihren Söhnen. Auf medizinische Hilfe wird weniger Wert gelegt.
-
•
Für Mädchen gibt es bessere Versorgungsstrukturen im Bereich Gesundheit. Jungen wissen oft nicht, wohin sie sich wenden sollen, besonders bei spezifischen medizinischen Fragen. Vorsorge- und Angebote rund um die Gesundheit erreichen die Jungen weniger.
-
•
Der Forschungs- und Wissensstand bzgl. Gesundheitsproblemen bei Jungen ist flach und ungenügend.
-
•
Bei Jungengesundheit fehlt weitgehend die Perspektive auf psychische und soziale Gesundheit.
Was lässt Jungen den Arzt aufsuchen?
-
•
Vorsorgen (z. B. J1: 30–40 %)
-
•
Akute Gesundheitsprobleme (Atmung/Infekte, Hauterkrankungen etc.)
-
•
Verletzungen/orthopädische Probleme
-
•
Psychosoziale Probleme (Schule, Familie u. a.)
-
•
Probleme im Zusammenhang mit Genitalsystem (Cave: hidden agenda!)
-
•
Impfungen
Merke.
Jeder Arztbesuch sollte zum Beziehungsaufbau genutzt werden!
Worauf ist bei den Vorsorgen zu achten
Bei Geburt: Hypospadie Hypospadie
-
•
Je proximaler der Meatus liegt, desto häufiger sind Fehlbildungen der ableitenden Harnwege (Urogenitaltrakt!) → Ultraschalluntersuchung der ableitenden Harnwege → Hodenhochstand? Leistenbruch?
-
•
Korrektur: optimales Zeitfenster um den 1. Geburtstag (Jungen dürfen nicht zirkumzidiert sein!)
Proximale Hypospadien (insbesondere in Kombination mit Hodenhochstand) immer einer erweiterten Diagnostik zuführen! (z. B. Begleitfehlbildungen, Syndrome, DSD etc.)
Erkrankung ist den Eltern häufig unbekannt oder wird tabuisiert! Schon nach der Entbindung einen Kinderurologen oder Kinderchirurgen hinzuziehen.
U2–U6
-
•
Physiologische Phimose (96 %) bzw. Vorhautverklebung: Nicht versuchen, die Vorhaut über die Eichel zu schieben! Kein Lösen der Verklebung!
-
•
Hygiene:
-
–Penis mit lauwarmem Wasser abspülen
-
–Vorhaut nur so weit zurückstreifen, wie problemlos möglich
-
–Im späteren Kindes- und Schulalter ist der Junge selbst für die Hygiene zuständig
-
–
-
•
Hodenhochstand:
-
–Häufigkeit von 0,7–3 % bei reif geborenen Jungen, bei Frühgeborenen bis zu 30 % → häufigste kongenitale Anomalie des Urogenitaltrakts.
-
–In ca. 0,8 % auch (noch) im Jugendalter (Pendelhoden wird zum Gleithoden?!). Spontaner Deszensus bei ca. 7 % aller betroffenen Knaben (jenseits des 1. Halbjahres kaum noch zu erwarten).
-
–
Merke.
Eine Ballonierung der Vorhaut unter Miktion mit hernach gutem Urinstrahl ist völlig harmlos!
U6–U10
-
•
Lichen sclerosus: seltene, chronisch entzündliche, nicht ansteckende Hauterkrankung (Autoimmunerkrankung?)
-
•
Phimose/Vorhautverklebung: Durch Reifungsvorgänge → Auflösung der physiologischen Phimose zwischen dem 3. und 5. Lebensjahr, spätestens bis zur Pubertät. Zuwarten ist geboten!
-
•
Pendelhoden/Gleithoden: Pendelhoden versus Gleithoden: regelmäßige Kontrolle (Eltern instruieren), Cave: sekundäre Aszension → Gleithoden → Sekundärschaden → OP-Indikation
U11 und J1–J2
-
•
Phimose (Vorhautretraktion demonstrieren lassen)
-
–Primär lokal behandeln (siehe Phimose/Zirkumzision)
-
–Bleibt die Phimose bestehen → unter lokaler Betäubung oder Vollnarkose vorhauterhaltende, plastische Operation (z. B. Triple Inzision)
-
–
-
•
Hirsuties papillaris penis („Hornzipfel“), ca. 15–25 % der Jungen in der Pubertät – bei etwa 10–30 % der Männer
-
–Kein Zusammenhang mit sexuellen Aktivitäten
-
–Obwohl völlig harmlos, können Hornzipfel betroffene Jungen erheblich verunsichern
-
–
-
•
Unterschiedliche Hodengröße
-
–Unterschiedliches Hodenwachstum/einseitiger Beginn des Hodenwachstums relativ häufig
-
–Differenzen von 2–3 ml tolerabel
-
–Weitere Abklärung bei deutlicheren Größenunterschieden
-
–Untersuchung im Liegen und Stehen (Varikozelen werden sonst übersehen!)
-
–
Merke.
Wichtig ist die kontinuierliche aktive Dokumentation der Hodenuntersuchungen in den ersten Lebensjahren im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen und die damit verbundene Aufklärung der Eltern.
Untersuchung
Generelle Prinzipien:
-
•
Beachten Sie das natürliche Schamgefühl!
-
•
Initiale Erläuterung der Untersuchung und das Gespräch (Eltern und Patient)
-
•
Klärung der Anwesenheit weiterer Personen (z. B. Mutter/Vater oder Personal)
-
•
Schweigepflichtaufklärung
-
•
Nie eine Untersuchung des Patienten im völlig entkleideten Zustand
-
•
Erwartungen des Patienten erfragen und berücksichtigen
-
•
Kommentare und Erklärungen während der Untersuchung
-
•
Vermeidung von ausschweifenden Erklärungen erst recht, wenn der Patient im spärlich bekleideten Zustand sich befindet
-
•
Anleitung zur Selbstuntersuchung bei der Untersuchung des Genitales
Merke.
Störungen seitens des Personals nicht zulassen! Jungen vorher fragen, ob Begleitperson(en), z. B. Eltern oder Freundin, bei der Untersuchung dabei sein sollen oder dürfen.
Inspektion
-
•
Vorbereitung
-
–Erklärung vor der Untersuchung
-
–Lage auf der Untersuchungsliege, dann ggf. im Stand bei heruntergelassener Unterhose (wichtig z. B. bei Verdacht auf Varikozele)
-
–Inspektion des Genitale und seiner Umgebung
-
–
-
•
Inspektion der Haut im Inguinalbereich/Hygiene etc.
-
•
Inspektion der Pubesbehaarung
-
–Pubertätsstadium (Tanner)
-
–Läuse, Flöhe, Scabies etc.
-
–
Palpation
-
•
Leistenbereich → Lymphknoten?
-
•
Vorhautretraktion (durch den Patienten)
-
•
Untersuchung des Skrotums:
-
–Vorsichtiges Abtasten des Hodens und Nebenhodens
-
–Zwischen Daumen und ersten zwei Fingern
-
–Achten auf Schwellung/Seitendifferenz, Knoten, Oberflächenveränderung, lokale Schmerzen etc.
-
–Hodenvolumenbestimmung (Orchidometer)
-
–Abtasten des Samenleiters
-
–
-
•
Palpation des Penis (vom Patienten demonstrieren lassen!)
-
–Penisgröße – Penisschaft – Glans penis – Vorhaut
-
–(Ulzerationen, Verletzungen, Frenulumverkürzung, Entzündungen …)
-
–Vorhaut vom Patienten zurückziehen lassen
-
–Vorsichtige Kompression der Glans penis zur Darstellung des Meatus urethrae (wichtig z. B. bei V. auf Meatusstenose) → Ausfluss? → Lage und Form
-
–
-
•
Evtl. Untersuchung auf Herniation
-
•
Nur in medizinisch begründeten Ausnahmefällen rektale Untersuchung (Begründung!)
Merke.
Palpation unbedingt …
-
•
bei allen sexuell aktiven Jungen sowie bei Verdacht auf sexuell übertragene Erkrankungen (STD).
-
•
bei skrotalem Trauma, Verdacht auf Hydrozele, Varikozele, Spermatozele oder Tumor.
-
•
bei Verdacht auf Leistenhernie.
-
•
bei Verdacht auf Penisanomalien (Meatusstenose, Hypospadie, Phimose, Miktionsstörungen).
-
•
zum Unterweisen der Selbstuntersuchung.
Tab. 6.35.
Entwicklungsereignisse beim JungenJungenmedizinEntwicklungsereignissePubertätsentwicklung
| G1–5 | P1–6 |
|---|---|
| G1: Präpubertär | P1: keine Behaarung |
| G2: Skrotum und Testis vergrößert | P2: wenige, leicht pigmentierte Schamhaare an der Basis des Penis |
| G3: Längenzunahme des Penis | P3: dunklere, dichtere und gekräuselte Haare über der Symphyse |
| G4: Zunahme des Penis bzgl. Länge und Umfang, Kontur der Glans wird deutlich | P4: kräftige Behaarung wie beim Erwachsenen, aber geringere Ausdehnung als P5 |
| G5: Genitale voll entwickelt | P5: Kräftige dreiecksförmige Behaarung, nach oben horizontal begrenzt, seitlich auf die Oberschenkel übergreifend |
| P6: Virile, gegen den Nabel hin zulaufende Ausdehnung (ca. 80 % der Männer) |
Entwicklungsereignisse und Pubertätsstadien zeigen Abb. 6.51 und Abb. 6.52 .
Abb. 6.51.

Pubertätsentwicklung: Entwicklungsereignisse beim Jungen (Tab. 6.35)
[F941–001]
Abb. 6.52.

Pubertätsstadien: a) Penisgröße; b) Schambehaarung
[G600]
Fallbeispiel.
Auflösung
„Ziehen in der Leiste“ ist in der Pubertät bei Jungen ein häufiges Symptom und völlig unspezifisch. Von einem harmlosen Symptom, fraglich bedingt durch das Wachstum des Hodens, bis hin zur Hodentorsion ist alles als Ursache möglich.
Justin hatte Angst, dass er sich beim ersten Geschlechtsverkehr „verletzt“ hatte. Er konnte beruhigt nach Hause gehen. Vorher wurde er noch in der Selbstuntersuchung unterwiesen und versprach, bei Auffälligkeiten zu kommen (Beziehungsangebot).
Hodenhochstand
Fallbeispiel.
Bei der Vorsorgeuntersuchung von Ludwig (im Alter von sechs Wochen) fällt auf: kleines Skrotum bei Maldescensus testis beidseits.
Fragen zum Fallbeispiel
-
•
Wo sind die Hoden?
-
•
Wie sieht das männliche Genitale aus?
-
•
Hinweise für genetische oder syndromale Erkrankung?
-
•
Weitere Pathologie im Bereich der ableitenden Harnwege? (Sonografie?)
Stellenwert in der Grundversorgung
-
•
Von 1.850Hodenhochstand JungenMaldescensus testis mit primärem Hodenhochstand wurden 81 % nach dem vollendeten ersten Lebensjahr, also nicht leitliniengerecht, operiert (Hensel & Wirth, 2014).
-
–Nach Änderung der Leitlinie (2010) waren 72 % (vorher 79 %) der Kinder zum Operationszeitpunkt älter als 2 Jahre und immerhin noch 32 % (vorher 45 %) über 5 Jahre alt
-
–Leitliniengerechte OP:
-
–Mit kinderchirurgischer Abteilung (29 %)
-
–Ohne kinderchirurgische Abteilung (17 %)
-
–
-
–Niedergelassene Pädiater: 45 % waren sich des verzögerten OP-Zeitpunktes nicht bewusst
-
–
-
•
Von den behandlungsbedürftigen Formen der Retentio testis ist als Normvariante der PendelhodenPendelhoden („retractile testis“) abzugrenzen.
-
•
Der Pendelhoden sollte jährlich kontrolliert werden, da in 2–45 % der Fälle im Wachstumsverlauf eine sekundäre Aszension auftreten kann → Gleithoden (OP-Indikation).
Definition
Der Hodenhochstand ist die häufigste kongenitale Anomalie des Urogenitaltrakts und wird bei 0,7–3 % der reifgeborenen Jungen sowie bei bis zu 30 % der Frühgeborenen beobachtet (Abb. 6.53 ). Er ist Teil eines Primärschadens, der aus dem Hodenhochstand selbst, einer damit verbundenen Fertilitätsstörung und der erhöhten Malignitätsrate besteht. Die Ursache ist multifaktoriell.
Abb. 6.53.

Fünf Monate alter Säugling mit Maldescensus links
[P294]
Klinische Erscheinungsform
Der Hodenhochstand wird unterschieden:
-
•
Bauchhoden
-
•
Leistenhoden
-
•
Gleithoden
-
•
Hodenektopie
Diese Erscheinungsformen stellen alle eine Operationsindikation dar!
Merke.
Der Pendelhoden stellt keine Operationsindikation dar. Hier ist lediglich auf die sekundäre Aszension durch unzureichendes Längenwachstum des Funiculus zu achten.
Dieses ist bei 1,5 % der Pendelhoden zu beobachten (Pendelhoden → Gleithoden) und geht nicht mit einem Primärschaden einher. Differenzialdiagnostisch ist v. a. bei beidseitigem Hodenhochstand an eine Erkrankung aus dem Formenkreis der „disorders of sex development“ (Disorders of Sex Development, DSDDSD) zu denken.
Diagnose
Vorkommen des Hodenhochstandes:
-
•
Isoliert ohne zusätzliche Auffälligkeiten
-
•
Als Teilbefund im Rahmen genetischer oder syndromaler Erkrankungen (z. B. Kallmann-Syndrom)
-
•
Bei chromosomalen Störungen in bis zu 5 % der Fälle bei nicht-syndromalem Hodenhochstand (Humangenetische Abklärung)
Merke.
Von den behandlungsbedürftigen Formen der Retentio testis ist als Normvariante der Pendelhoden („retractile testes“) abzugrenzen. Der Pendelhoden sollte jährlich kontrolliert werden, da in 2–45 % der Fälle im Wachstumsverlauf eine sekundäre Aszension auftreten kann. Eine Hormontherapie oder Operation ist nicht indiziert. Spätestens zum Ende der Pubertät ist eine Aszension nicht mehr möglich und weitere Kontrollen sind nicht mehr erforderlich. Es liegt weder ein Primär- noch ein Sekundärschaden vor.
Formen des Hodenhochstands:
-
•
Retentio testisRetentio testis (R. t.)
-
–R. t. abdominalis (Bauchhoden)
-
–R. t. inguinalis (Leistenhoden)
-
–R. t. präscrotalis (Gleithoden)
-
–
-
•
HodenektopieHodenektopie
-
–Präfasziale Hodenektopie
-
–Ektopia penilis
-
–Ektopia perinealis
-
–Ektopia femoralis
-
–
-
•
Pendelhoden = Normvariante – überschießender Kremasterreflex
Störungen der Geschlechtsentwicklung (disorders of sex development – DSD) sollten entsprechend AWMF-Leitline „Störungen der Geschlechtsentwicklung“ abgeklärt werden.
Behandlung
Behandlungsziel
-
•
Frühzeitige Verlagerung des Hodens in das Skrotum zur Verhinderung des Sekundärschadens am Hoden
-
•
Einen vorher nicht tastbaren Hoden der klinischen Untersuchung zugänglich machen
Therapie
(gemäß AWMF-Leitlinie S2k-Leitlinie: Hodenhochstand – Maldescensus testis, Stand Juli 2013; wird derzeit überprüft und überarbeitet)
-
•
Im ersten Lebensjahr:
-
–Hormontherapie: Die Hormontherapie mit dem Ziel, einen Descensus zu erreichen, kann mit der isolierten Gabe von GnRH (3-mal 400 µg/Tag als Nasenspray über 4 Wochen), von hCG (1-mal 500 I. E. wöchentlich als Injektion über 3 Wochen) oder als kombinierte Therapie mit GnRH mit der nachfolgenden Gabe von hCG erfolgen.
-
–Die Erfolgsrate für einen Descensus liegt bei ca. 20 %. Die Erfolgsrate ist umso höher, je näher der Hoden am Skrotum liegt. Für GnRH beträgt sie 21 %, (werden Pendelhoden, die ja keiner Therapie bedürfen, ausgeschlossen, nur 12 %; werden abdominal gelegene Hoden ausgeschlossen 45 %), für hCG 19 % (13–25 %) und Placebo ca. 4 %. Eine erneute Aszension des Hodens tritt in ca. 25 % auf. Eltern sollen über die Erfolgsrate aufgeklärt werden.
-
–Ggf. anschließend Orchidopexie
-
–
-
•
Nach dem 1. Lebensjahr: Orchidopexie (eine Hormontherapie ist nicht mehr indiziert!)
Was der Grundversorger wissen sollte
-
•
Eine Behandlung sollte bis zum 1. Geburtstag abgeschlossen und beide Hoden im Skrotum sein (Abb. 6.54 , Abb. 6.55 ).
-
•
Ein Descensus ist jenseits des 1. Halbjahres kaum noch zu erwarten.
-
•
Mangelnder Hodendescensus → Teil eines Primärschadens (Fertilitätsstörung, erhöhte Malignitätsrate, Maldescensus) – Sekundärschaden durch Belassen in Fehlposition.
-
•
Je länger der primäre Hodenhochstand besteht, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit der Entartung. Es besteht ein 1,5- bis 7,5-faches Risiko für ein Hodenkarzinom im Vergleich zur Normalbevölkerung. Bei Orchidopexie nach dem 10. Lebensjahr steigt dieses Risiko auf das 2,9- bis 32-Fache an.
-
•
Keine Hormontherapie nach dem 1. Geburtstag!
-
•
Pendelhoden bedürfen der regelmäßigen Kontrolle → Gleithoden? → Sekundärschaden! Tritt ein Gleithoden infolge der sekundären Aszension auf, sollte er baldmöglichst der Orchidopexie zugeführt werden. Jenseits der Pubertät ist eine Entwicklung zum Gleithoden nicht mehr gegeben.
-
•
Regelmäßige Selbstuntersuchung nach dem 15. Lebensjahr (besonders bei Z. n. primärem Hodenhochstand wegen des erhöhten Entartungsrisikos).
-
•
Bei intraabdomineller Lage ist die Laparoskopie die Methode der Wahl.
-
•
Syndromale Erkrankungen besonders bei beidseitigem Hodenhochstand bedenken.
-
•
Kontrolle des OP-Erfolges alle drei Monate im 1. postoperativen Jahr, um Rezidive oder sich entwickelnde Hodenatrophien zu erfassen.
-
•
Hodenbiopsien bei Hodenhochstand sind routinemäßig nicht indiziert.
Abb. 6.54.

Handlungsempfehlung bei Hodenhochstand (gemäß der Leitlinie Hodenhochstand. Monatsschr Kinderheilkd. 2015; 163: 67–68)
[F705–006]
Abb. 6.55.

Zeitschiene Intervention (gemäß AWMF-Leitlinie)
[W1011]
Fallbeispiel.
Auflösung
Eine genetische und syndromale Erkrankung konnte bei Ludwig ausgeschlossen werden. Nach persistierendem beidseitigem Hodenhochstand jenseits von sechs Monaten wurde eine Hormontherapie durchgeführt. Diese brachte nicht den gewünschten Erfolg, sodass Ludwig anschließend eine beidseitige Orchidopexie erhielt.
Hypospadie
Fallbeispiel.
Philipp (16 Jahre) hat seit Kurzem eine Freundin. Er war bisher noch nie in der Praxis, hat aber gehört … „Bei meinem Glied ist etwas anders als bei meinen Freunden …“
Fragen zum Fallbeispiel
-
•
Was ist anders?
-
•
Beschwerden/Erektionsbeschwerden (deutet auf Frenulumverkürzung/Penisdeviation hin)
-
•
Sexualkontakt?
Stellenwert in der Grundversorgung
Die InzidenzHypospadie der Hypospadie liegt bei 0,3–0,7 %, Tendenz steigend. Die Ursachen sind bislang nicht vollkommen geklärt. Diskutiert werden bei einer familiären Häufung von 5–10 % genetische, aber auch endokrinologische Faktoren. Unter anderem stehen auch Dioxine, Pestizide und Phyto-Östrogene (z. B. Soja!) als (Mit)Verursacher in Verdacht. In den letzten Jahren zunehmend häufiger. Da gerade in den südlichen Ländern Europas und im Orient das männliche Genitale häufig eine absolute Tabuzone ist, werden durch Migration in Zukunft auch bei älteren Jungen Hypospadien häufiger diagnostiziert werden.
Definition
Es handelt sich um eine Fehlbildung des Penis mit inkompletter Entwicklung der Urethra und fehlendem Schluss der Vorhaut, die als dorsale Schürze imponiert (Abb. 6.56 ). Der Meatus befindet sich an der Unterseite der Glans, der Koronarfurche, des Penisschaftes, am Skrotum oder am Perineum (im Gegensatz zur sehr seltenen Epispadie. Hier befindet sich der Meatus urethrae auf der Dorsalseite des Penis.).
Abb. 6.56.

Subkoronare Hypospadie
[E331]
Zusätzlich besteht eine Fehlbildung des Corpus spongiosum urethrae. In ca. 70 % auch der weniger ausgeprägten Formen besteht eine Penisdeviation.
Merke.
Kombination von Hodenhochstand …
und Leistenhernie (ca. 9 %), Utriculus prostaticus masculinus (ca. 11 %) bei ausgeprägten Formen, Fehlbildungen der Nieren und ableitenden Harnwege (ca. 3 %).
„Urogenitaltrakt“ → Fehlbildungen im Urotrakt gehen überproportional mit Fehlbildungen im Genitaltrakt einher (und umgekehrt) → sonografisch Fehlbildungen ausschließen!
Klinisches Erscheinungsbild
Die Klassifikation der Hypospadie erfolgt nach Barcat (1973) und richtet sich nach der Meatuslokalisation (Abb. 6.57 ).
Abb. 6.57.

Einteilung der Hypospadie (nach Barcat 1973)
[G600]
Merke.
Die Hypospadie geht häufig mit einer Krümmung des Penisschaftes, einer Meatusstenose (Verengung der äußeren Harnröhrenmündung), einer Vorhautschürze oder einem Hodenhochstand (Maldescensus testis) einher.
Begleiterscheinungen:
-
•
Schwächer ausgebildetes Selbstwertgefühl
-
•
Später als gewöhnlich erste Sexualkontakte
Diagnosen und Differenzialdiagnosen
-
•
Kongenitale Hemmungsfehlbildung der Urethra, des Corpus spongiosum, der Glans und des Praeputiums. Dadurch Verlagerung des Meatus urethrae (Einteilung nach Barcat Abb. 6.57)
-
•
Abgrenzung gegenüber Intersexualität, Hypogenitalismus, ggf. Karyotypisierung
Merke.
Die Hypospadie kann für den Jungen und die Eltern eine große psychische Belastung darstellen. Die Konfliktkonstellation beginnt nach der Geburt bei der Diagnosestellung. Das Internet mit der ungefilterten und unbegrenzten Verfügbarkeit von Informationen stellt einen wesentlichen Verunsicherungsfaktor dar. Trotz der relativen Häufigkeit der Hypospadie ist die Erkrankung bei Eltern fast unbekannt oder wird tabuisiert (Wichtig: Kinderchirurgisches Konsil schon in der Geburtsklinik).
Beratung und Behandlung
Die Behandlung der Hypospadie ist operativ und hat zum Ziel, ein funktionelles und kosmetisch optimales Ergebnis zu erhalten. Die operative Korrektur sollte spätestens im 2. Lj. (optimal 9.–12. LM) stattfinden. Unter Berücksichtigung kinderpsychologischer Faktoren ist der beste OP-Zeitpunkt um den 1. Geburtstag herum. Da zur Korrektur Vorhautmaterial benutzt wird, sollte unbedingt eine Beschneidung verhindert werden (z. B. muslimische und jüdische Bevölkerung). Eine lokale Vorbehandlung mit Dihydrotestosteron-Gel/-Creme senkt die Komplikationsrate.
Spätkomplikationen:
-
•
Fistel
-
•
Harnröhrenstriktur
-
•
Restverkrümmung
Jedwede Hypospadie bei allen Formen von Gonadendysgenesie ist als ein Zeichen männlicher Geschlechtszugehörigkeit zu betrachten.
Behandlungsziel ist es, ein funktionelles und kosmetisch optimales Ergebnis zu erhalten. Eine nicht korrigierte Hypospadie im Jugendalter ist bislang selten. Die eigentliche sexuelle Funktion nach Hypospadienkorrektur ist im Erwachsenenalter in der Regel nicht beeinflusst.
Grundsätzlich ist eine Korrektur im Jugend- und Erwachsenenalter möglich, allerdings meist mit deutlich schlechterem Ergebnis und höherer Komplikationsrate.
Erweiterte Diagnostik:
Proximale Hypospadien sollten vor allem in Kombination mit Hodenhochstand immer einer erweiterten Diagnostik zugeführt werden. Dies sollte in einem Zentrum geschehen und interdisziplinär (Pädiater, pädiatrischer Endokrinologe, Radiologe, Kinderurologe/-chirurg) angelegt sein. Es gilt dabei, alle möglichen Formen von Begleitfehlbildungen, Syndromen und Intersexualität auszuschließen.
Merke.
Jede Hypospadie, auch wenn nur ein klaffendes Praeputium vorliegt, sollte zumindest einmal dem Kinderurologen oder Kinderchirurgen zugeführt werden, da Begleiterkrankungen wie Penisdeviation oder Meatusstenose primär nicht auszuschließen sind.
Fallbeispiel.
Auflösung
Nach erfolgter Diagnostik und Beratung wurde Philipp umgehend zur kinderurologischen Behandlung überwiesen.
Phimose/Zirkumzision
Fallbeispiel.
Louis (8 Jahre alt) – Informationen im Erstkontakt:
-
•
Schmerzen beim – besser nach dem – Urinieren, guter weiter Strahl → Z. n. Zirkumzision
-
•
Hat schon seit Jahren Probleme – Kinderarzt riet zu mehr trinken, „wird schon besser werden, wenn er größer wird“ → wurde nicht besser
-
•
Urologe: verordnete Mictonetten → erfolglos. Daraufhin erfolgte die Zirkumzision! Es ergab sich keine Besserung! Louis hält sich jedes Mal nach dem Wasserlassen den Penis – schlägt sogar mit der Faust auf den Penis wegen der Schmerzen
-
•
Befund: Meatusenge (Abb. 6.58 )
Frage zum Fallbeispiel
Unter welcher PhimoseIndikationZirkumzision erfolgte die Zirkumzision?
Stellenwert in der Grundversorgung
Kinderchirurgen führen nach eigenen Angaben rund 21.000 BeschneidungBeschneidungen im Jahr durch. Die Zahl der ambulanten Beschneidungen von Jungen unter fünf Jahren ist in den Jahren 2008 bis 2011 um 34 % gestiegen. Die Krankenkasse AOK verzeichnet für die Jahre 2006 bis 2011 einen Zuwachs von 30 % bei Vorhaut-Operationen, obwohl die Zahl der versicherten Jungen im gleichen Zeitraum um 5 % sank.
Merke.
Nimmt ein Arzt an einem nicht einwilligungsfähigen Jungen eine medizinisch nicht indizierte Zirkumzision vor, wirkt die Einwilligung der Personensorgeberechtigten nicht rechtfertigend, selbst wenn religiöse Gründe angeführt werden. Ohne wirksame Einwilligung ist die Körperverletzung rechtswidrig. Solange die Rechtslage gerichtlich nicht geklärt ist, sollte der Arzt die Vornahme einer medizinisch nicht indizierten Zirkumzision ablehnen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass er sich wegen Körperverletzung nach § 223 StGB strafbar macht.
Definition
Das Präputium ist ein physiologischer Bestandteil des männlichen äußeren Genitales. Seine Entfernung bedarf der medizinisch begründeten Indikationsstellung.
Das Krankheitsbild Phimose ist von der entwicklungsbedingt nicht retrahierbaren Vorhaut des Jungen zu unterscheiden. Vom Vorliegen dieser „physiologischen Phimose“ kann bei 96 % der unbehandelten neugeborenen Jungen ausgegangen werden.
Reifungsvorgänge bedingen eine Auflösung der physiologischen Phimose bei der übergroßen Mehrzahl der Knaben im Alter von 3–5 Jahren, spätestens aber in der Pubertät. Im Alter von 6–7 Jahren haben ca. 8 % der Jungen noch eine zu enge Vorhaut. Bei den 16- bis 17-Jährigen liegt die Häufigkeit bei ca. 0,5–1,5 %. Auch Adhäsionen zwischen innerem Vorhautblatt und Eichel sind ebenso wie gelblich schimmernde Epithel-Talg-Retentionen ein vorübergehendes Entwicklungsphänomen. (AWMF-Leitlinie Phimose – Paraphimose 8/2013; wird derzeit überprüft und überarbeitet).
Leitsymptome
Definition der pathologischen Phimose: Unmöglichkeit der atraumatischen Retraktion des Präputiums über die Glans infolge einer Fibrose oder Vernarbung der Präputium-Öffnung.
Definition
Primäre (kongenitale) Phimose: Fortbestehen der angeborenen Verengung, die sich weder im Wachstumsverlauf noch durch konservative Therapie (vollständig) zurückbildet. Die Gründe hierfür sind unbekannt.
Sekundäre (erworbene) Phimose: Rezidivierende Entzündungen der verengten Vorhaut (Posthitis) führen zu narbigen Veränderungen. Häufig ist ein Lichen sclerosus et atrophicus die Ursache (Abb. 6.58). Diese Erkrankung ist schon im Kleinkindesalter möglich. Sie ist teilweise genetisch determiniert (Familienanamnese). Weiterhin kommt es durch brüske Retraktionsversuche zu Einrissen mit nachfolgender, sekundär narbig fixierter Phimose.
Abb. 6.58.

Sekundäre Phimose bei einem sechsjährigen Jungen mit Lichen sclerosus et atrophicus
[P294]
Merke.
Die meisten Zirkumzisionen werden ohne rechtfertigende Indikation durchgeführt, oftmals sogar im Rahmen anderer operativer Eingriffe (z. B. bei Herniotomie oder Orchidopexie). Besteht der Verdacht, dass das geschilderte Problem (z. B. akuter Harnverhalt) möglicherweise mit einer bestehenden Phimose zusammenhängt, müssen trotzdem andere Ursachen für dieses Problem vor einer Zirkumzision zwingend ausgeschlossen werden!
Einen Befund nach Zirkumzision und vor Operation der Meatusenge zeigt Abb. 6.59 .
Abb. 6.59.

Befund bei Louis nach Zirkumzision und vor OP der Meatusenge (siehe Fallbeispiel)
[P294]
Klinisches Erscheinungsbild
Neugeborene und Säuglinge
Physiologische Phimose zu > 96 %. Dadurch wird die Glans penis vor Verletzungen geschützt und Infektionen werden verhindert.
Merke.
Eine Manipulation und Retraktion am Penis des Neugeborenen und Säuglings ist – auch aus Gründen der Hygiene – völlig unnötig und zu unterlassen. Eine Ballonierung der Vorhaut ist normal, solange sie kurzfristig ist und hernach ein kräftiger Urinstrahl erfolgt.
Vorschulkinder
Frühzeitig erfolgt die Eigenmanipulation am Penis. Der Junge weiß am besten, wie weit er schmerzfrei die Vorhaut retrahieren kann. Auch eine Vorhautverklebung löst sich von selbst und bedarf keiner Therapie.
Schulkinder, Jugendliche
Es gilt im Prinzip das vorher Gesagte. In der Regel erfolgt die Behebung der Phimose spätestens in der Pubertät durch den Testosteroneinfluss, welcher die Vorhaut geschmeidig macht. Sollte dies nicht der Fall sein, so sollte die Therapie immer primär durch eine Salbenbehandlung erfolgen (siehe unten).
Merke.
Ausgenommen sind bei dem vorher Gesagten alle Phimosen, bei denen medizinische Probleme bestehen (siehe Indikation zur Zirkumzision). Nur in ganz seltenen Ausnahmefällen ist eine vollständige Beschneidung (Zirkumzision) notwendig (z. B. Lichen sclerosus et atrophicus). Ziele der Behandlung sind die regelrechte Harnentleerung, problemlose Genitalhygiene sowie später eine unbeeinträchtigte sexuelle Funktion.
Diagnose
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Anamnese: Frage nach Auffälligkeiten bei der Miktion, vorausgegangenen Entzündungen sowie Operationen oder Traumen der Vorhaut.
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•
Lokalbefund: enger und fibrotischer Ring des distalen Präputiums, der bei vorsichtiger Retraktion einen konisch zulaufenden Narbenring bildet. Flächig-weißliche und sklerosierende Veränderungen der Vorhaut bzw. des Glansepithels sind Zeichen eines Lichen sclerosus et atrophicus.
-
•
Miktionsbeobachtung: ggf. verminderte Stärke und abweichende Richtung des Harnstrahles, ggf. Aufblähung des Präputiums.
Was der Grundversorger wissen sollte
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•
„Physiologische Phimose“ bei 96 % der männlichen Neugeborenen
-
•
Auflösung der „physiologischen Phimose“ in der Regel zwischen dem 3. und 5. Lebensjahr
-
•
Komplikationen in bis zu 6 % der Fälle
-
•
Ohne wirksame Einwilligung ist die Zirkumzision eine rechtswidrige Körperverletzung
Beratung und Behandlung der Phimose
Außer bei Lichen sclerosus et atrophicus und ausgedehnter Narbenphimose ist primär eine 4- bis 6-wöchentliche Salbenbehandlung indiziert. Diese wird mit einer Kortison- oder Östrogensalbe (0,1–0,25 %) durchgeführt, z. B. Betamethason 0,1 % oder Clobetasolpropionat 0,05 %. Anschließend muss die Vorhaut täglich zur Reinigung des Penis zurückgezogen und damit weiterhin gedehnt werden, sonst kann es zu Rezidiven durch erneutes Zusammenziehen kommen. Ein Erfolg stellt sich in ca. 60–70 % der Fälle ein, wobei dieser Prozentsatz u. U. zu hoch angesetzt ist, da bei vielen Untersuchungen auch physiologische Phimosen, die nicht behandlungsbedürftig sind, mit einfließen. Echte Phimosen sind selten und meist steckt ein Lichen sclerosus dahinter! Selten wird eine Beschneidung (Zirkumzision) zum Zeitpunkt der Pubertät notwendig.
Leider werden viel zu viele (die meisten!) Jungen im Alter zwischen 0–4 Jahren ungerechtfertigterweise zirkumzidiert. So werden z. B. noch bestehende (harmlose) Vorhautverklebungen und Smegmaretentionszysten oft als pathologische Phimose bzw. als Indikation zur Zirkumzision fehlgedeutet.
Indikationen zur Beschneidung bei Phimose
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Zustand nach Paraphimose (relative Indikation)
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Therapie des Lichen sclerosus
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•
Miktionshindernis mit persistierender Ballonierung und abgeschwächtem Urinstrahl
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Prophylaxe von Harnwegsinfektionen bei deutlich gesteigertem Risiko (hochgradiger vesikourethraler Reflux, komplexe Harntraktfehlbildungen, neurogene Blasenentleerungsstörung mit rezidivierenden Harnwegsinfekten; relative Indikation)
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•
Kohabitationshindernis
-
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Rezidivierende Balanitiden
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Kosmetische Indikation? (nur bei psychischer Belastung)
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•
Rituelle Indikation? Nein!
(siehe auch AWMF-Leitlinie Phimose und Paraphimose).
Zirkumzision – Pro und Contra
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Hygienische und gesundheitlich-präventive Motive (umstritten)
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Übertragung von HIV und anderen Geschlechtskrankheiten (Cave: falsche Sicherheit – Promiskuität nimmt eher zu)
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Gebärmutterhalskrebs (wird kontrovers diskutiert)
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Peniskrebs (Häufigkeit nur ca. 0,4–0,6 %, Auftreten > 50 Jahre)
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Eichelentzündung
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Harnwegsinfektionen
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Ästhetische und kosmetische Motive (abzulehnen)
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Weibliche Einstellung (Studien aus USA sehr umstritten, da überwiegend Erfahrungen mit zirkumzidierten Männern)
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Hirsuties papillaris (tritt nach Zirkumzision seltener auf)
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Einfluss auf die Sexualität (negativ – wird kontrovers diskutiert)
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Geschlechtsverkehr (u. U. verlängert – kann sehr unangenehm sein)
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Masturbation (evtl. erschwert möglich)
Es herrscht in den westeuropäischen Industrienationen Einigkeit darüber, dass ein Nutzen der prophylaktischen Beschneidung die möglichen Schäden nicht überwiegt. Eine nicht medizinisch begründete Durchführung wird nicht empfohlen.
Zirkumzision – Komplikationen (ca. 6 %)
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Blutungen
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Infektionen
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Verwachsungen
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Knotenbildung im Bereich der Vena dorsalis penis superficialis
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Hauttaschen
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Beschädigung des Eichelkranzes/Meatusstenose (v. a. im Säuglingsalter)
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Kastrationstrauma?/Posttraumatische Belastungsstörung/ Orgasmusstörung?
Fallbeispiel.
Auflösung
Bei Louis wurde eine Meatotomie (Schlitzung) vorgenommen und das Problem vollständig behoben (Abb. 6.60 ).
Abb. 6.60.

Louis': Zustand nach erfolgter Meatotomie
[P294]
Lichen sclerosus et atrophicus
Fallbeispiel.
Franz (zwei Jahre alt) kommt wegen ausgeprägter Ballonierung der Vorhaut, Miktionsbeschwerden und Harnträufeln. Der Befund zeigt eine ausgeprägte Narbenphimose.
Fragen zum Fallbeispiel
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Handelt es sich um eine physiologische Phimose?
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Sind andere Ursachen denkbar?
Stellenwert in der Grundversorgung
Lichen sclerosus Lichen sclerosus bei Jungenbefällt bei Jungen in nahezu allen Fällen den Penis und führt in der Regel zu einer operationsbedürftigen Phimose. Die Krankheit wird in ihrer Bedeutung bei Jungen unterschätzt und häufig übersehen bzw. nicht erkannt. Sie tritt aber bei Jungen deutlich häufiger auf als vermutet. Die Behandlung ist mit der Beschneidung nicht immer zwingend abgeschlossen. Es besteht Forschungsbedarf zur weiteren Klärung der Pathogenese.
Definition
Lichen sclerosus ist eine lymphozytär vermittelte, chronisch entzündliche Hauterkrankung. Es mehren sich die Hinweise für einen zugrunde liegenden Autoimmunprozess. Wiederholt postulierte infektiöse Ursachen konnten bisher nicht bewiesen werden. Gehäufte Komorbidität mit Autoimmunerkrankungen wie Vitiligo, Hashimoto-Thyreoiditis und Diabetes mellitus Typ 1 sind mehrfach beschrieben worden.
Merke.
Bei jeder erworbenen Phimose sollte unbedingt an einen Lichen sclerosus, auch schon im frühen Kindesalter, gedacht werden!
Klinisches Erscheinungsbild
In vielen Fällen sieht man bei der Erstuntersuchung bereits eine weißlich porzellanartig sklerotische Vernarbung des distalen Präputiums als typischen weißlichen Ring (Abb. 6.61 ), die zu einer zunehmenden Phimose geführt hat. Die Haut ist sehr empfindlich und reißt leicht ein (z. B. bei Manipulation).
Abb. 6.61.

Ausgeprägte NarbenphimoseNarbenphimose bei Lichen sclerosus et atrophicus
[T681]
Vorschulkinder, Schulkinder, Jugendliche: Das Auftreten der Erkrankung ist schon ab dem frühen Kindesalter möglich!
Merke.
Verdächtig erscheinende narbige Phimosen im Kindesalter sollten einem mit dem Erkrankungsbild des Lichen sclerosus vertrauten Kinderchirurgen oder Kinderurologen vorgestellt werden.
Diagnose und Differenzialdiagnose
Die Diagnose des Lichen sclerosus kann häufig bereits aufgrund des typischen klinischen Bilds, wenn daran gedacht wird, gestellt werden. Wegen der möglichen Komplikationen (z. B. Meatusenge) und der Rezidive sollte die Diagnose ggf. jedoch histologisch gesichert werden. Bei eindeutigem klinischen Bild ist keine Histologie erforderlich. Gelegentlich treten nach Beschneidung (mechanische Manipulation) erneut Hautveränderungen im Narbenbereich auf.
Die lokalisierte Form der Sklerodermie, auch Morphea genannt, stellt eine chronische, in Schüben verlaufende Bindegewebserkrankung der Haut dar. Histologisch und klinisch kann die Morphea manchmal nur sehr schwer vom Lichen sclerosus unterschieden werden. In der Literatur finden sich Fälle von Patienten, bei denen beide Krankheitsbilder nebeneinander existieren. Ob Morphea und Lichen sclerosus zu einer Krankheitsfamilie gehören, ist bislang nicht geklärt. (http://rheumatologie.klinikum-bochum.de/lichen-sclerosus.html)
Merke.
Der Lichen sclerosus stellt keine Krebsvorstufe dar, sondern ist eine gutartige chronische Hauterkrankung mit überwiegendem Anogenitalbefall.
Beratung und Behandlung
Die Therapie der Wahl besteht in der vollständigen Beschneidung. Alternativ zur radikalen Zirkumzision kann eine Therapie z. B. mit Clobetasolpropionat 0,05 % versucht werden. Die konservative Behandlung mit einem topischen Corticosteroid in leichteren Fällen wird kontrovers diskutiert. Milde Cortisonpräparate, wie z. B. Hydrocortison, sind unwirksam. Verwendet werden sollten stärkere Präparate über einen Zeitraum von drei Monaten, die zweimal täglich lokal angewendet werden.
Aufgrund potenzieller Nebenwirkungen einer langfristigen Cortisontherapie oder eines aggressiven chirurgischen Vorgehens sind andere Therapieoptionen im Gespräch und in der Erprobung. Pimecrolimus (Elidel®) ist wie das Schwesterprodukt Tacrolimus (Protopic®) ein immunsuppressiv wirkendes Präparat, das die Aktivierung von Entzündungszellen hemmt – es kann die zur Entzündung führenden immunologischen Abläufe unterbrechen. Im Gegensatz zu den Corticoiden kommt es auch nach längerer lokaler Anwendung nicht zur Ausdünnung der betroffenen Hautareale. Pimecrolimus ist zur Therapie der atopischen Dermatitis selbst im Kleinkindalter zugelassen (ist allerdings noch Off-Label-Use bei der Indikation Lichen sclerosus et atrophicus).
Ein schubartiger Verlauf der Erkrankung sollte bedacht werden. Die Eltern sollten über Gutartigkeit des Befundes und den Verlauf aufgeklärt und beruhigt werden.
Follow up
Die betroffenen Jungen sollten langfristig nachkontrolliert und ggf. topisch mit einer corticosteroidhaltigen Salbe nachbehandelt werden. Interessanterweise bessern sich oft auch Hautveränderungen im Bereich der Glans penis spontan nach einer Beschneidung.
Was der Grundversorger wissen sollte
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Chronisch-entzündliche, nicht ansteckende Hauterkrankung
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Bei Jungen fast immer der Penis mit Schrumpfung der Vorhaut → Vorhautverengung
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Ggf. Harnröhrenverengung
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•
Therapie:
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–Medizinisch mit Cortisonsalbe oder Calcineurinantagonisten (Off-Label-Use)
-
–Zirkumzision
-
–
Fallbeispiel.
Auflösung
Franz hat keine physiologische Phimose. Es handelt sich um eine hochgradige Phimose mit lichenoider Veränderung des inneren Blattes der Vorhaut und der Glans penis sowie sekundärem vesicourethralem Reflux bds. und Trabekelblase (Abb. 6.61, Abb. 6.62 ).
Abb. 6.62.

Stauungssymptomatik der Ureteren und der Nieren (hier rechts) bei ausgeprägter Narbenphimose
[T861]
Es wurde eine totale Zirkumzision durchgeführt.
Varikozele
Fallbeispiel.
Gregor (16 Jahre) kommt ohne Termin in die Praxis und erklärt: „Sie haben doch gesagt … und ich habe da so eine Schwellung am Hoden.“
Fragen zum Fallbeispiel
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Seit wann besteht die Schwellung?
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Beschwerden/Schmerzhaftigkeit?
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Sexualkontakte?
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•
Körperliche Untersuchung inkl. Bestimmung des Tannerstadiums.
Stellenwert in der Grundversorgung
Eine Varikozele findetVarikozele sich bei ca. 15–20 % der männlichen Jugendlichen. Früher wurde sie häufig erst bei der Musterung diagnostiziert. Auch heute ist dieses Krankheitsbild in der Pädiatrie relativ unbekannt, sodass sie häufig übersehen wird. Zudem kommen nur ca. 20 % der Jungen zur Diagnostik. Die Varikozele stellt nach wie vor den häufigsten Grund eines chirurgischen Eingriffs bei Infertilität dar und findet sich bei ca. 30–40 % der Männer, die in die Infertilitätssprechstunde kommen.
Definition
Varikozele nennt man jede tast- und sichtbare Erweiterung der Venen des Plexus pampiniformis. Als Ursache wird die im Winkel von 90 Grad einmündende linke Vena spermatica in die linke Vena renalis vermutet. Hierdurch kommt es leichter zum Rückstau, der wiederum – vermutlich anlagebedingt – zu einer Venenklappeninsuffizienz führt.
-
•
Primäre Varikozele: ca. 85 %, linksseitig
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•
Sekundäre Varikozele: ca. 10–15 %, rechtsseitig (Raumforderung oder Venenklappeninsuffizienz?)
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•
Auch beidseitige Varikozelen kommen vor
Merke.
Die sekundäre Varikozele verursacht durch retroperitoneale Tumoren ist bei Kindern sehr selten und durch Sonografie auszuschließen.
-
•
Grad I: Palpation nur bei Valsalva-Manöver möglich
-
•
Grad II: Palpation im Liegen oder Stehen möglich, evtl. bei Inspektion zu vermuten
-
•
Grad III: Sichtbare Dilatation der Venen (Abb. 6.63 ) – evtl. mehr oder weniger deutliche Hodengrößendifferenz > 3 ml (Abb. 6.64 )
Abb. 6.63.

Sichtbares Venenkonvolut am Skrotum bei primärer Varikozele Grad III
[G600]
Abb. 6.64.

Deutliche Hodengrößendifferenz (rechts > links)
[P294]
Eine primäre Varikozele kommt schon im präpubertären Alter vor, bedarf aber keiner Therapie. Allerdings sollten regelmäßig ca. halbjährliche Kontrollen stattfinden und immer andere Ursachen ausgeschlossen werden. Dies gilt besonders bei sekundärer Varikozele (rechtseitig). Eine Verschlechterung in der Pubertät ist möglich.
Bedingt durch Verbesserung der Ultraschalldiagnostik werden zunehmend auch mehr sekundäre Varikozelen diagnostiziert, ohne dass ein tumoröser Prozess als Ursache der Stauung gefunden wird. Selten kommen auch intratestikuläre Varikozelen vor. (Abb. 6.65 )
Abb. 6.65.

Sonografische Bilder einer intratestikulären Varikozele links
[P294]
Diagnosen und Differenzialdiagnosen
Im Liegen ist die Varikosis häufig nicht gut sichtbar (WHO-Einteilung Grad I und evtl. auch Grad II). Bei der Untersuchung im Stehen sieht und fühlt man die erweiterten Venen neben dem normal großen Hoden und Nebenhoden. Beschwerden bestehen meist keine oder sie sind gering.
-
•
Klinische Untersuchung (Palpation, Valsalva)
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•
Skrotaler Ultraschall, Farb-Doppler-Sonografie im Liegen und Stehen
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•
Ggf. Ultraschall der Nieren und des Retroperitoneums
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•
Ggf. Labor: Inhibin B und/oder FSH
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•
Ggf. Spermiogramm (nur bei älteren Adoleszenten)
Gradeinteilung gemäß WHO (2000) im Stehen
-
•
Subklinisch: inspektorisch und palpatorisch kein Nachweis einer Varikozele, aber positive skrotale Thermografie oder dopplersonografischer Nachweis eines Refluxes
-
•
Grad I: unter Valsalvamanöver tast-, aber nicht sichtbares Venenkonvolut
-
•
Grad II: unter Ruhebedingungen tast-, aber nicht sichtbares Venenkonvolut
-
•
Grad III: bereits unter Ruhebedingungen leicht tast- und sichtbares Venenkonvolut
Beratung und Behandlung
Ziel ist die Beseitigung der Varikosis. Bei Varikozelen Grad I–II ist in der Regel ein konservatives Vorgehen angezeigt. Rückbildungen sind möglich. Eine Grad-III-Varikozele bildet sich nur in Ausnahmefällen zurück (keine Spontanheilung versus Rückbildung in ca. 70 %) und muss meistens operativ angegangen werden (siehe EAU/ESPU Paediatric Urology Guidelines 2011).
Das bevorzugte Operationsverfahren ist die laparoskopische hohe Ligatur bzw. Durchtrennung der Vena testicularis interna (Bernardi) oder der Vasa spermatica (Palomo) oder die interventionelle Sklerosierung.
Nach erfolgreicher Korrektur kommt es häufig zur Volumenzunahme des betroffenen Hodens, einer Verbesserung der Samenqualität und -anzahl sowie zum Testosteronanstieg und Anstieg des Inhibin B.
Indikation zur konservativen „Therapie“
-
•
Hodengrößendifferenz zwischen linker und rechter Seite < 3 ml
-
•
Normales Inhibin B (guter Parameter für die Spermiogenese) bzw. normales Spermiogramm (ältere Adoleszente > G4 Tannerstadium)
-
•
Kontrollen:
-
–Halbjährlich bis jährlich bzgl. der Hodengröße
-
–Ggf. Kontrolle des Spermiogramms
-
–
Indikation zur operativen Korrektur
-
•
Größendifferenz der Hoden > 3 ml bzw. Wachstumsstillstand auf der betroffenen Seite
-
•
Zusätzliche Hodenpathologie
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•
Beidseitige Varikozele
-
•
Pathologische Inhibin B-Werte (FSH ungenauer) bzw. pathologisches Spermiogramm
-
•
Rechtsseitige Varikozele (relative Indikation, wenn andere Pathologie ausgeschlossen ist)
EAU/ESPU Paediatric Urology Guidelines 2011 (www.uroweb.org)
Ätiologie der Hodenschädigung
-
•
Erhöhung der Hodentemperatur
-
•
Reflux von renalen und suprarenalen Metaboliten aus der Vena renalis sinistra (Nebennierensteroide, Katecholamine, Prostaglandine)
-
•
Störung der Mikrovaskularisation des Hodens durch Druckerhöhung (Hypoxie)
-
•
Störung der Hormonachse (sekundär erhöhtes FSH, evtl. schlechtere Prognose)
Fallbeispiel.
Auflösung
Sichere primäre Varikozele Grad III mit deutlicher Hodengrößendifferenz. Bei Gregor wurde eine interventionelle Sklerosierung durchgeführt. Eine nachfolgende Hodengrößenzunahme der betroffenen Seite dokumentierte den operativen Erfolg.
Literatur
- AWMF S2k-Leitlinie: Hodenhochstand – Maldescensus testis. Stand 07/2013. Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie.
- AWMF S1-Leitlinie Phimose und Paraphimose – Stand 08/2013. Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie.
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- Hensel K.O., Wirth S. Hodenhochstand: Ist die Umsetzung der Leitlinie im klinischen Alltag gelungen? Dtsch Arztebl Int. 2014;111(39):647–648. doi: 10.3238/arztebl.2014.0647. [DOI] [PMC free article] [PubMed] [Google Scholar]
- Hrivatakis G. Operationszeitpunkt bei Hodenhochstand: Retrospektive multizentrische Auswertung. Dtsch Arztebl Int. 2014;111(39):649–657. doi: 10.3238/arztebl.2014.0649. [DOI] [PMC free article] [PubMed] [Google Scholar]
- Ludwikowskis B. 2013. Koordination. AWMF-Register Nr. 006/022. 2k-Leitlinie: Hodenhochstand – Maldescensus testis. Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie – aktueller Stand: Juli 2013. [Google Scholar]
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- WHO . Cambridge University Press; Cambridge: 2000. Manual for the Standardized Investigation, Diagnosis and Management of the Infertile Male. [Google Scholar]
6.17.2. Kindergynäkologie
Fallbeispiel.
Die vier Jahre alte Tochter wird von ihrer Mutter in die Praxis gebracht. Mutter: „Tina klagt über Juckreiz und Schmerzen in der Scheide, geht nicht rechtzeitig auf die Toilette, weil Pipi-Machen wehtut. Vor zwei Monaten haben wir Familienzuwachs bekommen. Tina nimmt an der Pflege der Schwester Elisa begeistert teil und pflegt ihre Puppe wie ich das neue Baby. In letzter Zeit erforschen Tina und ihre gleichaltrige Freundin auch gegenseitig ihre Popos.“ Tina: „Ja, wir haben Vater, Mutter und Kind gespielt und probiert, was da reinpasst und wo das Kind rauskommt und ich habe Mamas Creme da reingemacht …“
Genitaler Untersuchungsbefund: Labia majora entzündlich gerötet, im Sulcus interlabialis reichlich weiße Paste, Verklebung der Vulvaränder von der posterioren Fourcette bis zur Urethra, keine Dilatation der Urethra, Urinbefund unauffällig, Unterhose feucht und verschmiert.
Fragen zum Fallbeispiel
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Welche Angaben sind für die Diagnosefindung zielführend?
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Wie soll die Mutter beraten und das Kind behandelt werden?
Stellenwert der Kindergynäkologie in der Grundversorgung
Von allenKindergynäkologie medizinischen Fachgebieten besteht zwischen Frauenheilkunde/Geburtshilfe und Kinder- und Jugendmedizin die engste interdisziplinäre Zusammenarbeit.
Die Gynäkologiegynäkologisch-pädiatrische Kooperation beginnt mit der Geburt. Die Pädiaterin übernimmt das neugeborene Mädchen aus der Hand des Geburtshelfers und betreut es, bis es in der Pubertät/als Jugendliche in einer gynäkologischen Praxis mit betreut wird.
Die Beschreibung und die Beurteilung der anogenitalen Strukturen und der Geschlechtsentwicklung in verschiedenen hormonellen Phasen und damit einhergehenden anatomischen Veränderungen in jeder Altersstufe setzen umfangreiche kindergynäkologische Kenntnisse voraus:
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Die Untersuchung des Neugeborenen, des Mädchens in der hormonellen Ruhepause und in der Präpubertät
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•
Erkrankungen und andere Anlässe zur Konsultation
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–Infektiöse Erkrankungen im Anogenitalbereich
-
–Vulvasynechien
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–Lichen sclerosus
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–Akzidentelle genitale Verletzungen – Differenzialdiagnose sexueller Kindesmissbrauch
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–Kleine kindergynäkologische Operationen
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–
Definition
Die Kindergynäkologie umfasst die integrativen Elemente der pädiatrischen und gynäkologischen Lehre und Praxis von der Geburt bis zur Pubertät in interdisziplinärer Kooperation mit Kinder-Endokrinologie, Kinder-Urologie, Kinder-Dermatologie und Genetik.
Untersuchung
Kommunikative Kompetenz und Beziehungsgestaltung
Von den Vorsorgeuntersuchungen sind die Eltern und die Kinder gewohnt, dass der ganze Körper von Kopf bis Fuß untersucht wird, da in den Richtlinien für die Früherkennungsuntersuchungen die Inspektion des äußeren Genitales vorgesehen ist. Es ist jedoch etwas anderes, wenn bei einem Mädchen ein Vorstellungsanlass wegen eines „Problems da unten“ ansteht. Dabei ist es ausschlaggebend, von Anfang an mit Empathie und Authentizität eine gute Beziehung zum Kind und seinen Eltern aufzubauen, ihr Vertrauen zu gewinnen, um das medizinisch Notwendige tun zu können. Um der elterlichen Besorgtheit, Unsicherheit und ihren Ängsten mit Responsivität angemessen zu begegnen, braucht es einfache krankheitsbezogene Aufklärung, Erläuterung des Untersuchungsablaufs, der erhobenen Befunde und der Therapieanweisungen. Falls Konsultationen/Mitbehandlung von Subspezialisten/Kliniken vermittelt wurden, werden Befunde und Berichte den Eltern verständlich interpretiert.
Das Wohlbefinden des Kindes hat immer höchste Priorität; es muss sich geborgen fühlen.
Merke.
Nichts wird ohne Zustimmung des Kindes unternommen, denn die erste gynäkologische Untersuchung ist eine prägende Erfahrung im Frauenleben.
Kinder- und jugendgynäkologisch tätige Ärztinnen haben einen geschlechtsspezifischen Vorteil: Wie von selbst entsteht eine Solidarität unter Frauen: Mutter, Kind und Ärztin. Das Interaktionsdreieck Ärztin-Eltern-Kind verschiebt sich mit dem Alter des Kindes von der Elternfokussierung zum kindzentrierten Gespräch und Handeln.
Im Kindergartenalter (3–6 Jahre) gelingt die symptombezogene Untersuchung, wenn der Umgang spielerisch auf Augenhöhe mit dem Kind stattfindet. Das äußere weibliche Genitale liegt dem eigenen Blick verborgen und wird erst tastend und fühlend erkundet und vertraut. Die Eigenaktivität des Kindes wird durch Zeigen- und Benennenlassen der betroffenen Körperstellen angeregt. – So beginnt im Rahmen der Untersuchung früh eine begleitende Sexualerziehung unter Einbeziehung der Eltern. – In diesem Alter ist das Mädchen mit dem eigenen Körper und seinen Funktionen vertraut und hat dafür ein eigenes Vokabular, weiß, wo „Pipi“ und „Kacka“ herauskommen.
Mit der Selbstständigkeit entwickelt sich im 3.–4. Lebensjahr das Schamgefühl. Die Ärztin spricht während der ganzen Untersuchung mit dem Kind, erläutert in altersadäquater Sprache ihre Befundung und stellt Fragen: Warum bist du zu mir gekommen? Wie ist es passiert? Möchtest du mir zeigen, wo genau es juckt, brennt …? Wie lange ist es schon so? Möchtest du mit dem Handspiegel die Stelle selbst sehen? Im Verlauf der Kommunikation sind Ausdrücke wie: „Du brauchst keine Angst haben, es tut nicht weh, es ist nicht schmerzhaft, was ich jetzt mache“ fehl am Platz. Stattdessen: „Du merkst, dass es ein wenig zieht (Handgriff), drückt (Abstrich), das wird sich komisch anfühlen … es ist gleich vorbei …“
Im Schulalter (7 Jahre bis Pubertät) sind Selbstbild, Identität (einschließlich Geschlechtsrolle) und Autonomie entwickelt. Dem Selbstbestimmungswunsch des Mädchens wird mit akzeptierender Haltung begegnet: Fragen um Einverständnis, ob es sich ausziehen möchte, oder wenn es sich anders entscheidet und einen Rückzieher macht: „Abwartendes Offenlassen“: „Kommst ein anderes Mal … vereinbarst einen anderen Termin“ – denn: Notfälle sind selten.
Setting
Die Voraussetzungen, um Mädchen kindergynäkologisch zu betreuen, sind sichere Rahmenbedingungen zum Aufbau einer vertrauensvollen Atmosphäre, weitergebildetes Praxisteam, Vernetzung mit ambulant tätigen pädiatrischen Subspezialisten im Konsiliararzt-System (z. B. PädExpert® Kap. 7.9) und – vor allem – viel Zeit und Geduld.
Praxisausstattung
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Gute LichtquelleKindergynäkologiePraxisausstattung
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Urethraltupfer
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Kurze Einmalkatheter für Frauen (Ch 6 und Ch 8)
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Objektträger, Kulturmediensets
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Lupe
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Handspiegel
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Digitalkamera
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Sonografiegerät
Untersuchungsmethode und -position
Merke.
Im Säuglings- und Kindesalter ist dieKindergynäkologieUntersuchungstechniken kindergynäkologische Untersuchung eine Inspektion des äußeren Genitales mit dem Handgriff Spreizung (Separation) und Zug (Traktion) der Labia majora (Abb. 6.66 ).
Abb. 6.66.

Untersuchungstechnik: a) Separation, b) Traktion
[L157]
Für die exakte Visualisierung des Hymens und des Introitus ist dieser Handgriff unerlässlich. Die Entnahme eines Vaginalabstrichs für bakteriologisch-mikrobiologische Untersuchungen aus dem hinteren Scheidengewölbe gelingt schmerzfrei und korrekt mit einem kleinen Urethraltupfer, Einmalkatheter CH 8 oder einer dünnen Magensonde, wenn eine Mitarbeiterin den Handgriff Separation und Traktion ausübt. Die Entnahme im äußeren Vestibulum weist lediglich Darmkeime ohne pathogene Bedeutung nach. Zur Fotodokumentation zwecks Einholens einer Zweitmeinung und für forensische Zwecke (V. a. sexuellen Kindesmissbrauch) ist dieser Handgriff obligat.
Die Inspektion der Anogenitalregion erfolgt in allen Altersstufen auf einer Untersuchungsliege in Rückenlage und Froschschenkel-PositionFroschschenkel-Position (Abb. 6.67 ). Ausnahme: Beim V. a. sexuellen Missbrauch ist die Knie-Ellenbogen-Position zur Beurteilung des Hymens aussagekräftiger. Diese Position finden die meisten Mädchen sehr unangenehm.
Abb. 6.67.

Froschschenkel-Position
[P295]
Praxistipps
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Der Säugling akzeptiert die Froschschenkel-Position problemlos, wenn die Mutter assistierend die Beinchen abduziert hält und zwischendurch das Kind frei strampeln lässt.
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Die Inspektion eines ängstlichen Mädchens im Trotzalter: Die Mutter legt sich auf die Liege, positioniert die Tochter auf ihren Bauch und hält die Beine in Abduktion.
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Ältere Mädchen können die Position auf der Liege selbst stabilisieren, indem sie mit angewinkelten Beinen die Fußsohlen fest aufeinanderdrücken. Die Patientin sollte nie ganz entkleidet sein und immer Blick- und Handkontakt mit der Mutter haben.
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Es wirkt entlastend, wenn es gelingt, die Situation spielerisch umzugestalten: In der Knie-Ellenbogen-Position schaut das Mädchen mit gesenktem Kopf durch seine gespreizten Beine und nimmt Blickkontakt mit der Untersucherin auf.
Die Neugeborenenperiode (0 bis 4 Wochen)
Die Dokumentation im Mutterpass über den Schwangerschaftsverlauf und die Geburt ist in das pädiatrische Vorsorgeuntersuchungsheft übernommen und ermöglicht somit, bei der ersten Früherkennungsuntersuchung U2 (3.–10. Lebenstag) die individuellen Risiken und Besonderheiten des Neugeborenen zu berücksichtigen.
Geschlechtsentwicklung
Beim Neugeborenen liegt eindeutig weibliches Geschlecht vor, wenn Labia majora und minora, Klitoris und Praeputium klitoridis angelegt und Urethralöffnung und Introitus vaginae getrennt sind (Abb. 6.68 ).
Abb. 6.68.

Anatomie und Terminologie der Anogenitalregion
[L157]
Bei der Zwischengeschlechtlichkeit handeltZwischengeschlechtlichkeit es sich um eine Variation der genetischen, gonadalen, hormonalen oder genitalen Beschaffenheit eines Menschen, die dazu führt, dass er nicht eindeutig den biologischen Kategorien weiblich oder männlich zugeordnet werden kann: Störungen der Geschlechtsentwicklung (Disorders of Sex Development, DSD). PatientengruppenDisorders of Sex Development, DSD favorisieren heutzutage die abgewandelten Begriffe „Unterschiede der Geschlechtsentwicklung“ (Differences of Sex Development). Differences of Sex DevelopmentVorrangig in der pädiatrischen Erstversorgung bei V. a. auf eine Variante/Störung der Geschlechtsentwicklung, ist die Versorgung der Notfälle (in 90 % AGS 46 XX-DSD) sowie die behutsame feinfühlige Erklärung der Diagnose und Beratung der erschrockenen und verängstigten Eltern eines Kindes mit ambivalentem Genitale. Die Abklärung des DSD ist aufgrund der Komplexität multiprofessionellen und spezialisierten Kompetenzzentren vorbehalten.
Bei Frühgeborenen sind die Labia minora und die Klitoris noch nicht durch die Labia majora verdeckt: „klaffende Vulva“. Dadurch erscheint die Klitoris prominent: Pseudoklitorishypertrophie.
Das Neugeborene kann in Deutschland ohne Angabe des Geschlechts in das Geburtsregister eingetragen werden, und zwar nur dann, wenn das Kind nicht eindeutig dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zugeordnet werden kann. (Änderung im Personenstandsgesetz [PStG] von 2013)
Die embryonale Entwicklung des weiblichen Genitales und der ableitenden Harnwege findet in enger zeitlicher und entwicklungsgeschichtlicher Beziehung statt: Koinzidenz zwischen den Störungen der Genitaldifferenzierung und den Fehlbildungen des Nierentrakts.
Das Hymen
Es entstehtHymen embryonal aus der Fusion von Müller-Gang-Derivaten mit dem Sinus urogenitalis (Verbindung zwischen Blase und Vestibulum). Das Lumen zum Sinus urogenitalis bleibt jedoch zunächst durch eine persistierende Membran, die Hymenalplatte, verschlossen. Diese öffnet sich erst kurz vor der Geburt, sodass Harnröhre und Vagina jetzt gemeinsam in das Vestibulum vaginae münden. Diese partielle Eröffnung (Auflösung) geschieht meist zentral, sodass das Hymen als ringförmiges Überbleibsel der Hymenalplatte den Introitus vaginae noch randständig partiell bedeckt = Hymen anulare.
Mit Ausnahme komplexer genitaler Fehlbildungen werden alle Mädchen mit einem Hymen geboren. Das Hymen des neugeborenen Mädchens ist weißlich-rosig und unter dem Östrogeneinfluss der Plazentahormone und noch empfänglicher eigener Rezeptoren sukkulent und wulstig. Aus dem Introitus (= hymenale Öffnung) quillt (oder ist exprimierbar) regelrechter östrogenbedingter vaginaler Fluor albus. Postnatal kann es zu einer physiologischen Entzugsblutung kommen, die spontan sistiert. Das ist die erste hormonelle Blutung.
BeimHymenalatresie Neugeborenen mit einem imperforierten Hymen (Hymenalatresie) wölbt das in der Vagina vorhandene Sekret den membranösen Verschluss des Hymens vor. Während der hormonellen Ruhephase ist eine Hymenalatresie schwer diagnostizierbar. Ein verschlossenes Hymen hat bis zum Einsetzen der Menarche keinen Krankheitswert. Die Exzision sollte erst nach dem Einsetzen der Thelarche (Beginn der Östrogenisierung) durchgeführt werden, wenn das Mädchen schon über seinen Körper Bescheid weiß. Dies soll im Vorsorgeheft dokumentiert und mit den Eltern besprochen werden. Später fällt das Mädchen möglicherweise erst wieder durch eine primäre Amenorrhö mit oder ohne Unterbauchschmerzen (→ Hämatokolpos/Hämatometra) auf.
Merke.
Bei unzuverlässigen Eltern sollte die Exzision zeitnah post partum erfolgen.
Brustdrüsenhyperplasie beim Neugeborenen
AlsBrustdrüsenhyperplasie Ausdruck für Empfindlichkeit des Brustdrüsengewebes in der Fetalzeit auf plazentar übertragene Hormone (Östrogen, Progesteron, Prolaktin), kommt es bei bis zu zwei Drittel der am Termin geborenen Neonaten (Mädchen und Jungen) zur unilateralen Schwellung der Brustdrüsen. Sie kann mit einem Maximum am 10. Lebenstag von wenigen Tagen, in Einzelfällen bis zu sechs Monaten bei gestillten Säuglingen, persistieren. Bei einigen Neugeborenen tritt am 2.–3. Lebenstag die Sekretion der sog. Hexenmilch auf, die wenige Tage dauert. Beratung: Weich polstern, nicht drücken und nicht versuchen zu exprimieren. Selten entsteht daraus eine Neugeborenen-Mastitis.
Neonatale Ovarialzysten
Sie entstehen infolge Stimulation durch mütterliche Östrogene und sind als physiologisch eingestuft. Die meisten einfachen Zysten involutieren spontan innerhalb des ersten Lebensjahres und sollten bis dahin sonografisch kontrolliert werden. Seltene Komplikation: Ovarialtorsion, die umgehend operativ behandelt werden muss.
Ektope/dystope Mündung des Ureters
Bei regelrechter embryonaler Entwicklung kommt es nach gemeinsamer Mündung in das Vestibulum vaginae zur Trennung der Ausführungsgänge der Urethra und der Vagina. Wenn die Trennung ausbleibt, mündet der Ureter atop/dystop in die Vagina, und es kommt zum permanenten Harnträufeln. Bleibt diese Fehlbildung beim Neugeborenen unentdeckt, kommt spätestens die Mutter darauf, weil die Windel ständig nass ist. Später möglicherweise falsche Differenzialdiagnose: Enuresis diurna et nocturna.
Hormonelle Ruhephase (2. bis 8. Lebensjahr)
Wenn der Säugling nicht mehr gestillt wird, ändert sich aufgrund der nachlassenden Östrogenwirkung im Laufe der ersten zwei Lebensjahre die (meist) anulare Konfiguration des Hymens durch Rückbildung des Hymenalgewebes mit Auflösung des oberen Anteils. Das Hymen ist jetzt eine halbmondförmige glattrandige und durchscheinende Membran: Hymen semilunaris. Es ist rigide und sehr schmerzempfindlich. Ist das Hymen in einer Lebensphase, in der man die hormonelle Ruhephase erwarten würde, dennoch östrogenisiert, sind Pubertas praecox und Pseudopubertas praecox auszuschließen bzw. abzuklären. Typische Erkrankungen in der hormonellen Ruhephase sind Vulva- und Labiensynechie und Lichen sclerosus.
Vulva- und Labiensynechie
Definition
Bei Vulvasynechieden Labiensynechielabialen/vulvären Synechien und Adhäsionen handelt es sich um eine Verklebung der Labia minora beginnend in der „posterioren Fourcette“ (wörtlich „Gabelung“), die das (gedachte) posteriore Zusammentreffen der Labia minora beschreibt (Abb. 6.69 ).
Abb. 6.69.

Vulvasynechie vor der manuellen Lösung
[P295]
Merke.
Vulvasynechien sind nie angeboren. Synechien oder Adhäsionen unterschiedlichen Ausmaßes treten typischerweise in der hormonellen Ruhephase bei knapp 40 % der Säuglinge und Kleinkinder auf.
Bei Windelkindern treten die Synechien als Folge mangelhafter oder übertriebener Hygiene und durch Urineinwirkung auf. Im Einzelfall kann auch eine mechanische Irritation durch Reiben im Rahmen missbräuchlicher Manipulationen ursächlich sein. Eine beginnende Synechie, sichtbar als dünne transparente Fibrinschicht zwischen den Vulvarändern, löst sich häufig schon bei der Traktion und Separation der Labia majora (Abb. 6.70 ).
Abb. 6.70.

Vulvasynechie nach manueller Lösung
[P295]
Im Extremfall reicht die Synechie über das Orificium urethrae. Die Miktion erfolgt durch eine stecknadelkopfgroße Öffnung und es kommt zum Urinfluss in die Vagina (analog zum Hymen altus und falscher Miktionshaltung) und anschließendem Nachträufeln. Die Miktionsstörung kann Zystitis, Pyelonephritis und unspezifische Vulvitiden begünstigen.
Behandlung und Beratung
Bei ungestörter Miktion hat die Synechie in Kindesalter keine weitere Konsequenz. Es ist jedoch ratsam, eine ausgedehnte Synechie vorbeugend zu lösen. Die Therapie der Wahl ist eine behutsame, einzeitige, stumpfe manuelle Lösung, die in geübter Hand schmerzfrei ist und selten zu Rezidiven führt. Durch sanftes und langsames Auseinanderdrehen und -ziehen der Vulvaränder mit beiden Daumen lässt sich die Raphe meist schon bei der ersten Konsultation lösen. Die Nachbehandlung mit Applikation von estriolhaltiger Vaginalcreme (OeKolp-Creme®), eine Fingerkuppeneinheit einmal täglich für zwei Wochen, beugt Resynechien vor. Im Windelalter sollte die Mutter das Genitale im Rahmen der Pflegemaßnahmen häufig inspizieren, um eine beginnende Verklebung zu entdecken und selbst zu lösen.
Lichen sclerosus
Definition
Der Lichen sclerosus (LS) istLichen sclerosus bei Mädchen eine chronische, entzündliche in Schüben verlaufende Dermatose mit hoher Rezidivneigung.
Häufigkeit
Der Lichen sclerosus tritt in jedem Alter und bei beiden Geschlechtern auf. Mädchen sind bei einem Verhältnis von ca. 10:1 häufiger betroffen als Jungen. LS zeigt zwei Altersgipfel: postmenopausale Frauen und präpubertäre Mädchen (Phasen niedriger Östrogenspiegel). Die genaue Prävalenz ist unbekannt, sie wird mit 0,1 % bei präpubertären Mädchen geschätzt, kann aber schon im frühen Kindesalter auftreten. Das durchschnittliche Manifestationsalter liegt bei 4–6 Jahren.
Die Ätiologie des LS ist weitestgehend ungeklärt. Vermutlich besteht eine genetische Prädisposition (Familienanamnese!). Immunologische Veränderungen werden auf T- und B-Zell-Niveau beschrieben (Autoimmunerkrankung?). Für eine Infektion mit Borrelia burgdorferi oder HPV besteht kein Hinweis. Eine Vulvitis/Urethritis kann LS triggern.
Diagnosestellung
Das typische klinische Bild ermöglicht eine Blickdiagnose.
Lichen sclerosus kommt im Kindesalter fast ausschließlich in der Anogenitalregion vor. Typische Symptome sind starker anogenitaler Juckreiz und brennende Schmerzen. Bei Mädchen kann zunächst nur eine leichte flächenhafte Rötung bestehen. Im Verlauf treten porzellanweiße, pergamentartige Läsionen, Hyperkeratosen, Sklerosierung, Ekchymosen und Einrisse im Bereich des Praeputium clitoridis, im Sulcus interlabialis, perineal und perianal auf. Es entsteht eine Achterfigur um die Labia majora und den Anus. Vernarbungen im Bereich der Klitoris und der Labia minora führen zur sogenannten „verborgenen Klitoris“, engem Introitus vaginae oder auch perianalen Stenosen und Schmerzen bei der Defäkation.
Differenzialdiagnostisch kommen am Beginn der Erkrankung Vitiligo und Dermatitis atopica infrage. Im fortgeschrittenen Stadium verleitet Lichen sclerosus zu einer Fehldiagnose des sexuellen Missbrauchs. Die brüchige atrophe Haut ist äußerst anfällig gegenüber geringfügigen Traumata. Subepidermale Blutungen können auch spontan auftreten und vermitteln dann den Eindruck eines zurückliegenden Traumas.
Merke.
Beim primären Lichen sclerosus ist das Hymen immer intakt.
Im Kindesalter ist das Krebsrisiko sehr niedrig, deshalb wird von einer Biopsie abgesehen, auch weil diese in der Anogenitalregion ein sehr traumatisches Ereignis ist.
Behandlung und Beratung
Die empfohlene initiale Therapie ist die dreimonatige Applikation von stark bis sehr stark wirkenden topischen Glucocorticoiden, eine Fingerkuppeneinheit einmal täglich. Im Kindesalter ist Mometasonfuroat geeigneter als Clobetasolpropionat. Nach der Remission folgt eine individuell abzustimmende Dauerbehandlung. Als Dauerpflege vor/nach Kontakt mit Wasser oder Urin sollte eine fette Salbe, z. B. Paraffin/Vaseline zu gleichen Teilen, aufgetragen werden.
Praxistipp
Der LS bedarf oft einer jahre- bis jahrzehntelangen Dauertherapie, daher ist es ratsam, dass das Mädchen mit der eigenen Krankheit vertraut wird und das Medikament sowie die Hautpflegemittel selbst aufträgt (Handspiegel). Unterwäsche aus Seide ist verträglicher als aus Baumwolle. Wenig Seife und keine Feuchttücher verwenden! Die betroffenen Hautareale sind leicht verletzlich. Cave: Fahrradfahren! Reiten!
In der Pubertät kommt es in Einzelfällen zur Besserung der Symptomatik (Östrogenisierung), eine komplette Remission ist jedoch selten.
Präpubertät – Pubertät
AufgrundPubertät verschiedener genomweiter Studien wird angenommen, dass 50 bis 80 % des Pubertätsbeginns genetisch determiniert werden.
Exogene Faktoren beeinflussen zunehmend den Pubertätsbeginn und -verlauf.
Eine Pubertas praecox Pubertas praecoxliegt vor, wenn die Menarche vor dem vollendeten 9. Lebensjahr auftritt. Die bis Mitte des 20. Jahrhunderts in den meisten industrialisierten Ländern beobachtete Abnahme des Menarchealters, sog. säkularer Trend, schien über Jahrzehnte zum Stillstand gekommen zu sein. Nach der letzten Kinder- und Jugenduntersuchug (KIGGS) aus dem Jahre 2007 lag in Deutschland das mittlere Menarchealter bei 12,8 Jahren. (Pubertätsstadien nach Tanner Kap. 3, Anhang)
Der Pubertätsbeginn ist definiert durch die Thelarche. Ab Präpubertät ist das Hymen als äußeres Zeichen der beginnenden Ovarialfunktion östrogenisiert, weich, nachgiebig, sukkulent. Ein bis zwei Jahre prämenarchal tritt eine physiologische zervikale Sekretion auf: Leukorrhö (Weißfluss). Das Thelarchealter beträgt im Mittel 10,8 Jahre. Die Brustentwicklung beginnt, häufig einseitig links, mit einer palpablen Vergrößerung des subareolären Drüsengewebes, einer Erhebung der Mamille und einer Vergrößerung des Areolendurchmessers. Die Seitendifferenz der Brüste gleicht sich bis zur endgültigen Ausreifung meist aus.
Differenzialdiagnose: Poland-Syndrom, eine Dysgenesie mit einseitiger Hypoplasie von Mamille und Mamma.
Als prämature Thelarche wird das isolierte, verfrühte Auftreten der Brustentwicklung vor dem vollendeten 8. Lebensjahr bezeichnet.
Die Brustdrüse ist sicht- und tastbar vergrößert, jedoch ohne Pigmentierungs- oder Größenzunahme der Mamille und der Areola. Die vorzeitige Thelarche ist gonadotropinunabhängig und somit nicht als vorzeitige Aktivierung der HHG-Achse zu werten. Es tritt keine Wachstumsakzeleration, keine Schambehaarung oder Vergrößerung der Labia minora auf und das Menarchealter wird dadurch nicht beeinflusst. Die prämature Thelarche ist meistens ein passageres Phänomen in der hormonellen Ruhephase, kann aber in variabler Ausprägung auch bis zum regulären Pubertätsbeginn persistieren. Als Ursache wird eine Fluktuation des Östrogenspiegels aus Ovarialfollikeln angesehen; als Normvariante bedarf die prämature Thelarche keiner Therapie. Östrogene in Nahrungsmitteln (Tiermast) und Kosmetika können auch eine prämature Thelarche auslösen.
Heute stehen Substanzen, die humoral und/oder hormonal den epigenomischen und mikrostrukturellen Entwicklungsprozess eines Organismus beeinträchtigen können, die sog. „Endocrine Disrupting Chemicals“ (EDC), imEndocrine Disrupting Chemicals Fokus der entwicklungstoxikologischen Forschung. Die Disruptoren der Sexualsteroidrezeptoren, darunter „Weichmacher“, z. B. BisphenolBisphenole A, DDT und DDE, die ubiquitär vorhanden sind, beeinflussen unter anderem generationsübergreifend die Fertilität beider Geschlechter. Das Gleiche gilt für per- und polyfluorierte Tenside z. B. PFC, PFOA, PFHxS. Sie interferieren mit den Steroidhormonen und haben verschiedene östrogenartige oder antiandrogene Auswirkungen, z. B. werden die Östrogenrezeptoren blockiert bzw. künstlich aktiviert. Basierend auf umfangreichen Untersuchungen, wird im europäischen Raum ein erneuter säkularer Trend beobachtet. Die Inzidenz der Pubertas praecox hat sich in den letzten 20 Jahren verdreifacht. In einer 2009 durchgeführten dänischen Untersuchung bei knapp 1.000 Mädchen wurde eine Vorverlagerung der Thelarche um knapp ein Jahr im Mittel gegenüber den 1990er-Jahren beobachtet. Das Menarchealter nahm nur leicht ab. Beim anhaltenden säkularen Trend würde künftig das Auftreten der Thelarche vor dem vollendeten 7. Lebensjahr als vorzeitig gelten.
Die Pubarche basiert auf einem als Adrenarche bezeichneten Wachstumsvorgang der Zona reticularis der Nebennieren (unabhängig von der Reifung der HHG-Achse), der mit einer Mehrproduktion adrenaler Androgene, insbesondere des DHEAS, einhergeht. Diese bewirken das Auftreten von Schambehaarung, Akne und Schweißgeruch. Das Pubarchealter beträgt im Mittel 10,5 Jahre.
Prämature Pubarche: In 10 bis 30 % wird die Adrenarche vor der Thelarche beobachtet. Dieser adrenarche Reifungsprozess kann als isoliertes und benignes Phänomen verfrüht (zwischen dem 6. und 8. Lebensjahr) auftreten und daraus resultiert dann eine spärliche Schambehaarung. Eine prämature Adrenarche/Pubarche tritt häufiger bei Mädchen mit intrauteriner Wachstumsrestriktion („intrauterine growth restriction“, IUGR) auf. Das Gleiche gilt für „Small for Gestational Age“(SGA)-Mädchen, wenn nach pränataler Mangelversorgung post partum das Aufholwachstum durch neonatale Überernährung (zu) schnell erfolgte. Im Adoleszentenalter leiden diese Mädchen häufiger an Amenorrhö, Zyklusanomalien, Hirsutismus und entwickeln das Vollbild eines Polyzystischen Ovarsyndroms (PCOS).
Infektiöse Erkrankungen im Anogenitalbereich
Eine Vulvovaginitis VulvovaginitisistKindergynäkologieInfektionen das häufigste kindergynäkologische Problem überhaupt und mit 50–60 % der häufigste Konsultationsgrund. Die Art und der Verlauf der Erkrankungen hängen vom Alter und von dem jeweiligen Grad der Östrogenisierung ab.
Beim Neugeborenen bildet das sukkulente Hymen eine gute mechanische Barriere. In der Vulva herrscht Laktobazilluskolonisation, pH-Wert 4–5. Schon nach wenigen Wochen kommt es (durch den Abfall des Östrogenspiegels) zur Ausbreitung einer bakteriellen Mischflora.
Eine intrauterin entstandene konnatale Kandidose wird als Rarität beschrieben. Neonatale Kandidose: 10–20 % aller gesunden Reifgeborenen, die während der vaginalen Geburt von der mütterlichen Vagina mit Candida albicans kolonisiert worden sind, bekommen während des 1. Lebensjahres (mit einem Gipfel in der 2.–4. Lebenswoche) einen „Mundsoor“ und/oder „Windelsoor“ (Windeldermatitis Kap. 6.15.7).
In der hormonellen Ruhephase sind Candida-Vulvitiden wegen des hohen pH-Wertes selten und kommen praktisch nur bei Immunsuppression, langer Antibiotikatherapie und Diabetes vor. Entsprechend der Östrogenisierung der Vagina und Östrogenrezeptoren bei Candida sind die Voraussetzungen für eine Infektion ab der Präpubertät wieder gegeben. Die Infektionsquelle liegt meist im Darm. Atopikerinnen erkranken signifikant häufiger.
In der hormonellen Ruhephase ist das Genitale besonders anfällig gegenüber Entzündungen, da schützende Haare und das labiale Fettpolster fehlen.
Mangelhafte Intimhygiene und -pflege sind die Hauptursachen für Irritationen und Entzündungen der Scheide (Koinzidenz mit HWI und rezidivierenden Vulvasynechien).
Es fehlt an elterlicher Vermittlung eindeutiger Verhaltensregeln und Anleitung zur Intimhygiene. Das Kindergartenkind will alles selber machen. Es weigert sich z. B., den für sie vorgesehenen Toilettensitz weiter zu benutzen. Es kommt zur falschen Miktionshaltung, sodass der Urin die Vulva benetzt und retrograd in die Vagina läuft. Beim Aufstehen kommt es zum Nachtröpfeln und das immer feuchte Milieu in der Unterhose führt zur Rötung und Hautreizungen. Beim Abwischen von hinten nach vorne nach dem Stuhlgang gelangen die Darmkeime in die Vagina und in die Harnröhre. Zur täglichen Reinigung reichen die Handbrause und die eigene Hand.
In diesem Alter kommen überwiegend akute und chronisch rezidivierende unspezifische Vulvovaginitiden durch Keime der normalen vaginalen Flora (ohne oder mit erhöhter Keimzahl an fäkalen Aerobiern oder einer Überpopulation von Anaerobiern in der Vagina). Die Mädchen klagen über Jucken in der Scheide. Wenn Schmerzen beim „Pipi-Machen“ angegeben werden, besteht eine Komorbidität mit HWI. Der häufigste Erreger ist E. Coli und die Infektion ist meist auf die unteren Harnwege beschränkt.
Symptomzuordnung der Dysurie:
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Urethritis: starker Schmerz zu Beginn der Miktion, Angst vor der Miktion.
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Vulvitis: geringer Schmerz nach Beginn der Miktion, kaum Miktionsangst.
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Zystitis: geringer Schmerz am Ende der Miktion, kaum Angst vor der Miktion.
Die typischen Angaben wie Rötung und Trockenheit der Vulva sowie Schmerzen können auch rein mechanisch verursacht sein: Scheuern der Wäsche, Masturbation, vaginale Oxyurenbesiedlung (Kratzspuren) oder sexuelle Manipulationen. (Sexueller Kindesmissbrauch Kap. 10.3)
Neben der Hygieneberatung besteht die Therapie der unspezifischen Vulvovaginitis aus Sitzbädern mit Kleiezusatz, Tanninen oder Povidon-Jodlösung.
Weitere Infektionen
„Gynäkologischer Schnupfen“: Vulvitis als Begleitreaktion bei viralen Atemwegsinfekten. Vulvitis durch Infektion mit β-hämolysierenden Streptokokken der Gruppe A und selten auch Staphylococcus aureus (Superinfektion). Therapie wie die der Primärinfektion (Hautkrankheiten Kap. 6.15).
Genitale Bläschen oder Ulzerationen werden bei Varizellen, Mollusken, HSV-Infektionen und bei Impetigo contagiosa beobachtet (Hautkrankheiten Kap. 6.15).
Dermatologische Erkrankungen, die von Vulvovaginitiden abgegrenzt werden müssen umfassen Dermatitis atopica, Dermatitis seborrhoides, Psoriasis, unspezifische Exantheme (Hautkrankheiten Kap. 6.15).
Ein vaginaler Fremdkörper verursacht mit der Zeit zwangsläufig eine eitrige Vaginitis mit Fluor und muss vaginoskopisch entfernt werden. Die Zervix ist im Kindesalter fest verschlossen, sodass es nicht zu aufsteigenden Infektionen kommen kann.
Sexuell übertragbare Infektionen – Sexually Transmitted Infections (STI) – können bei einem Kind jenseits der Neonatalperiode die einzigen medizinischen Hinweise für sexuellen Missbrauch sein. Nach Ausschluss einer dokumentierten konnatalen Infektion ist der Nachweis von Neisseria gonorrhoe oder von Chlamydia trachomatis jenseits des 3. Lebensjahres bei einem präpubertären Kind sowie der serologische Nachweis einer erworbenen Syphilis oder HIV-Infektion ein sicherer Beweis eines sexuellen Missbrauchs. Trichomonas vaginalis kann ebenfalls perinatal übertragen werden und gilt erst jenseits des 1. Lebensjahres beweisend. Condylomata acuminata (HPV) jenseits des 3. Lebensjahres sind ein möglicher Hinweis. Eine genitale Lokalisation des HSV ist ebenfalls ein Indiz. Hepatitis B kann prinzipiell sexuell übertragen werden (Sexueller Kindesmissbrauch Kap. 10.3).
Merke.
Präpubertär sind Gonorrhö und Chlamydien lokalisierte vaginale Infektionen.
Das Hymen ist ausgesprochen schmerzempfindlich. Abstrichentnahme mit angefeuchtetem Urethraltupfer.
Praxistipp
Seit 3/2016 gibt es einen nonavalenten HPV-Impfstoff, Gardasil9® (2-Dosen-Schema für 9- bis 14-jährige).
Akzidentelle genitale Verletzungen – Differenzialdiagnose sexueller Kindesmissbrauch
Definition
Die KindesmissbrauchsexuellermeistenKindergynäkologiegenitale Verletzungen Unfälle passieren, wenn Mädchen rittlings z. B. von einem Klettergestell abrutschen und auf eine Stange aufprallen oder beim Abrutschen vom Fahrradsattel auf den Holm. Die Mehrzahl der Verletzungen sind geringfügige, oberflächliche und einseitige Prellungen der Labia majora und minora sowie der Klitoris. Die tiefer und geschützt liegenden Strukturen wie das Hymen und die „posteriore Fourcette“ sind selten betroffen. Ausnahmen sind penetrierende Verletzungen z. B. durch Spielzeug.
Diagnosestellung
Bei Unfällen wird in der Regel unmittelbar um medizinische Hilfe gesucht und ein akutes, dramatisches Trauma geschildert. Die anamnestischen Angaben des Mädchens und der Begleitpersonen stimmen überein und sind zum geschilderten Unfallgeschehen plausibel. Es sollte grundsätzlich eine Ganzkörperuntersuchung stattfinden, um extragenitale Verletzungen festzustellen und den Fokus vom Genitale zu nehmen.
Dokumentationsschema bei V. a. nicht akzidentelles Trauma (siehe Literatur). In jedem Fall ist eine fotografische Dokumentation erforderlich.
Differenzialdiagnose
Das Wahrnehmen und Interpretieren der noch so subtilen Signale des Mädchens bei der Schilderung des Unfallhergangs, dessen Schweigen und gestörte Interaktion zwischen dem Kind und der Begleitperson lenken die Aufmerksamkeit auf ein nicht akzidentelles Trauma (Sexueller Kindesmissbrauch Kap. 10.3). Der Verdacht wird zur Sicherheit, wenn sich bei der anogenitalen Inspektion herausstellt, dass der klinische Befund nicht kausal für den geschilderten Unfall sein kann. Beispielsweise handelt es sich um einen Riss der „posterioren Fourcette“, die für eine penile Penetration typisch ist (Adams III), aber bei einem „Fahrradunfall“ nicht entstehen kann. Typischerweise werden die Opfer von nicht akzidentellen Verletzungen nicht zeitnah zum Trauma vorgestellt. Das anogenitale Gewebe hat ein enormes Potenzial zu rascher und oft vollständiger Heilung, ohne bleibende Spuren zu hinterlassen.
Kleine kindergynäkologische Operationen
In der KindergynäkologieOperationenPräpubertät, wenn das Mädchen bereits mit dem eigenen Körper vertraut ist (Menstruation, Tampons), sollte das imperforierte Hymen (falls nicht früher geschehen siehe oben: Neugeborenenperiode), das Hymen cribriformis (eine Normvariante des Hymens) sowie Hymenalstege exzidiert werden. Eine weitere Normvariante, das Hymen altus (kragenförmig hoch aufgebautes Hymen), sollte schon früher exzidiert werden, falls Miktionsbeschwerden und/oder HWI auftreten. Der Urin läuft in die Vagina, analog der falschen Sitzhaltung auf der Toilette.
Fallbeispiel.
Auflösung
Diagnose: Unspezifische Vulvitis und Vulvasynechie durch mangelhafte Hygiene.
Therapie: Behutsame manuelle Lösung der Vulvasynechie (nach der Lösung wird das scharfrandige Hymen semilunaris sichtbar), Nachbehandlung zwei Wochen einmal pro Tag mit estriolhaltiger Vaginalcreme OeKolp-Creme®, Sitzbäder mit Povidon-Jodlösung.
Beratung: Tinas Erziehung zur Intimhygiene nachholen und die Therapie durchsetzen. „Dein Popo muss auch gebadet und gecremt werden – wie bei Elisa.“ Die Entdeckung der Sexualität als normalen Entwicklungsvorgang gelassen akzeptieren. Kleinkinder erkunden gegenseitig ihre Genitalregion und entdecken die Masturbation. So führt der Miktionsaufschub (Sitzen auf der Ferse, Kreuzen der Beine und Zusammenpressen der Oberschenkel) zur indirekten Stimulation der Klitoris (Infantile Sexualität Kap. 10.3).
Hinweis
Auf der Basis der interdisziplinären Kooperation gründeten die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe und die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin 1980 die Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendgynäkologie e. V. (AG). Die Pädiatrie und die Gynäkologie sind im Vorstand paritätisch vertreten. Die Ziele und Aufgaben der AG sind Förderung der Kompetenz als Merkmal ausweisbarer Befähigung auf diesem Gebiet praktizierender Ärztinnen und Ärzte (www.kindergynäkologie.de).
Literatur und Internet
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6.18. Auffälliger Urin und Schmerzen beim Wasserlassen
6.18.1. Auffälliger Urin
Leitsymptom Hämaturie
Fallbeispiel.
Stefan stellt sich zur U9 vor. Im Urin ist eine isolierte Hämaturie auffällig.
Fragen zum Fallbeispiel
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Welche Urin UrinHämaturieanamnestischen Angaben sind hilfreich?
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Welche diagnostischen Maßnahmen sind unerlässlich?
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Was sind in solcher Situation Alarmzeichen?
Stellenwert in der Grundversorgung
Die akute, schmerzlose Makrohämaturie Makrohämaturie ist zwar ein seltenes Ereignis in der pädiatrischen Grundversorgung, kommt aber – bei post-/parainfektiöser Genese – bisweilen regional und zeitlich gehäuft vor.
Eine isolierte Mikrohämaturie Mikrohämaturie ohne Alarmsymptome (siehe unten) tritt bei ca. 2–5 % der Kinder zwischen drei und zehn Jahren auf. Diese persistiert aber selten über den Zeitraum von zwölf Monaten, sodass diese dann nur noch bei 0,1–1 % bei derselben Population liegt.
Definition
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Makrohämaturie: Sichtbare Braun- oder Rotfärbung des Urins durch Erythrozyten
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Mikrohämaturie: > 5 Erythrozyten/µl Urin, aber keine sichtbare Rotfärbung des Urins
Klinisches Erscheinungsbild
Während die Makrohämaturie akut wahrgenommen wird, wird die Mikrohämaturie meist zufällig z. B. im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen detektiert.
Diagnosen und Differenzialdiagnosen
Eine Rot- oder Braunverfärbung des Urins muss nicht zwingend eine Makrohämaturie bedeuten, Ursachen können sein:
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Endogene Ursachen:
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–Erythrozyten
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–Hämoglobin
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–Myoglobin
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–Stoffwechselprodukte (Homogentisinsäure [Alkaptonurie], Porphyrine)
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–Amorphe Urate (Ziegelmehl)
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Exogene Ursachen:
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–Nahrungsmittel: Rote Bete, Rhabarber, Brombeeren, Lebensmittelfarbstoffe
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–Medikamente: Deferoxamin, Ibuprofen, Metronidazol, Nitrofurantoin, Phenytoin
-
–Bakterien: Serratia marcescens
-
–
Eine Hämaturie wird primär mittels Urinteststreifen detektiert und in der Mikroskopie bestätigt.
Mit der Urinmikroskopie des Urinsediments erfolgt auch die wichtige Differenzierung zwischen glomerulärer und nicht-glomerulärer Ursache der Hämaturie. Der Nachweis von Akanthozyten (Abb. 6.71 ) ist beweisend für die glomeruläre Genese der Hämaturie (Abb. 6.72 ).
Abb. 6.71.

Drei Erythrozyten, davon zwei Akanthozyten
[P296]
Abb. 6.72.

Diagnostischer Algorithmus bei V. a. nicht-glomeruläre Hämaturie
[P296]
Weitere Hinweise auf eine glomeruläre Genese der Hämaturie (Abb. 6.73 ) sind: bräunlich-trüber bis colafarbener Urin (statt rosa bis hellrot).
Abb. 6.73.

Diagnostischer Algorithmus bei Verdacht auf glomeruläre Hämaturie
[P296]
Vorsicht.
Alarmsymptome bei Hämaturie:
-
•
Proteinurie
-
•
Arterielle Hypertonie (Perzentilen nach Alter, Größe und Geschlecht Kap. 3, Anhang)
-
•
Eingeschränkte glomeruläre Filtration
-
•
Oligurie
-
•
Schlechter Allgemeinzustand
-
•
Anamnese von Durchfall innerhalb der letzten zwei Wochen (DD: HUS)
Bei Hämaturie und Alarmsymptomen ist eine weiterführende Diagnostik zur Klärung der Entität erforderlich.
Die „erweiterte Familienanamnese bei Hämaturie“ bedeutet eine Untersuchung aller Familienmitglieder auf Hämaturie mittels Urinteststreifen über mehrere Tage.
Beratung und Behandlung
Bei isolierter Mikrohämaturie ohne Alarmsymptome und negativer Familienanamnese (Cave: Alport-Syndrom) ist eine abwartende Haltung indiziert. Bei Makrohämaturie mit Alarmsymptomen ist eine Kontaktaufnahme mit dem kindernephrologischen Kollegen zu empfehlen.
Eine stationäre Aufnahme ist bei unkontrollierbarer arterieller Hypertonie oder zur diagnostischen Nierenbiopsie erforderlich.
Nephroprotektives, antiproteinurisches und antihypertensives Basismedikament ist bei der Hämaturie mit Alarmsymptomen ein ACE-Hemmer (oder Angiotensin-Rezeptorblocker).
Fallbeispiel.
Auflösung
Bei den Kontrolluntersuchungen nach vier Wochen und sechs Monaten persistiert die Mikrohämaturie. Alarmsymptome sind nicht vorhanden. Eine Untersuchung der Familienmitglieder ergibt auch eine Hämaturie beim Vater. Dieser berichtet, dass dies auch sein Vater hat. Da bei allen Familienmitgliedern nie Alarmsymptome auftraten, ist von einer familiären Hämaturie auszugehen. Möglicherweise liegt ein Syndrom der dünnen Basalmembran vor. Eine regelmäßige jährliche Kontrolle ist indiziert.
Leitsymptom Proteinurie
Fallbeispiel.
Die 14-jährige Helene hatte einen Berufsschnuppertag in einer Allgemeinarztpraxis. Dort untersuchte sie ihren UrinUrinProteinurie per Urinteststreifen. Dabei fiel eine isolierte Proteinurie von +++ (500 mg/dl) auf (Abb. 6.74 ).
Abb. 6.74.

Schaumiger Urin bei Proteinurie
[P296]
Fragen zum Fallbeispiel
-
•
Welche diagnostischen Maßnahmen sind hilfreich?
-
•
Was sind in solcher Situation Alarmzeichen?
Stellenwert in der Grundversorgung
Die isolierte ProteinurieProteinurie – diagnostiziert per Urinteststreifen – ist nicht selten. Meist ist sie harmlos, da eine Verunreinigung oder ein konzentrierter Urin falsch positive Werte ergibt.
Definition
-
•
Normale Eiweißausscheidung: < Eiweißausscheidungim Urin, normale100 mg/m2 KOF und d oder < 0,2 g Eiweiß/g Kreatinin
-
•
Kleine Proteinurie: Eiweißausscheidung von 100–1.000 mg/m2 KOF und d oder 0,2–2,0 g Eiweiß/g Kreatinin
-
•
Große Proteinurie: Eiweißausscheidung von > 1.000 mg/m2 KOF und d oder > 2,0 g Eiweiß/g Kreatinin
Vorsicht.
Tubuläre (= kleinmolekulare) Proteine werden vom Urintesttreifen nicht erkannt. Eine Eiweißdifferenzierung im Labor ist daher sinnvoll, um eine Tubulopathie nicht zu übersehen.
Klinisches Erscheinungsbild
Eine große Proteinurie, die rasch entsteht, geht in der Regel mit Ödemen einher (Kap. 6.18.3, nephrotisches Syndrom). Eine kleine Proteinurie oder auch eine große Proteinurie, die schon über Monate besteht, ist meist nur mittels Urinuntersuchung zu detektieren.
Diagnosen und Differenzialdiagnosen
Diagnostischer Algorithmus bei Proteinurie (Abb. 6.75 ).
Abb. 6.75.

Diagnostischer Algorithmus bei Proteinurie
[P296]
Weitere Diagnostik (Abb. 6.75):
-
•
Kreatinin, Harnstoff, Cystatin C, Harnsäure, Sammelurin (GFR, Eiweißdifferenzierung), Eiweiß, Albumin, GOT, GPT, Cholesterin.
-
•
Komplement C3, C4 …
ANA, ds-DNA-AK, ANCA, GBM-Ak, ASL, Anti-DNAse B-Titer
-
•
Blutdruck, Sonografie der Niere
-
•
Ggf. Nierenbiopsie, ggf. Genetik
Vorsicht.
Alarmsymptome bei Proteinurie:
-
•
Hypalbuminämie
-
•
Ödeme
-
•
Hämaturie
-
•
Arterielle Hypertonie (Perzentilen nach Alter, Größe und Geschlecht siehe Anhang)
-
•
Eingeschränkte glomeruläre Filtration
Bei Proteinurie und Alarmsymptomen ist eine weiterführende Diagnostik zur Klärung der Entität erforderlich.
Beratung und Behandlung
Bei isolierter Proteinurie mit Alarmsymptomen (nephritisches Syndrom und nephrotisches Syndrom) ist eine Kontaktaufnahme mit dem kindernephrologischen Kollegen zu empfehlen.
Bei isolierter persistierender Proteinurie ohne Alarmsymptome ist das Ergebnis des (Tag/Nacht) getrennten Sammelurins entscheidend. Eine orthostatische Proteinurie kann auch auf eine beginnende Glomerulopathie hinweisen und ist eine Ausschlussdiagnose. Kommen aber bei Kontrollen über > 12 Monate keine Alarmzeichen hinzu, können die Kontrolluntersuchungen weitmaschiger sein.
Typisch ist die orthostatische Proteinurie bei sportlichen Jugendlichen. Hier sollte auch ein „Nussknackerphänomen“ dopplersonografisch ausgeschlossen werden.
Als Renales Nussknacker-Syndrom (NCS) wird die Kompression der linken Nierenvene (LRV) zwischen der Arteria mesenterica superior (SMA) und der abdominalen Aorta bezeichnet.
Nephroprotektives, antiproteinurisches und antihypertensives Basismedikament ist bei Proteinurie > 500 mg/m2 und Tag ein ACE-Hemmer (oder Angiotensin-Rezeptorblocker).
Fallbeispiel.
Auflösung
Während bei Helene ein nephritisches und ein nephrotisches Syndrom ausgeschlossen werden konnte, zeigte sich über einen Zeitraum von zwölf Monaten in mehreren getrennten Tag/Nacht-Sammelurinen eine orthostatische Proteinurie. Ein Nussknackerphänomen wurde ausgeschlossen. Es war zu beobachten, dass die Proteinurie insbesondere an Tagen starker sportlicher Betätigung hoch war.
Leitsymptom Leukozyturie
Fallbeispiel.
Die dreijährige Karla hat Bauchschmerzen. Als Ursache stellt sich eine Obstipation heraus. Die veranlasste Urinprobe zeigt eine Leukozyturie.
Fragen zum Fallbeispiel
-
•
Welche anamnestischen Angaben sind hilfreich?
-
•
Welche diagnostischen Maßnahmen sollten erfolgen?
Stellenwert in der Grundversorgung
Die LeukozyturieLeukozyturie UrinLeukozyturie ist ein häufiges Phänomen in der kinder- und jugendärztlichen Praxis und betrifft vor allem Säuglinge. Gerade in dieser Altersgruppe ist die Differenzierung zwischen positiven und falsch positiven Befunden schwierig.
Definition
Leukozyten-Normwerte:
-
•
Mädchen und Jungen < 3 Jahren:
-
–< 20 Leukozyten/µl: normal
-
–20–50/µl: verdächtig
-
–> 50/µl: pathologisch
-
–
-
•
Jungen > 3 Jahre: > 10 Leukozyten/µl: pathologisch
Uringewinnung
Unabhängig vom Alter sollte vor UringewinnungUringewinnung eine Reinigung des Genitales durchgeführt werden (Wasser, NaCl 0,9 % oder nicht-schäumendes Antiseptikum). Ist eine willkürliche Blasenentleerung möglich, wird ein Mittelstrahlurin gewonnen, ansonsten ist die erste Screeningmethode der Beutelurin.
Ein positiver Beutelurin erfordert einen Bestätigungstest, z. B. mittels Mittelstrahlurin beim Säugling (clean catch urine), Katheterurin, suprapubische Blasenpunktion.
Klinisches Erscheinungsbild
Eine Leukozyturie kann makroskopisch als trüber Urin wahrgenommen werden. Bei zusätzlicher Bakteriurie ist der Urin oft übel riechend.
Diagnosen und Differenzialdiagnose
Bei Leukozyturie in einem adäquat gewonnenen Urin ist eine Urinmikroskopie nativ und als Sediment sinnvoll. Der Nachweis von Leukozytenzylindern ist pathognomonisch für eine Pyelonephritis.
Vorsicht.
Fallstricke
-
•
Kein/Kaum Nachweis von Leukozyten in der Urinmikroskopie trotz positivem Urinteststreifen → Bei länger stehendem Urin können die Leukozyten lysiert sein, aber im Urinteststreifen basierend auf der Leukozytenesterase-Reaktion nachzuweisen sein.
-
•
Isolierter Nachweis von Nitrit, ohne Nachweis von Leukozyten → dies ist nicht pathologisch und weist lediglich auf die Existenz nitrat-reduzierender Bakterien hin.
-
•
Bei Nierenabszessen oder einer fokalen Pyelonephritis kann die Leukozyturie fehlen.
-
•
Nicht jede Leukozyturie ist eine Harnwegsinfektion → z. B. auch bei Glomerulonephritiden können Leukozyturien auftreten.
Beratung und Behandlung
Die Leukozyturie weist auf eine Inflammation im Urogenitaltrakt hin. Somit richtet sich die Therapie nach der Ursache (Harnwegsinfektion Kap. 6.18.2, nephritisches Syndrom Kap. 6.18.4).
Fallbeispiel.
Auflösung
Ursächlich für die Leukozyturie zeigte sich bei Karla eine Entzündung im Anogenitalbereich infolge der Obstipation. Die Urinkultur blieb negativ. Dennoch wurden die Eltern aufgeklärt, dass eine Obstipation ein Risikofaktor für eine Harnwegsinfektion ist. Neben der Therapie der Obstipation wurde den Eltern empfohlen, das Genitale bei Karla nur mit Wasser zu reinigen, keine Weichspüler zum Wäschewaschen zu verwenden und enge Kleidung zu meiden.
Leitsymptom trüber Urin
Fallbeispiel.
Da die UrinTrübungUrinprobe bei der U8 nicht geklappt hat, bringt die Mutter von Annabell den Urin am folgenden Tag in die Praxis und ist beunruhigt, da dieser nun in der Praxis milchig trübe ist.
Fragen zum Fallbeispiel
-
•
Welche anamnestischen Angaben sind hilfreich?
-
•
Welche diagnostischen Maßnahmen sind hilfreich?
Stellenwert in der Grundversorgung
Ein trüber Urin ist ein häufiges Phänomen in der kinder- und jugendärztlichen Praxis.
Definition
Urin, der durch schwebende, aufgeschüttelte oder abgelagerte Teilchen nicht klar ist.
Klinisches Erscheinungsbild
Ein asymptomatischer trüber Urin ist von solchem mit Dysurie, Pollakisurie, Schmerzen oder Fieber zu differenzieren.
Diagnosen und Differenzialdiagnose
Ursachen eines trüben Urins:
-
•
Leukozyten
-
•
Bakterien
-
•
Pilze
-
•
Salze
-
–Amorphe Urate
-
–Amorphe Phosphate
-
–
-
•
Fette (Verunreinigung durch Cremes, Suppositorien, Chylurie)
Vorsicht.
Bei Übersättigung des Urins durch amorphe Phosphate ist der Urin bereits bei der Miktion trübe. Die Trübung durch amorphe Urate entwickelt sich erst, wenn der Urin abkühlt.
Beratung und Behandlung
Bei trübem Urin sind harmlose Ursachen von Ursachen zu trennen, die eine Intervention erfordern (Pyurie, Harnwegsinfektion).
Fallbeispiel.
Auflösung
Urinmikroskopisch zeigen sich amorphe Urate. Passend dazu schildert die Mutter, dass der Urin zu Hause noch klar war. Während des Transports war der Urin der kalten Witterung ausgesetzt. Die Mutter wird über die Harmlosigkeit aufgeklärt und es wird die bereits am Vortag besprochene Erhöhung der sehr niedrigen Trinkmenge bei Annabell bekräftigt.
6.18.2. Schmerzen beim Wasserlassen – Harnwegsinfektion
Fallbeispiel.
Den Schmerzenbeim Wasserlassen Harnwegsinfektion UrinHarnwegsinfektion UrinSchmerzen beim WasserlassenEltern des zwei Monate alten Kevin fällt auf, dass ihr Sohn heute schlechter trinkt und länger als sonst schläft. Am Nachmittag fühlt er sich zudem warm an. Die Oma, die zum Nachmittagskaffee kommt, rät zur Temperaturmessung: 39,7 °C.
Fragen zum Fallbeispiel
-
•
Welche diagnostischen Maßnahmen sind unerlässlich?
-
•
Was sind in solcher Situation Alarmzeichen?
Fallbeispiel.
Die Eltern der fünfjährigen Kiara werden von der Kindergärtnerin angerufen, da Kiara in den letzten beiden Stunden sechsmal auf der Toilette zum Wasserlassen war und über Bauchschmerzen klagt. Die Temperatur wurde gemessen: 37,1 °C.
Fragen zum Fallbeispiel
-
•
Welche anamnestischen Angaben sind hilfreich?
-
•
Welche diagnostischen Maßnahmen sind unerlässlich?
-
•
Was sind in solcher Situation Alarmzeichen?
Stellenwert in der Grundversorgung
Eine Harnwegsinfektion ist eine häufige bakterielle Infektion in der pädiatrischen Praxis: ca. 3–8 % aller Mädchen und 1–2 % aller Jungen erkranken in ihrer Kindheit an mindestens einer Harnwegsinfektion. Während im ersten Lebensjahr mehr Jungen als Mädchen von Harnwegsinfektionen betroffen sind, sind ab dem Alter von sechs Monaten Mädchen 10- bis 20-fach häufiger betroffen. Zudem neigen Harnwegsinfektionen zur Rekurrenz. Das Risiko einer erneuten Harnwegsinfektion ist in den ersten drei (bis sechs) Monaten nach stattgehabter Infektion am größten.
Definition
Harnwegsinfektionen können nach verschiedenen Kriterien eingeteilt werden:
-
•
Nach der Lokalisation:
-
–Zystitis: Infektion von Blase und ggf. Urethra
-
–Pyelonephritis: Infektion von Ureter, Pyelon oder Niereninterstitium → fließender Übergang zur Urosepsis
-
–Akute fokale bakterielle Nephritis: lokalisierte bakterielle Infektion der Niere mit Neigung der AbszessbildungCave: oft keine Leukozyten im Urin, sonografische Diagnose
-
–
-
•
Nach der Symptomatik:
-
–Asymptomatische Bakteriurie: isolierte signifikante Bakteriurie ohne Symptome (definitionsgemäß keine Infektion)
-
–Asymptomatische Harnwegsinfektion: signifikante Bakteriurie und Leukozyturie, aber ohne Symptome
-
–Symptomatische Harnwegsinfektion: signifikante Bakteriurie und Leukozyturie mit SymptomenWichtig ist hier die Unterscheidung zwischen afebriler und febriler (> 38,5 °C) Harnwegsinfektion. Dies entspricht meist der Unterscheidung Zystitis (afebril) und Pyelonephritis (febril). Sensitivster Laborparameter zur Diskriminierung ist hier aktuell das Procalcitonin.
-
–
-
•
Nach Komplikationsmöglichkeiten:
-
–Unkomplizierte HWI: normaler Harntrakt, normale Blasenfunktion, normale Nierenfunktion, normale Immunkompetenz
-
–Komplizierte HWI: bei Nieren-, Harntraktfehlbildung, Harnabflussbehinderung, VUR, Urolithiasis, neurogener Blasenentleerungsstörung, Immundefizienz, Fremdkörper, Diabetes mellitus, Niereninsuffizienz, Z. n. Nieren-TX
-
–
Klinisches Erscheinungsbild
Das klinische Bild einer Harnwegsinfektion ist vom Erkrankungsalter und von der Lokalisation (Zystitis versus Pyelonephritis) abhängig. Je jünger das Kind, desto weniger häufig ist die Harnwegsinfektion nur auf die Blase begrenzt.
-
•
Neugeborene: Hypothermie oder Fieber, Trinkschwäche, grau-blasses Hautkolorit, meningitische Zeichen wie Berührungsempfindlichkeit, schrilles Schreien etc. Der Übergang zur Urosepsis ist fließend, daher auch Zeichen der Kreislaufzentralisierung
-
•
Säuglinge: Fieber ist meist das führende Symptom, Symptome wie bei den Neugeborenen
Merke.
Bei jedem Fieber ohne klare Ursache muss in dieser Altersklasse eine Harnwegsinfektion differenzialdiagnostisch in Betracht gezogen werden.
-
•
Kleinkinder:
-
–Zystitis: Dysurie (Schmerzen/Schreien beim Wasserlassen), Pollakisurie, Einnässen tags und/oder nachts nach bereits erreichter Kontinenz. Dranginkontinenz, den Eltern fällt übel riechender Urin auf, Makrohämaturie
-
–Pyelonephritis: Fieber, diffuse Bauchschmerzen, der charakteristische Flankenschmerz wird in diesem Alter meist noch nicht lokalisiert angegeben
-
–
-
•
Schulkinder:
-
–Zystitis: Dysurie, Pollakisurie, Urge-Symptomatik, bisweilen auch Dranginkontinenz, übel riechender Urin, Makrohämaturie
-
–Pyelonephritis: Fieber, (einseitiger) Flankenschmerz
-
–Mit zunehmendem Lebensalter tritt die Zystitis häufiger als die Pyelonephritis auf (Ausnahme: Es besteht eine angeborene Fehlbildung der Nieren oder ableitenden Harnwege)
-
–
Diagnosen und Differenzialdiagnosen
Die Diagnose der Harnwegsinfektion begründet sich auf folgende Trias:
-
1.
Leukozyturie
-
2.
Bakteriurie
-
3.
Klinische Symptome einer Harnwegsinfektion (Ausnahme: asymptomatische Harnwegsinfektion)
Dies gilt für einen adäquat gewonnenen Urin! Der Beutelurin ist hier ein Screeningverfahren.
-
•
Ein unauffälliger Befund schließt eine Harnwegsinfektion weitgehend aus (Ausnahme: akute fokale bakterielle Nephritis)
-
•
Ein positiver Beutelurin (mikroskopische Leukozyturie und Bakteriurie) erfordert – vor allem wenn die Einleitung einer antibakteriellen Therapie klinisch dringlich ist – aufgrund der häufig falsch positiven Befunde einen Bestätigungstest (clean catch urine = Mittelstrahlurin beim nicht spontan miktionierenden Kind, Katheterurin oder suprapubische Blasenpunktion)
-
•
Bei Jungen sollte aufgrund der potenziellen Verletzungsgefahr der transurethrale Katheterismus zugunsten der suprapubischen Blasenpunktion vermieden werden
-
•
Genitale vor Uringewinnung gut mit Wasser reinigen
-
•
Ein entzündetes äußeres Urogenitale (Windeldermatitis, Vulvitis, Balanitis usw.) führt zu falsch positiven Befunden
-
•
Clean catch urine versuchen
-
•
Bei Verwendung eines Urinbeutels Kind mit geöffneter Windel auf Untersuchungsliege liegen lassen, damit die Miktion bald bemerkt wird. Klebt der Urinbeutel länger als 30 Minuten → neuen Urinbeutel kleben, um Kontaminationen zu vermeiden
-
•
Der Nachweis von Leukozyten im Urin per Urinteststreifen erfolgt via Leukozytenesterase-Reaktion, d. h. ist nur positiv, wenn die Leukozyten zerfallen sind. Dies kann in einem stark konzentrierten Urin ggf. ausbleiben
-
•
Eine isolierter Nachweis von Nitrit via Urinteststreifen ohne den Nachweis von Leukozyten weist keine Harnwegsinfektion nach, sondern die Anwesenheit von Nitrat reduzierenden Bakterien im Urin
-
•
Ein fehlender Nachweis von Nitrit schließt eine Harnwegsinfektion nicht aus
Merke.
Bei Nachweis von Leukozyten im Urinteststreifen ist eine Urinmikroskopie indiziert.
Fieber, Leukozytose und CRP > 20 mg/l sind hinweisend auf Pyelonephritis. Ein Procalcitonin > 0,5 ng/l diskriminiert sehr gut zwischen einer Pyelonephritis und einer Zystitis.
Mikroskopisch wird der frische Nativ-Urin in der Zählkammer (z. B. Fuchs-Rosenthal-Kammer) untersucht.
Normwerte – Leukozyten:
-
•
Mädchen:
-
–< 20 Leukozyten/µl: normal
-
–20–50/µl: verdächtig
-
–> 50/µl: pathologisch
-
–
-
•
Jungen > 3 Jahre: > 10 Leukozyten/µl: pathologisch
-
•
Jungen < 3 Jahren: siehe Mädchen
Eine Leukozyturie ist jedoch nicht spezifisch für eine Harnwegsinfektion (z. B. auch bei Urolithiasis, fieberhaften Infektionen anderer Ursache).
-
•
Falsch negative Befunde bei akuter fokaler bakterieller Nephritis, Pyonephrose bei ausgeprägter terminaler Ureterstenose …
-
•
Leukozytenzylinder im Urinsediment sind pathognomonisch für die Pyelonephritis
-
•
Bakteriologische Diagnostik:
| Kontamination | verdächtig | pathologisch | |
| Mittelstrahlurin | < 10.000/ml | 10.000–100.000/ml | > 100.000/ml |
| Katheterurin | < 1.000/ml | 1.000–10.000/ml | > 10.000/ml |
| Blasenpunktat | - | - | jeder Keimnachweis |
-
•
Anamnese
-
–Vorangegangene Harnwegsinfektionen
-
–Bekannte Risikofaktoren (Harntraktfehlbildungen, Blasenentleerungsstörungen, …)
-
–Risikofaktoren für die Zystitis im Klein- und Schulkindalter
-
–Funktionelle Blasenentleerungsstörung
-
–Harninkontinenz?
-
–Imperativer Harndrang?
-
–Pollakisurie?
-
–Miktionsaufschub?
-
–Auffällige Haltemanöver?
-
–Miktionsauffälligkeiten im Sinne von Stottern oder Pressen?
-
–Obstipation? Enkopresis?
-
–
-
–
-
•
Sonografie der Nieren und ableitenden Harnwege
-
•
Die Indikation zur Miktionszysturografie (MCU) wird kontrovers diskutiert, folgende Punkte sollten berücksichtigt werden:
-
–Nach erster Pyelonephritis beim Säugling → MCU
-
–Nach rezidivierenden Harnwegsinfektionen im Kleinkindesalter → MCU
-
–Bei Jungen nach der ersten Harnwegsinfektion: Röntgen-MCU (zum Ausschluss Urethralklappe)
-
–Bei Mädchen oder bei wiederholter MCU: sonografische oder szintigrafische MCU
-
–In Abhängigkeit der erhobenen Befunde evtl. spezielle weiterführende Diagnostik mittels DMSA-Szintigrafie, MAG-3-Szintigrafie, MR-Urografie oder Zystomanometrie notwendig
-
–
Die Indikation zur weiterführenden bildgebenden Diagnostik nach der Sonografie wird in Rücksprache mit dem kindernephrologischen Kollegen gestellt.
Pilze sind selten Ursache einer Harnwegsinfektion, Viren eine Rarität.
Beratung und Behandlung
Bei Verdacht auf HarnwegsinfektionHarnwegsinfektionBehandlung wird die antibakterielle Therapie begonnen, bevor das bakteriologische Ergebnis vorliegt, d. h. die Definition erfüllt ist. Diese kalkulierte antibakterielle Therapie erfolgt nach dem wahrscheinlichen Erregerspektrum. Vor Therapiebeginn sollte der Urin für die mikrobiologische Untersuchung asserviert worden sein.
Ob ein Kind mit Verdacht auf Harnwegsinfektion oral antibakteriell therapiert wird oder zur intravenösen Therapie stationär eingewiesen wird, entscheidet sich vor allem durch den klinischen Zustand des Kindes und die potenzielle Gefährdung. Kinder < 4–6 Monaten, der Verdacht auf eine (beginnende) Urosepsis, Trinkverweigerung, Erbrechen, komplizierte Harnwegsinfektion (z. B. bekannte Harntraktfehlbildung) sprechen für eine stationäre Aufnahme.
Wegen der zunehmenden Resistenz von E. coli gegenüber Trimethoprim/Cotrimoxazol oder Amoxicillin/Ampicillin ist von einer Monotherapie mit diesen Substanzen bei V. a. Harnwegsinfektion abzuraten.
Therapie der Pyelonephritis
Empfehlungen zur kalkulierten antibakteriellen Therapie einer Pyelonephritis Pyelonephritis in Abhängigkeit von Alter und Schweregrad (Tab. 6.36 ).
Tab. 6.36.
Empfehlungen zur kalkulierten antibakteriellen Therapie einer Pyelonephritis (nach DGPI Handbuch, 2013)
| Erkrankung | Initiale kalkulierte Therapie | Applikation | Gesamte Therapiedauer |
|---|---|---|---|
| Pyelonephritis im 1. Lebenshalbjahr | Ceftazidim + Ampicillin1 o. Aminoglykosid + Ampicillin1 | Parenteral, bis mind. 2 d nach Entfieberung, dann orale Ther.2Bei NG: parenterale Ther. 7–14 d, dann orale Ther. | 10(–14) d, NG: 14(–21) d |
| Unkomplizierte Pyelonephritis > 6. Monate | Cephalosporin Gruppe 31, 2 | Oral (initial ggf. parenteral) | (7–)10 d |
| Komplizierte Pyelonephritis/Urosepsis (jedes Alter) | Ceftazidim + Ampicillin1 o. Aminoglykosid + Ampicillin1 | Mind. 7 d parenterale, dann ggf. orale Ther.3 | Mind. 10–14 d |
Alternativ zur Therapiekombination Ceftazidim/Ampicillin setzt sich zunehmend die Therapie mit Piperacilin/Tazobactam durch
Nach Erhalt der Resistenztestung ggf. Umstellung der Ther.
Oral z. B. Cefpodoximproxetil, Ceftibuten, Cefixim
Umstellung auf orale Therapie nach Resistogramm, z. B. Oralcephalosporin
Therapie der Zystitis
Empfehlungen zur kalkulierten antibakteriellen Therapie einer Zystitis (Tab. 6.37 ).
Tab. 6.37.
Empfehlungen zur kalkulierten antibakteriellen Therapie einer ZystitisZystitis (nach DGPI Handbuch, 6. Aufl. 2013)
| Medikament | Tagesdosis | Applikation |
|---|---|---|
| Cefaclor | 50(–100) mg/kg x d | p. o. in 2–3 ED |
| Cefalexin | 50–100 mg/kg x d | p. o. in 3–4 ED |
| Cefuroximaxetil | 20(–30) mg/kg x d | p. o. in 2 ED |
| Cefpodoximproxetil | 8(–10) mg/kg x d | p. o. in 2 ED |
| Cefixim | 8–12 mg/kg x d | p. o. in 1–2 ED |
| Amoxicillin/Clavulansäure | 37,5–75 mg/kg x d (Amoxicillin-Anteil) |
p. o. in 3 ED |
| Nitrofurantoin | 3–5 mg/kg x d | p. o. in 2 ED |
Therapiekontrolle
Kinder mit Pyelonephritis entfiebern bei Wahl eines wirksamen Antibiotikums nach 48–72 Stunden, anderenfalls muss ein resistentes Bakterium, eine Pyonephrose oder eine Abszessbildung in Betracht gezogen werden.
Während Bakterien nach einem Tag erfolgreicher antibakterieller Therapie nicht mehr im Urin nachgewiesen werden können, kann die Leukozyturie eine Woche persistieren.
Prophylaxe und Beratung
Das Eruieren von Risikofaktoren für eine HarnwegsinfektionHarnwegsinfektionProphylaxe ist entscheidend (siehe oben). Das Risiko für eine erneute Harnwegsinfektion ist in den ersten drei bis (sechs) Monaten nach stattgehabter Infektion am höchsten. Die suffiziente Therapie von funktionellen Blasenentleerungsstörungen und die Regulation einer Obstipation sind als prophylaktische Maßnahmen essenziell.
Generell ist der Nutzen einer dauerhaft täglich angewendeten antibakteriellen Chemoprophylaxe (Tab. 6.38 ) hinsichtlich des sicheren Verhinderns einer Rekurrenz von Harnwegsinfektionen und des Vermeidens von Nierenparenchymnarben wissenschaftlich nicht belegt, da die Wirksamkeit und damit Notwendigkeit der antibakteriellen Prophylaxe von Alter, Geschlecht, Grad des VUR abzuhängen scheint. Eine individuelle Beratung ist hier erforderlich. Bewährt hat sich eine antibakterielle Chemoprophylaxe bei Säuglingen mit VUR ≥ III°. Die Prophylaxe sollte abends vor dem Zubettgehen verabreicht werden.
Tab. 6.38.
Substanzen zur antibakteriellen Infektionsprophylaxe
| Substanz | Einmalige Tagesdosis [mg/kg KG] | Anwendungsbeschränkungen |
|---|---|---|
| Nitrofurantoin | 1 | < 3. LM, Niereninsuffizienz, nicht länger als 6 Mon. |
| Trimethoprim | 1(–2) | < 7. Lebenswoche |
| Cefaclor | 10 | Keine |
| Cephalexin | 10 | Keine |
| Cefixim | 2 | FG u. NG1 |
| Ceftibuten | 2 | < 4. LM1 |
| Cefuroximaxetil | 5 | < 4. LM1 |
Keine ausreichenden Erfahrungen
Für das Kindesalter gibt es für folgende Substanzen keine signifikante Evidenz in der Prophylaxe der Harnwegsinfektionen im Kindesalter. Die Indikation sollte individuell gestellt werden.
-
•
L-Methionin (die Ansäuerung des Urins wirkt – insbesondere auf gramnegative Bakterien – bakteriostatisch)
-
•
Preiselbeersaftkonzentrat/Cranberry (Urinansäuerung, antientzündlich)
-
•
D-Mannose (Verhinderung der Adhärenz von E. coli an das Uroepithel)
-
•
Senföle (Isothiocyanate)
-
•
Orale Vakzinierung mit lysierten uropathogenen E. coli Stämmen
Fallbeispiel.
Auflösung
Kevin: Aufgrund der gemessenen erhöhten Körpertemperatur fahren die Eltern direkt zum Kinderarzt. Bei der klinischen Untersuchung ist kein Fokus des Fiebers zu eruieren. Kevin ist allerdings hypoton und hat eine verlängerte Rekapillarisationszeit. Im Beutelurin lassen sich per Teststreifen Leukozyten 3+, Nitrit positiv und Erythrozyten 1+ nachweisen, in der Urinmikroskopie massenhaft Leukozyten und Bakterien. Kevin wird in die Kinderklinik eingewiesen. Dort erfolgt die Bestätigung des Befundes nach suprapubischer Blasenpunktion. Auf die intravenöse Therapie mit Ceftazidim und Ampicillin entfiebert er nach drei Tagen. In der Urinkultur des Beutel- und des Punktionsurins wächst eine Monokultur mit E. coli (105/ml), sodass Kevin nach fünf Tagen mit einem oralen Cephalosporin (entsprechend dem Resistogramm) entlassen werden kann. Die Therapie erfolgt für insgesamt 14 Tage, anschließend erhält er eine antibakterielle Reinfektionsprophylaxe bis zur Durchführung einer Miktionszysturografie (MCU), auch wenn die Sonografie der Nieren und ableitenden Wege unauffällig war. Die MCU zeigt einen drittgradigen vesikoureterorenalen Reflux in die linke Niere. Den Eltern wird daher geraten, die antibakterielle Reinfektionsprophylaxe weiterzuführen. In der Folge treten keine Harnwegsinfektionen mehr auf. Bei der U6 berichten die Eltern, die Prophylaxe im Alter von neun Monaten selbstständig beendet zu haben. Da keine Harnwegsinfektionen mehr aufgetreten sind, wird auch auf eine Kontrolle der MCU und ein Wiederansetzen der Prophylaxe verzichtet.
Kiara: Der Kinderarzt bittet Kiara um eine Urinprobe. Im Teststreifen lassen sich Leukozyten 3+, Nitrit positiv und Erythrozyten 2+ nachweisen, in der Urinmikroskopie massenhaft Leukozyten und Bakterien. Der Urin wird zur mikrobiologischen Untersuchung verschickt und eine antibakterielle Therapie mit Cefpodoxim begonnen. Zwei Tage nach Beginn der Therapie mit Cefpodoxim hat Kiara keine Dysurie mehr, im Urin war E. coli (105/ml) gewachsen. Bei der Kontrolle nach sieben Tagen berichten die Eltern, dass Kiara tagsüber eigentlich immer noch nicht ganz trocken ist. Schon immer (auch vor der aktuellen Episode) hat sie einen sehr starken Harndrang und bisweilen schafft sie es nicht mehr rechtzeitig auf die Toilette. Das dann veranlasste Blasentagebuch zeigt eine niedrige Trinkmenge und eine hohe Miktionsfrequenz mit kleinen Blasenvolumina. Neben einem ausführlichen Gespräch über Trink- und Toilettenverhalten wird eine Therapie mit Propiverin-HCl begonnen. Bei der Kontrolle nach drei Monaten berichtet Kiara, dass sie nun tags und auch nachts nicht mehr in die Hose mache. Auch nach Absetzen der Therapie treten keine Harnwegsinfektionen mehr auf.
6.18.3. Ödeme – Nephrotisches Syndrom
Fallbeispiel.
Es ist März und der vierjährige Lars stellt sich wegen geschwollener Augen vor. Die Eltern sind beunruhigt, ob er allergisch auf Frühblüher reagiert. Zudem waren sie wegen eines nicht-fieberhaften Infekts der Luftwege vor zwei Wochen schon in der Praxis. Könnte hier ein Zusammenhang bestehen? Neben den geschwollenen Augen fällt ein ausladender Bauch auf und beim Ausziehen ist zu erkennen, das die Socken ordentlich eingeschnürt haben.
Fragen zum Fallbeispiel
-
•
Welche Nephrotisches SyndromDiagnostik ist zielführend?
-
•
Welche Konsequenzen ergeben sich nach Bestätigung der Diagnose?
Stellenwert in der Grundversorgung
Die jährliche Inzidenz des nephrotischen Syndroms in Deutschland liegt bei ca. 2 Neuerkrankungen pro 100.000 Kindern unter 16 Jahren (= ca. 250 Neuerkrankungen pro Jahr). Das nephrotische Syndrom im Kindesalter ist damit eine seltene Erkrankung, dennoch ist die frühe Diagnosestellung entscheidend für eine entsprechend frühe Einleitung der Therapie und die Vermeidung typischer Komplikationen.
Definition
Das nephrotische Syndrom im Kindesalter wird durch die Kombination aus großer Proteinurie und Hypalbuminämie definiert:
-
•
Große Proteinurie = Eiweißausscheidung von >1 g/m2 KOF x d oder >40 mg/m2 KOF x h im Sammelurin oder Urin-Eiweiß zu Urin-Kreatinin Ratio von >2 g/g (erster oder zweiter Morgenurin) plus
-
•
Hypalbuminämie = Serum-Albumin <2,5 g/dl
Eine Hyperlipidämie und Ödeme sind zwar nicht obligat, aber meistens nachweisbar.
Merke.
In 50–80 % treten Rezidive auf und das nephrotische Syndrom verläuft chronisch rezidivierend.
Klassifikation des rezidivierenden nephrotischen Syndroms:
-
•
Steroidsensibel
-
–Infrequent relapser
-
–Frequent relapser
-
–
-
•
Steroidabhängig
-
•
Steroidresistent
Das nephrotische Syndrom im Kindesalter ist ein Überbegriff. Die folgenden vier Kategorien helfen zur besseren Klassifizierung, bei der Planung von Diagnostik und Therapie, zudem sind sie entscheidend hinsichtlich der Prognose:
-
1.
Ätiologie: primär (idiopathisch, genetisch), sekundär (infektiös, autoimmunologisch)
-
2.
Alter: kongenital; infantil: Altersgruppe 1–10 Jahre, Altersgruppe 10–18 Jahre
-
3.
Histologie: Minimal Change Glomerulopathie, fokalsegmentale Glomerulosklerose
-
4.
Ansprechen auf Glucocorticoide (steroidsensibel, steroidresistent)
Klinisches Erscheinungsbild
Innerhalb von Tagen bis Wochen auftretende Ödeme: typisch sind Ödememorgendliche Lidödeme (Abb. 6.76 ), außerdem prätibiale Ödeme (Abb. 6.77 ), Skrotalödeme, Anasarka, Aszites und Pleuraergüsse und deutliche Gewichtszunahme.
Abb. 6.76.

Kind mit Lidödemen: links vor der Therapie und rechts nach der Therapie
[O530]
Abb. 6.77.

Ödeme an den Extremitäten
[E437]
Vorsicht.
Bei schleichendem Beginn können trotz ausgeprägter Proteinurie keine oder nur milde Ödeme bestehen.
Die intravasale Hypovolämie führt zur funktionellen Oligurie, ein Übergang in ein prärenales Nierenversagen ist möglich. Der Blutdruck ist meist niedrig normal. Häufige Begleitsymptome: Inappetenz, Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö, glomeruläre Hämaturie.
Komplikationen:
-
•
Thrombembolien infolge Hypovolämie, Hyperkoagulabilität, (z. B. Sinus-, Bein-, Nierenvenenthrombose)
-
•
Infektionen bedingt durch sekundären Antikörpermangel (selten, typisch ist die bakterielle Peritonitis, Pneumonie oder Sepsis durch Streptococcus pneumoniae)
-
•
Akute Niereninsuffizienz
-
•
Lungenödem
Ein typischer Verlauf ist ein idiopathisches nephrotisches Syndrom, in der Altersgruppe 1–10 Jahre und steroidsensibel sowie histologisch eine Minimal Change Glomerulopathie (wobei bei typischem Verlauf nicht biopsiert wird). Das Ansprechen auf Glucocorticoide ist entscheidend für die Prognose.
Auslöser: Infektionen, allergische Reaktionen oder Impfungen, häufig jedoch nicht zu eruieren.
Definition Rezidiv: Proteinurie an wenigstens drei aufeinanderfolgenden Tagen (Urinteststreifen Albustix® ≥ 2+) oder die Urin-Eiweiß zu Urin-Kreatinin Ratio von > 2.000 mg/g wird gemessen. Im Sammelurin liegt die Proteinurie bei > 1 g/m2 KOF x d (oder > 40 mg/m2 KOF x h) vor.
Diagnose und Differenzialdiagnose
Für die Diagnose einer Erstmanifestation ist die alleinige Untersuchung mittels Urinteststreifen nicht ausreichend, sondern lediglich ein Screening. Das Screeningergebnis wird durch eine quantitative Urin-Eiweißbestimmung (Urin-Eiweiß im Verhältnis zum Urin-Kreatinin) bestätigt.
Die rasch entstehende Hypalbuminämie führt zu Ödemen, die deshalb insbesondere bei der Erstmanifestation zu beobachten sind. Bei langsam progredienten Verläufen ist Hypalbuminämie oft ausgeprägter, die Ödeme infolge Kompensation sind jedoch nicht oder nur diskret vorhanden. (→ Große Proteinurie plus Hypalbuminämie siehe oben)
In Absprache mit dem Kindernephrologen ggf.:
-
•
Laboruntersuchung zum Ausschluss sekundärer Ursachen: C3, C4, ANA, anti-ds-DNA-AK, pANCA, cANCA, IgA, IgG, LDH, ASL, Anti-DNAseB, Antihyaluronidase
-
•
Molekulargenetik bei steroidresistentem nephrotischem Syndrom, bei kongenitalem oder infantilem nephrotischen Syndrom
-
•
Nierenbiopsie bei Steroidresistenz, atypischem Alter (< 1 oder > 10 Jahre), Makrohämaturie, ausgeprägter arterieller Hypertonie, C3-Erniedrigung, Hinweis auf Systemerkrankung
Beratung und Behandlung
Bei der Erstmanifestation ist in der Regel eine Hospitalisierung erforderlich, da schwere Ödeme bestehen, Komplikationen frühzeitig erkannt werden müssen und nicht zuletzt, um die Diagnose zu sichern → Kontaktaufnahme mit Kindernephrologie.
Standardinitialtherapie: Prednison: 60 mg/m2 KOF und Tag für 6 Wochen (max. 80 mg), anschließend 40 mg/m2 KOF alle 2 Tage für 6 Wochen (aktuell: INTENT-Studie der Gesellschaft Pädiatrische Nephrologie zur Initialtherapie des nephrotischen Syndroms: www.intent-study.de).
Begleitende Therapie: natriumarme Kost, evtl. Diuretika, Antihypertensiva, Antikoagulanzien.
Vorsicht.
Wegen der Gefahr von Thrombembolien und Niereninsuffizienz vorsichtiges Ausschwemmen der Ödeme!
Therapie des Rezidivs: Prednison 60 mg/m2 KOF und Tag, bis der Urin an drei aufeinanderfolgenden Tagen eiweißfrei ist (gemessen mit Albuminteststreifen), dann 40 mg/m2 KOF alle 2 d für 4 Wochen. Bei häufigen Rezidiven ist eine Therapie mit einer glucocorticoid-sparenden Substanz indiziert (Cyclophosphamid, Cyclosporin, Levamisol, Mycophenolatmofetil, Rituximab, Tacrolimus).
Fallbeispiel.
Auflösung
Im Urinteststreifen konnte bei Lars eine große Proteinurie festgestellt werden, die sich in der Laboruntersuchung (Urin-Eiweiß zu Urin-Kreatinin) bestätigte. Im Serum lag das Albumin bei 2,0 g/dl. Nach Konsultation eines Kindernephrologen wurden sekundäre Ursachen ausgeschlossen und die Standardinitialtherapie begonnen. Nach zehn Tagen sistierte die Eiweißausscheidung. Auch nach Ende der Initialtherapie untersuchen die Eltern den Morgenurin von Lars mittels Urinteststreifen Albustix®, um ein Rezidiv möglichst früh zu erkennen.
6.18.4. Blutiger Urin – Nephritisches Syndrom
Fallbeispiel.
Die Nephritisches Syndromsiebenjährige Nele berichtet ihren Eltern, dass ihr Pipi so komisch aussieht. Die Eltern stellen sich mit Nele in der pädiatrischen Praxis vor und bringen zwei Urinportionen (Abb. 6.78 , Abb. 6.79 ) mit.
Abb. 6.78.

Urinprobe 1
[P296]
Abb. 6.79.

Urinprobe 2
[P296]
Fragen zum Fallbeispiel
-
•
Welche anamnestischen Angaben sind hilfreich?
-
•
Welche diagnostischen Maßnahmen sind unerlässlich?
-
•
Was sind in solch einer Situation Alarmzeichen?
Stellenwert in der Grundversorgung
Eine akute Makrohämaturie oder eine meist inzidentell diagnostizierte Mikrohämaturie kann Zeichen einer akuten Erkrankung oder Erstsymptom einer chronischen Glomerulopathie sein. Das nephritische Syndrom im Kindesalter ist selten, insbesondere die akute postinfektiöse Glomerulonephritis ist in den Industrienationen seltener geworden. Die Herausforderung besteht in der Einschätzung des akuten Krankheitsbilds hinsichtlich erforderlicher Diagnostik- und Therapiemaßnahmen.
Definition
Eine einheitliche Definition für dasUrinHämaturie nephritische Syndrom existiert nicht: Neben der Volhard-Trias mit glomerulärer HämaturieHämaturie, arterieller Hypertonie und Ödemen können auch eine (kleine) Proteinurie, Zylindrurie, Oligurie und Einschränkung der GFR bis hin zum akuten Nierenversagen vorliegen.
Das nephritische Syndrom ist ein klinisch definierter Symptomkomplex (Abb. 6.80 ). Die zugrunde liegende Glomerulopathie kann nur durch eine Histologie bestimmt werden.
Abb. 6.80.

Nephritisches Syndrom
[P296]
Vorsicht.
Bei ausgeprägter Makrohämaturie wird die Proteinurie im Labor falsch hoch gemessen.
Klinisches Erscheinungsbild
-
•
Während die Makrohämaturie akut wahrgenommen wird, wird die Mikrohämaturie meist zufällig, z. B. im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen, detektiert (Kap. 6.18.1).
-
•
Kinder mit einer akuten Glomerulonephritis sind meist blass und müde, bisweilen besteht Übelkeit. Ödeme sind Zeichen einer signifikanten Proteinurie.
-
•
Nicht selten tritt das nephritische Syndrom als Erstsymptom im Rahmen von Systemerkrankungen auf, sodass gezielt nach anderen Symptomen der Systemerkrankung geschaut werden muss.
-
•
Ein blasses, apathisches Kind ca. 5–10 Tage nach Diarrhöbeginn sollte an ein hämolytisch-urämisches Syndrom (HUS) denken lassen, insbesondere wenn es dem Kind nach deutlicher Rekonvaleszenz wieder schlechter geht.
Diagnosen und Differenzialdiagnosen
Die Hämaturie als führendes Symptom des nephritischen Syndroms wird primär mittels Urinteststreifen detektiert und in der Mikroskopie durch den Nachweis von Akanthozyten als glomeruläre Hämaturie bestätigt (Kap. 6.18.1).
Alarmsymptome bei Hämaturie sind:
-
•
Proteinurie
-
•
Arterielle Hypertonie (Cave: altersabhängige Perzentilen)
-
•
Eingeschränkte glomeruläre Filtration
-
–Bei einem akuten nephritischen Syndrom muss eine Kontrolle auf Alarmzeichen täglich erfolgen
-
–Kontakt mit Kindernephrologe
-
–Bei rasch progredienten Verläufen: stationäre Aufnahme und ggf. Nierenbiopsie
-
–
Bei Hämaturie plus Alarmsymptome ist eine weiterführende Diagnostik zur Klärung der Entität erforderlich.
Labor
Blutdruckmessung, Urinmikroskopie (Akanthozyten? Erythrozytenzylinder?), Blutentnahme (BB, CRP, Elektrolyte, Retentionsparameter, Eiweiß, Albumin, C3, C4, ANA, anti-ds-DNA-AK, pANCA, cANCA, IgA, IgG, LDH, ASL, Anti-DNAseB, Antihyaluronidase), 24-Stunden-Sammelurin (GFR? Proteinurie?)
Vorangegangene oder gleichzeitig bestehende Infektionen helfen bei der ätiologischen Zuordnung. Typischerweise tritt die Post-Streptokokken-Glomerulonephritis mit einer Latenz von 2–4 Wochen zum Infekt auf, während die IgA-Nephritis häufig parallel zu einem Infekt der Luftwege verläuft.
-
•
Ein positiver ASL-Titer beweist keine Post-Streptokokken-Glomerulonephritis → typisch ist ein hoher Titer von Anti-DNAse B und ASL (sowie Antihyaluronidase).
-
•
Streptococcus pyogenes ist nur ein prominenter Auslöser einer postinfektiösen Glomerulonephritis → jedweder Keim kann eine postinfektiöse Glomerulonephritis auslösen.
-
•
Eine postinfektiöse Glomerulonephritis kann auch auftreten, wenn der initiale Infekt antibakteriell therapiert wurde.
Beratung und Behandlung
-
•
Bei isolierter Mikrohämaturie ohne Alarmsymptome und negativer Familienanamnese ist abwartende Haltung indiziert.
-
•
Bei Hämaturie mit Alarmsymptomen ist eine Kontaktaufnahme mit einem kindernephrologischen Kollegen zu empfehlen.
-
•
Eine stationäre Aufnahme ist bei unkontrollierbarer arterieller Hypertonie oder zur diagnostischen Nierenbiopsie indiziert.
-
•
Nephroprotektives, antiproteinurisches und antihypertensives Basismedikament ist bei der Hämaturie mit Alarmsymptomen ein ACE-Hemmer (oder Angiotensin-Rezeptorblocker).
Fallbeispiel.
Auflösung
Die Anamnese ergibt, dass Nele vor 2–3 Wochen starke Halsschmerzen hatte. Im Blut ist Komplement C3 erniedrigt, das Kreatinin ist mit 0,68 mg/dl hochnormal, ASL, Anti-DNAse B und Antihyaluronidase sind deutlich erhöht. Im Urin zeigt sich eine große Proteinurie von 4,6 g Eiweiß/g Kreatinin mit dem Hinweis des Labors versehen, dass es sich um eine ausgeprägte Makrohämaturie handelt. Der Blutdruck ist mit 130/80 mmHg erhöht. Auf die Therapie mit Cefpodoxim und ACE-Hemmer bessert sich der Urinbefund innerhalb von sieben Tagen. Es traten nie Ödeme auf. Die Laborwerte Komplement C3 und Kreatinin normalisierten. Die arterielle Hypertonie erfordert noch eine Therapie für sechs Monate mit ACE-Hemmer. Nach zwölf Monaten besteht nur noch eine Mikrohämaturie, noch 24 Monaten eine restitutio ad integrum.
Literatur
- Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie e. V . 6. Aufl. 2013. DGPI Handbuch. [Google Scholar]
- Weber L.T., Benz M.R. Klinikleitfaden Pädiatrie. 9. Aufl. Elsevier; München: 2014. Nieren und ableitende Harnwege. [Google Scholar]
6.19. Vergrößerte Lymphknoten
Fallbeispiel.
Der zwölfjährige Krischan wird von seiner besorgten Mutter mit intermittierendem Fieber, Appetitlosigkeit und Abgeschlagenheit (bestehend seit zwei Wochen) in die Praxis gebracht. Die in der Praxis gemessene Temperatur beträgt 38,2 °C. Zudem fallen zervikal beidseitig ca. 1–2 cm große, weiche Lymphknoten sowie gerötete, leicht vergrößerte Tonsillen auf. Auf Nachfragen gibt der Junge an, Schmerzen beim Schlucken zu haben.
Fragen zum Fallbeispiel
-
•
Woran sind alterstypische LymphknotenschwellungenLymphknotenschwellung zu erkennen?
-
•
Woran ist eine Abszedierung zu erkennen?
-
•
Was sind wichtige Differenzialdiagnosen der Lymphknotenschwellung im Kindesalter?
-
•
Welche Red Flags müssen erkannt werden – wann besteht Malignomverdacht?
6.19.1. Stellenwert in der Grundversorgung
Tastbare Lymphknoten sind mit einer Häufigkeit von 44 % bei Kindern < 5 Jahren ein alltäglicher Befund in der Kinderarztpraxis. Meist treten Lymphknotenschwellungen bei Kindern im Kieferwinkel, am Hals und inguinal auf. Diese sind vor allem durch eine erste Exposition gegenüber bislang unbekannten Erregern bedingt und somit Ausdruck vom Aufbau des immunologischen Gedächtnisses.
6.19.2. Definition
Bei alterstypischen Lymphknotenschwellungen (sog. zervikale Polymikroadenie) handelt es sich immer um eine gutartige Vergrößerung regionaler Lymphknoten < 1 cm (im Kieferwinkel < 1,5–2 cm) beim Klein- oder Schulkind, die weich und verschieblich sind. Schmerzen oder eine Entzündungsreaktion sind untypisch. Es gibt klassische Lokalisationen, z. B. submandibulär, zervikal oder inguinal. Typisch ist eine Vergrößerung während und eine Rückbildung nach einem Infekt.
Als Lymphadenitis Lymphadenitis oder auch reaktive Lymphknotenschwellung wird die Lymphknotenschwellung bei akuten Infektionen, z. B. durch β-hämolysierende Gruppe A-Streptokokken (GAS) oder durch das Epstein-Barr-Virus (EBV), bezeichnet. Bei einseitigem zervikalem Befund sollte an eine atypische Mykobakteriose gedacht werden! Bei atypischen Lokalisationen oder sehr derbem Tastbefund muss eine onkologische Diagnostik (siehe unten) erfolgen.
Rasche Größenzunahme, Fieber, Rötung, starker Druckschmerz und fluktuierender Tastbefund lassen an eine abszedierende Lymphadenitis denken. Für die Indikationsstellung zur chirurgischen Sanierung ist eine Bildgebung mithilfe von Ultraschall wegweisend.
6.19.3. Klinisches Erscheinungsbild
Die Diagnose basiert auf der Anamnese, einer evtl. sichtbaren lokalen Schwellung (Abb. 6.81 ), dem Tastbefund, dem Laborbefund und dem Ultraschallbefund (ggf. Gefäßdarstellung mit dem Doppler).
Abb. 6.81.

Vergrößerte Halslymphknoten bei akuter T-Zellleukämie (T-ALL); Prof. Dr. Uta Behrends (Kinderklinik München Schwabing, Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin
[T888]
Fieber, erhöhte Entzündungszeichen und Druckschmerz sind Hinweise auf eine infektiös bedingte Lymphadenitis.
Eine besondere Bedeutung im Kontext von Lymphknotenschwellungen hat das onkogene Epstein-Barr-Virus (EBV) Epstein-Barr-Virus (EBV) . Es kann mit ausgeprägter Immundysregulation, z. B. ausgeprägte Lymphknotenschwellung, Milzriss, Dyspnoe aufgrund von Tonsillenhypertrophie, Immunzytopenien oder Hämophagozytischer Lymphohistiozytose (HLH), einhergehen und ist mit ca. ⅓ aller Hodgkin Lymphome im Kindesalter assoziiert. Zu den typischen Symptomen bei frischer EBV-Infektion (Pfeiffersches Drüsenfieber, syn. EBV-assoziierte Infektiöse Mononukleose) zählen neben der Lymphknotenschwellung vor allem Tonsillopharyngitis, Fieber, Abgeschlagenheit und Splenomegalie.
Warnzeichen für das schwere Krankheitsbild der Hämophagozytischen Lymphohistiozytose (HLH): Fieber, Zytopenie, Hyperferritinämie, Hypertriglyceridmämie, Hypofibrinogenämie und/oder Organomegalie.
Atypische Mykobakteriosen (Erreger: MOTT = Mycobacteria other than tuberculosis bzw. NTM = Nicht-tuberkulöse Mykobakteriose) zeigen sich meist als einseitige Lymphadenitis colli bei Kleinkindern. Sie liefern in der Regel ein wegweisendes Ultraschallbild. Die Erreger können nur im betroffenen Gewebe eindeutig identifiziert werden. Der Tuberkulin-Hauttest (THT) kann bei atypischen Mykobakteriosen schwach positiv sein. Die NTM bleibt häufig eine Verdachtsdiagnose und kann ggf. durch Kultur, DNA-Nachweis und Gramfärbung der Erreger sowie typische granulomatöse Histologie bewiesen werden.
Heutzutage wird wegen der Fistelneigung nach inkompletter chirurgischer Entfernung einerseits und der Toxizität der Mehrfach-Antibiose andererseits bei klassischem Ultraschallbild ein eher abwartendes Prozedere empfohlen. Allerdings müssen die Eltern über die spontane Fistelneigung und einen in der Regel langwierigen Verlauf aufgeklärt werden. Eine chirurgische Intervention sollte nur ganz früh bei guter Operabilität im Gesunden oder bei massivem Progress zur Klärung der Antibiotikaresistenz erfolgen. In Anbetracht der Zunahme von Mitbürgern mit Migrationshintergrund muss differenzialdiagnostisch an eine kutane Tuberkulose gedacht werden.
Bei vereinzelter Schwellung am lateralen oder medialen Hals kann eine laterale oder mediane Halszyste durch Ultraschalluntersuchung abgeklärt und ggf. operativ entfernt werden.
Häufig ist im Kindesalter ein gastrointestinaler Infekt mit einer mesenterialen Lymphadenitis Lymphadenitismesenteriale assoziiert. Diese kann sehr schmerzhaft sein und stellt eine wichtige Differenzialdiagnose der Appendizitis dar. Im Ultraschall des Abdomens sind diese beiden Differenzialdiagnosen in der Regel gut voneinander abgrenzbar. Nach Ausschluss der Appendizitis ist eine Behandlung mit Scopolamin (Buscopan®) und/oder Metamizol gerechtfertigt. Die Liste der infektiösen (z. B. Yersinien) und entzündlichen Differenzialdiagnosen ist lang und sollte bei unklarem Befund in Zusammenarbeit mit einem Kindergastroenterologen abgearbeitet werden.
Lymphomverdacht
Differenzialdiagnostisch muss an ein LymphomLymphom gedacht werden bei
-
•
progredientem Wachstum, zusätzlichen
-
•
Allgemeinsymptomen (sogenannte B-Symptomatik):
-
–Unerklärtes Fieber > 38 °C
-
–Massiver Nachtschweiß
-
–Unerklärter Gewichtsverlust von mehr als 10 % des Körpergewichts in den vergangenen sechs Monaten
-
–
-
•
und wenig verschieblichem, derbem Tastbefund.
Die rasch wachsenden Non-Hodgkin-Lymphome (NHL) sowie maligne Lymphknotenschwellungen bei anderen rasch proliferativen Malignomen des Kindesalters (z. B. akute lymphatische Leukämie [ALL], Rhabdomyosarkom [RMS], Neuroblastom [NB]) zeigen sich im Ultraschallbild meist als rundliche, homogene Struktur. Bei NHL und ALL sind sie evtl. mit laborchemischen Zellzerfallsparametern (erhöhte LDH und Harnsäure) assoziiert, beim Neuroblastom eventuell mit erhöhten Werten für Ferritin und Neuronen-spezifischer Enolase (NSE) im Serum sowie Katecholaminen im Urin verknüpft.
Dagegen sind Hodgkin-Lymphome (HL) bei uncharakteristischem Ultraschallbild und eventuell undulierender Größenentwicklung anfangs oft schwer von rein entzündlichen Lymphadenitiden abzugrenzen. Bei HL kann neben der B-Symptomatik eine Eosinophilie wegweisend sein. EBV-assoziierte Lymphknotenschwellungen gehen oft mit einer deutlich erhöhten LDH einher, lassen sich aber in der Regel durch Nachweis der klassischen Pfeifferzellen im mikroskopischen Blutbild und durch erhöhte Transaminasen von den Lymphomen abgrenzen. Der serologische Nachweis einer frischen EBV-Infektion oder eine positive EBV-PCR schließen ein Lymphom nicht aus.
Neben Malignom, Infektionen und parainfektiösen Erkrankungen (z. B. Kawasaki-Syndrom) zählen auch verschiedene Autoimmunerkrankungen (z. B. systemischer Lupus erythematodes [SLE]), autoinflammatorische Syndrome (z. B. einige periodische Fiebersyndrome), einige Speicherkrankheiten (z. B. Mukopolysaccharidose) und verschiedene primäre Immundefekte (PID) zu den Differenzialdiagnosen von Lymphknotenerkrankungen.
6.19.4. Diagnosen und Differenzialdiagnosen
Basisdiagnostik
-
•
Anamnese: Infekt? Impfung? Progredienz? Begleitsymptomatik?
-
•
Klinische Untersuchung: Lokalisation? Verschieblichkeit? Konsistenz? Schmerzhaftigkeit? Überwärmung? Verfärbung?
Stufendiagnostik
Bei auffälliger Basisdiagnostik und nicht alterstypischer LymphknotenschwellungLymphknotenschwellungStufendiagnostik (Kap. 6.19.2 Definition) beginnt folgende Stufendiagnostik.
1. Labor
-
•
Großes Blutbild mit Differenzialblutbild und eventuell mikroskopischer Beurteilung (eine mikroskopische Beurteilung ist immer erforderlich, wenn im maschinellen Blutbild atypische Lymphozyten oder Blasten bzw. nichteinzuordnende Zellen [NEZ] angezeigt werden)
-
•
Bei Blasten/NEZ und/oder Zytopenie Vorstellung in kinderonkologischem Zentrum oder Schwerpunktpraxis
-
•
Entzündungswerte (CRP, BSG, Ferritin)
-
•
Lactatdehydrogenase (LDH), Lebertransaminasen, Harnsäure erhöht
-
•
Bei Anhalt für Zellzerfall umgehend Vorstellung in kinderonkologischem Zentrum oder Schwerpunktpraxis und ggf. erweiterte Abklärung u. a. durch Knochenmarksuntersuchung
-
•
Serologie evtl. bei wegweisenden klinischen Zusatzbefunden (V. a. EBV, Zytomegalievirus [CMV], Röteln, Humanes Immundefizienzvirus [HIV: Lymphadenopathie oft nur am Hals!], Hepatitis, Toxoplasmen, Borellien, Bartonellen, Yersinien etc.)
2. Ultraschall des Lymphknotens (Größe, Form, Struktur, ggf. Durchblutung).
Bei anamnestisch und klinisch fehlenden Warnzeichen für ein Malignom oder eine andere rasch behandlungsbedürftige Grunderkrankung Kontrolle nach spätestens 2 (bis 4) Wochen, ggf. antibiotische Therapie.
Bei Persistenz > 2–4 Wochen → Erweiterte Diagnostik in der Praxis.
1. Labor:
-
•
Erneutes mikroskopisches Blutbild (siehe oben)
-
•
Immunscreening:
-
–Immunglobuline (IgG, IgA, IgM) → Immundefekt?
-
–IgE → Allergie?
-
–
-
•
ANA, ANCA, RF, antiDS-DNA AK → Autoimmunerkrankung?
-
•
Infektscreening: v. a. EBV-IgG, EBV-IgM, EBNA-IgG, eventuell Parvovirus B19-IgG/IgM, CMV-IgG/IgM, HIV1/2 → infektiöse Genese?
-
•
TB-Test (IGRA, THT)
Merke.
Die Unterscheidung zwischen akuter EBV-Infektion und EBNA-negativer Reaktivierung kann schwierig sein und in Einzelfällen eine Rücksprache mit einem in der EBV-Serologie erfahrenen Labor erfordern.
2. Bildgebung: Ultraschall von Lymphknoten, Abdomen und Schilddrüse, Röntgen-Thorax, ggf. HNO-ärztliches Konsil.
3. Kontrolle nach spätestens weiteren 2 (bis 4) Wochen bei anamnestisch und klinisch fehlenden Warnzeichen für ein Malignom oder eine andere rasch behandlungsbedürftige Grunderkrankung, ggf. antibiotische Therapie.
Bei Persistenz ≥ 6 Wochen → Vorstellung an einem kinderonkologischen Zentrum (spätestens nach 6 Wochen: Lymphknotenentfernung in toto) mit spezialisierter Feindiagnostik, z. B.:
-
•
Mikrobiologie, Zytologie, Molekulargenetik, Zytogenetik, Immunphänotypisierung
-
•
spezielle Bildgebung
-
•
Tumormarker, erweiterte Autoimmundiagnostik und Immundefektabklärung
Differenzialdiagnostische Überlegungen
-
•
Infektionen
-
–Bakterien (z. B. Strepto- und Staphylokokken, Mykobakterien, Bartonellen, Borrelien, Spirochäten, Chlamydien)
-
–Parasiten (z. B. Toxoplasmose, Leishmaniose, Trypanosomen)
-
–Pilze (z. B. Histoplasmose)
-
–Viren (z. B. EBV, CMV, HIV, Parvovirus B 19, Masern, Mumps, Röteln, Varizella zoster)
-
–
-
•
Maligne Erkrankungen
-
–Leukämien
-
–Non-Hodgkin-Lymphom
-
–Hodgkin-Lymphom
-
–Neuroblastom
-
–Schilddrüsen- und Nasopharynxkarzinom, Rhabdomyosarkom, sonstige Metastasen
-
–
-
•
Immundysregulation
-
–Posttransplant lymphoproliferative diseases/PTLD
-
–Primäre Immundefekte
-
–Kawasaki-Syndrom
-
–Hämophagozytische Lymphohistiozytose
-
–Autoimmunerkrankungen (z. B. SLE)
-
–Sarkoidose
-
–Periodische Fiebersyndrome
-
–
-
•
Allergien, Atopie, Neurodermitis
-
•
Stoffwechselerkrankungen
-
–M. Gaucher
-
–M. Niemann-Pick
-
–M. Tangier
-
–
-
•
Medikamenteneinnahme
-
–Phenytoin
-
–Hydralazin
-
–Allopurinol
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–Procainamid
-
–
Aufgrund der Häufigkeit von Lymphknotenschwellungen erfolgt die differenzialdiagnostische Analyse in Zusammenschau der anamnestischen Daten, der klinischen Untersuchungsbefunde, der Bildgebung, Laborergebnisse sowie der Reaktion auf therapeutische Interventionen. Diese Vorgehensweise beinhaltet die Beantwortung einiger Kardinalfragen (Abb. 6.82 ).
Abb. 6.82.

Kardinalfragen (Algorithmus)
[P297, P315]
Differenzialdiagnostik von Lymphknotenschwellungen
Kardinalfragen zur Differenzialdiagnostik von LymphknotenschwellungDifferenzialdiagnostikLymphknotenschwellungen (Abb. 6.82).
In Tab. 6.39 sind die wichtigsten Befunde zur Abgrenzung Infektion vs. Malignom aufgeführt.
Tab. 6.39.
Infektion versus Malignom
| Infektion versus Malignom | |||
|---|---|---|---|
| Akute Infektion | Chronisch persistierende Lymphknotenschwellung | Malignom | |
| Tastbefund: Größe Konsistenz Verschieblichkeit |
> 1,5 cm (> 2 cm im Kieferwinkel) Weich Gut |
> 1,5 cm (> 2 cm im Kieferwinkel) Derb Schlecht |
> 2 cm (> 2,5 cm im Kieferwinkel) Derb Schlecht |
| Druckschmerz | Ja | Ja/Nein | Nein |
| Lokalisation | Alterstypisch (zervikal, inguinal) | Alterstypisch (zervikal, inguinal) | Atypisch (supraklavikulär und axillär) |
| Ultraschallbefund | Benigne, entzündlich mit Strukturerhalt | Benigne, entzündlich mit Strukturerhalt | Malignitätsverdacht, z. T. Strukturverlust |
| Sonstige differenzialdiagnostische Anhaltspunkte | |||
| LK-Verteilung | Oft beidseitig | Meist einseitig | Oft einseitig/generalisiert |
| Progredienz | Schnell | Langsam | Schnell: NHL Langsam: HL |
| Zusatzbefunde | |||
|
Rötung Überwärmung Fieber |
Ja Ja Ja |
Ja/Nein Nein Nein |
Nein Nein Ja/Nein |
Weitere klinische Anhaltspunkte:
| |||
Folgende Red Flags sollten einen Malignomverdacht wecken:
-
•
Verdächtige Lokalisation (z. B. supra-, infraklavikulär, axillär)
-
•
Auffälliger Tastbefund (> 2 cm, derb, schlecht verschieblich)
-
•
Progredienz
-
•
B-Symptomatik (Fieber, Nachtschweiß, Gewichtsverlust)
-
•
Auffälliger Ultraschallbefund (siehe unten)
-
•
Tumorverdächtige Laborwerte (Differenzialblutbild, LDH, Harnsäure, Tumormarker)
Vorsicht.
Bei allen schmerzlosen, derben Lymphknotenschwellungen an ein Malignom denken!
Ultraschallbefunde
Benigne Lymphknoten:
-
•
B-Bild: Ovale Form, mäßige inhomogene Echogenität, Struktur erhalten (echoarmer Randsaum, echoreiches Mark), Hilus als weißer Streifen erkennbar und somit dichter wirkend, L/S-Ratio (long to short axis ratio) ≥ 2 (Abb. 6.83 )
-
•
Doppler-Sonografie: Kleiner Gefäßbaum zieht vom Hilus ausgehend fächerförmig in die Peripherie (Abb. 6.85)
Abb. 6.83.

B-Bild: Benigner Lymphknoten, B-Bild, L/S-Ratio: 2,4
[T862]
Abb. 6.85.

Doppler: Benigner Lymphknoten
[T862]
Maligne Lymphknoten:
-
•
B-Bild: Rund/kugelig, echoarm, homogene Struktur ohne Differenzierung Hilus/Medulla; L/S-Ratio (long to short axis ratio) < 2 (Abb. 6.84 )
-
•
Doppler-Sonografie: Metastasen: Chaotisches Gefäßverteilungsmuster bei geringerer Gesamtperfusion. Lymphome: Hohe Perfusion mit sowohl peripherer als auch zentraler Vaskularisation (Abb. 6.86 )
Abb. 6.84.

B-Bild: Hodgkin-Lymphom, B-Bild, L/S-Ratio: 1,9
[T862]
Abb. 6.86.

Doppler: Hodgkin-Lymphom
[T862]
Vorsicht.
→ Rundlich, echoarm, homogen, keine Differenzierung Hilus/Medulla: Malignomverdächtig!
-
•
Vor allem das B-Bild trägt zur Differenzierung benigner vs. maligner Lymphknoten bei
-
•
Bei der Differenzierung EBV-Lymphknoten vs. maligner Lymphknoten: schwer abgrenzbar, da EBV-Lymphknoten keinen dichten Hilus zeigen sowie zystenartig anmutende Ansammlungen von Lymphfollikeln aufweisen können.
6.19.5. Beratung und Behandlung
-
•
Altersentsprechend physiologische Lymphknotenschwellungen erfordern keine Behandlung.
-
•
Bei klinisch relevanten A-Streptokokkeninfektionen (McIsaac-Score ≥ 3, Tab. 6.22) sollte eine Behandlung mit Penicillin für sieben bis zehn Tage, bei persistierender Lymphadenitis kann eine probatorische Behandlung mit Amoxicillin/Clavulansäure (nach Ausschluss einer EBV-Infektion) für fünf bis sieben Tage erfolgen.
-
•
Bei atypischen Mykobakteriosen genügt oft eine rein chirurgische Versorgung.
-
•
Die onkologische Behandlung von Malignomen (im Kindesalter in nahezu der Hälfte der Fälle Leukämien und Lymphome, selten Neuroblastom und andere solide Tumoren) erfolgt im Kindes- und Jugendalter nach standardisierten Protokollen der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (z. B. AIEOP) an ausgewiesenen pädiatrisch-onkologischen Zentren.
Fallbeispiel.
Auflösung
Die bilateral am Hals lokalisierten Lymphknoten erfüllen nicht die Kriterien einer physiologischen Lymphknotenschwellung (Begleitsymptomatik) und lassen per se zunächst keine eindeutige Ursachenklärung zu. Bei der körperlichen Untersuchung fallen neben o. g. Lymphknotenschwellungen weitere Lymphknotenschwellungen inguinal sowie eine Splenomegalie auf. Das Blutbild ergibt eine Leukozytose mit 26.000/µl bei regelrechten Hämoglobin- und Thrombozytenwerten. Im Differenzialblutbild erweisen sich 60 % der Leukozyten als Lymphozyten mit einigen atypischen Lymphozyten. Im anschließenden Blutausstrich zeigen sich sogenannte Pfeifferzellen (charakteristische atypische Lymphozyten). LDH (400 U/l) und die Transaminasen sind erhöht, die Harnsäure ist normwertig. Daraus ergibt sich der dringende Verdacht auf eine frische EBV-Infektion. Die daraufhin eingeleitete Serologie (EBV-IgG positiv, EBV-IgM positiv, EBNA-Ak negativ) beweist bei passendem klinischen Bild eine EBV-Infektion. Unverzüglich wird eine supportive Therapie (körperliche Schonung, ausreichende Trinkmenge sowie Ausschluss einer assoziierten bakteriellen Infektion) eingeleitet, und Krischan ist innerhalb von drei Wochen wieder fit.
Literatur und Internet
- Chiappini E., Camaioni A., Benazzo M., Biondi A. Development of an algorithm for the management of zervikal lymphadenopathy in children: consensus of the Italian Society of Preventive and Social Pediatrics, jointly with the Italian Society of Pediatric Infectious Diseases and the Italian Society of Pediatric Otorhinolaryngology. Expert Rev Anti Infect Ther. 12/2015;13(12):1557–1567. doi: 10.1586/14787210.2015.1096777. [DOI] [PubMed] [Google Scholar]
- Jäckel M.C., Witt O., Eber S.W., Eiffert H., Laskawi R. Die postoperative antibiotische Therapie von zervikalen Lymphadenitiden durch nichttuberkulöse, atypische Mykobakterien. Laryngo-Rhino-Otol. 1999;78:450–454. doi: 10.1055/s-2007-996907. [DOI] [PubMed] [Google Scholar]
- RC1 Lamb, Dawn G. Cutaneous non-tuberculous mycobacterial infections. Int J Dermatol. 10/2014;53(10):1197–1204. doi: 10.1111/ijd.12528. [DOI] [PubMed] [Google Scholar]
- Ritz N. Therapie der NTM Lymphadenitis: gut, schlecht oder hässlich? http://dgpi.de/go/wp-content/uploads/2014/09/NTM_Therapie_Ritz_DGPI-Workshop_Sep2014.pdf (letzter Zugriff: 19.1.2017)
Leitlinien:
Danksagung: Wir danken Frau Prof. Uta Behrends und Prof. Thomas Scholbach für die kritische Durchsicht des Manuskripts sowie Prof. Dr. Steinborn (Universitätskinderklinik München Schwabing) für die sonografischen Abbildungen.
6.20. Leistungsknick, Müdigkeit und Blässe – kardiologische Sicht
Fallbeispiel.
Kerim, 13 JahreLeistungsknick Müdigkeit Kinderkardiologie wird vorgestellt, weil er seit einigen Monaten immer müde ist und sich dieser Zustand in der letzten Woche verschlimmert hat. Der Junge kommt morgens schwer aus dem Bett und frühstückt nicht. Nach der Schule hat er manchmal Kopfschmerzen, gelegentlich ist ihm schwindelig. Abends schläft er schlecht ein. Das Fußballtraining hat er beendet, sein Medienkonsum beträgt 2–3 Stunden täglich.
Bei der körperlichen Untersuchung ist der schlanke Junge normal groß und normal entwickelt. An pathologischen Befunden findet man eine leichte seröse Konjunktivitis und eine diskrete Vergrößerung der Kieferwinkellymphknoten. Der Blutdruck beträgt 105/60 mmHg.
Fragen zum Fallbeispiel
-
•
Handelt es sich überhaupt um Beschwerden mit Krankheitswert?
-
•
Welche anamnestischen Hinweise machen weitere Untersuchungen nötig?
-
•
Sollen Medikamente gegeben werden oder nicht?
6.20.1. Stellenwert in der Grundversorgung
In der Allgemeinmedizin ist Müdigkeit primärer und altersunabhängiger Vorstellungsgrund bei etwa 10 % der Patienten und bei weiteren 10 % ein sekundärer. Ältere Kinder und Jugendliche werden häufig wegen Müdigkeit, Schwindel und Kopfschmerzen vorgestellt. In einer Befragung klagten 72 % von Schülerinnen und Schülern im 8.–10. Schuljahr über mindestens eine Episode mit Schwindel in den letzten drei Monaten.
Statistisch gesehen ist Müdigkeit bei Kindern und Jugendlichen normal. Was sie für die 90 % organisch gesunden zu einer Krankheit werden lässt, ist die Einschränkung der Lebensqualität und das immanente Risiko für das spätere Leben durch schlechte Schulnoten und soziale Beeinträchtigung.
6.20.2. Definition
Die physiologischen und psychologischen Mechanismen, die zum subjektiven Gefühl von Müdigkeit und Abgeschlagenheit führen, sind unbekannt. Müdigkeit kann man als das gemeinsame Ende einer Reihe von Faktoren betrachten.
-
•
Prädisponierend sind das weibliche Geschlecht, eine positive Familienanamnese und Depressionen
-
•
Auslösende Faktoren sind Erkrankungen (z. B. Ebstein-Barr-Virus), Mangelzustände, Medikamente, Drogen, psychische, psychosoziale und soziale Belastungen
-
•
Perpetuierende Faktoren sind Bewegungsmangel, anhaltende psychische oder emotionale Störungen
Organische Ursachen findet man bei weniger als 10 % der Patienten.
Merke.
Je stärker die Müdigkeit ausgeprägt ist und je größer die Zahl der assoziierten somatischen Beschwerden, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Patient an einer Depression leidet.
6.20.3. Diagnosen und Differenzialdiagnosen
Folgende Erkrankungen müssen differenzialdiagnostisch erwogen werden:
-
•
Infektionskrankheiten (Mononukleose)
-
•
Kardiomyopathien und Herzrhythmusstörungen
-
•
Anämien und Eisenmangel
-
•
Medikamenten- und Substanzmissbrauch (Kap. 9.3)
-
•
Vitamin-D-Mangel
-
•
Stoffwechselkrankheiten (Diabetes, Hypothyreose)
-
•
Nierenerkrankungen
-
•
Psychische und somatoforme Störungen, Schlafstörungen (Kap. 8.3)
-
•
Maligne und autoimmune Systemerkrankungen
-
•
Chronisches Müdigkeitssyndrom/myalgische Enzephalitis
-
•
Neurologische und neuromuskuläre Erkrankungen
Neben der Anamnese und dem körperlichen Befund müssen gezielt entsprechende Laborparameter bestimmt werden. Ein Ruhe-EKG ist immer sinnvoll, ggf. auch Belastungs-EKG, Echokardiografie, EEG und bildgebende Verfahren.
Gestörte autonome Regulation
35–40 % der Schülerinnen und Schüler haben Probleme mit der orthostatischen Regulation.
Von diesen haben etwa 20 % erhebliche Schwierigkeiten mit dem Aufstehen, machen 18,5 % keinen Freizeitsport und gehen 10 % wegen ihrer Beschwerden nicht mehr zur Schule. Autonome Dysregulation ist die häufigste Diagnose bei Kindern und Jugendlichen, die wegen Müdigkeit und Schwindel vorgestellt werden.
Ihre Pathophysiologie ist nicht aufgeklärt. Vermutlich ist sie nicht alleine Folge des Wachstums, sondern eine oft familiäre Besonderheit. Symptome sind Bewusstseinsstörungen bis zur Bewusstlosigkeit, Benommenheit, Schwindel, Blässe, Sehstörungen, Müdigkeit, Kopf- und Bauchschmerzen, Erbrechen, Schweißausbrüche, Herzklopfen und Angstzustände. Viele dieser Symptome können als Folge der sympathischen Gegenregulation verstanden werden. Häufig treten Probleme nach starker körperlicher Belastung auf, z. B. im Sportunterricht oder beim Training. Äußere Faktoren wie Hitze, Flüssigkeitsmangel und auch Infektionskrankheiten beeinträchtigen die Autoregulation.
Typischerweise sind die Betroffenen „Morgenmuffel“, oft essen und trinken sie am Morgen nichts. Nach der Schule treten Schwindel und Kopfschmerzen auf und am Abend können sie nicht einschlafen. Sie kollabieren morgens im Bad unter der warmen Dusche oder auch nach körperlicher Belastung (Entspannungsblutdruck). Sportlerinnen und Sportler sind in gleichem Maße betroffen wie medienaffine und sportvermeidende Jugendliche. Leider führen die Beschwerden häufig dazu, dass der Mannschaftssport beendet wird, oder sie treten nach Beendigung sportlicher Aktivitäten auf.
Die Wahrscheinlichkeit, wenigstens einmal im Leben einen Kollaps mit Bewusstseinsverlust zu erleiden, beträgt 40 %.
Üblicherweise werden ein Abfall des systolischen Blutdrucks über 20 mmHg oder des diastolischen über 10 mmHg nach drei Minuten beim Schellong-Test oder besser am Kipptisch als diagnostische Grenzen festgelegt. Die Werte des Ruheblutdrucks liegen in der Regel im unteren Bereich des normalen.
Vorsicht.
Alarmsignale:
-
•
Synkope während schwerer körperlicher Belastung
-
•
Synkope im Liegen
-
•
Synkope bei Schreck, Kälte, psychischem Stress
-
•
Plötzlicher Herztod bei Familienmitglied unter 30 Jahren
-
•
Bewusstlosigkeit länger als fünf Minuten
EBV-Infektionen
Etwa EBV-Infektionendrei von vier Jugendlichen mit chronischer Müdigkeit berichten über vorangegangene Infektionskrankheiten, meist mit Symptomen einer Mononukleose. Bis zu 13 % erfüllen sechs Monate nach einer EBV-Virus Infektion die Kriterien eines chronischen Müdigkeits-Syndroms, nach einem Jahr noch 7 % und nach zwei Jahren 4 %. Mädchen sind viel häufiger betroffen als Jungen, andere Risikofaktoren wurden bislang nicht zweifelsfrei identifiziert. Die autonome Kreislaufregulation ist fast immer beeinträchtigt. Eine wirksame medikamentöse Therapie ist nicht bekannt. Die IgM-Antikörper gegen das Viruskapsid (Anti-VCA) verschwinden nach einem Monat und die frühen IgG-Antikörper (Anti-EA) nach etwa sechs Monaten. Diese Marker können bei der Diagnostik der Müdigkeit bereits verschwunden sein. Das EBV-Virus-Kernantigen (Anti-EBNA) wird andererseits 2–4 Monate nach Erkrankungsbeginn positiv und bleibt dies lebenslänglich. Eine Aussage über den Zeitpunkt der Erkrankung ist daraus nicht möglich. Daher kann der Zusammenhang der Müdigkeit mit einer EBV-Erkrankung oft nur anamnestisch vermutet werden.
Müdigkeit nach MononukleoseMononukleose ist der häufigste Grund für eine längere krankheitsbedingte Schulabstinenz von Jugendlichen in den USA. Ausbildung, Beruf und die sozialen Beziehungen der Betroffenen leiden.
Anämien und Eisenmangel
Dass ein EisenmangelHb-Wert unterhalb der Altersnorm aus jeglicher Ursache die körperliche Leistungsfähigkeit beeinträchtigen kann, ist einleuchtend. Eisenmangel gilt als häufigste Ursache für eine AnämieAnämie. Bei Serum-Ferritin-Werten unter 12–15 µg/l gehen wir davon aus, dass die Eisenspeicher leer sind. Besonders betroffen sind Mädchen zwischen zwölf und 15 Jahren. Hoher Bedarf, alimentärer Mangel und der Blutverlust bei den Menstruationen sind die Stellgrößen. Differenzialdiagnostisch ist an Eisenresorptionsstörungen, z. B. bei Zöliakie, und an den schleichenden Blutverlust bei chronisch entzündlichen Darm- und Nierenkrankheiten zu denken.
Über die Hälfte der jungen Patienten mit Anämie hat jedoch keinen Eisenmangel. Die Differenzialdiagnosen der zugrunde liegenden Störungen sind vielfältig und sollten zusammen mit den entsprechenden Subspezialisten bearbeitet werden. Thalassämien und Hämoglobinopathien werden durch die Migration von Menschen aus Ländern mit einer hohen Prävalenz dieser Erkrankungen zunehmen. Im Verdachtsfalle ist die Hb-Elektrophorese ein wichtiges diagnostisches Instrument (Kap. 6.21).
Ein isolierter Eisenmangel kann bereits ohne manifeste Anämie müde und abgeschlagen machen. In Dänemark hatten 3,5 % der Jungen und 12,5 % der Mädchen im Alter von 16–17 Jahren leere Eisenspeicher (Serum-Ferritin < 13 µg/l), jedoch noch normale Hämoglobinwerte. Jugendliche Mädchen mit Ferritin-Mangel hatten eine bessere Merkfähigkeit und bessere Schulleistungen, nachdem Eisen supplementiert wurde. Die Therapie des alimentären Eisenmangels mit und ohne Anämie muss über mindestens drei Monate erfolgen. 2–5 mg/kg Fe2+ werden in 2–3 Einzeldosen täglich und am besten nicht zu den Mahlzeiten verordnet. Bei Resorptionsstörungen oder starken Nebenwirkungen der oralen Therapie wird parenteral substituiert.
Vitamin-D-Mangel
Niedrige Vitamin-D-Mangel25-OH-Vitamin-D-Serumspiegel (25OHD-Spiegel) finden in den letzten Jahren als Ursache gesundheitlicher Probleme immer mehr Beachtung, auch bei älteren Kindern und Jugendlichen. Als Grenze gilt in vielen Empfehlungen ein Wert kleiner 50 nMol/l. Durch ein verändertes Freizeitverhalten und das steigende Bewusstsein für die Notwendigkeit eines guten Sonnenschutzes ist die wesentliche intrinsische Vitamin-D-Produktion oft ungenügend. Dunkel pigmentierte Menschen sind im Nachteil und bei adipösen erfordert das große Verteilungsvolumen des fettlöslichen Vitamins höhere Mengen. Insbesondere Muskelschwäche und Schmerzen korrelieren mit einem niedrigen 25OHD-Spiegel, vielfach aber auch Müdigkeit und weitere vegetative Symptome.
Myokarditis
Insbesondere bei älteren Kindern und Jugendlichen stehen ein Leistungsknick und allgemeine Abgeschlagenheit als Symptome einer entzündlichen Herzmuskelerkrankung im Vordergrund. Zeichen der Herzinsuffizienz, Herzrhythmusstörungen und thorakale Schmerzen sind weitere Hinweise auf eine MyokarditisMyokarditis, die infektiös (meist viral), toxisch-medikamentös oder autoimmun bedingt sein kann. Bei neu aufgetretenen Herzrhythmusstörungen muss man an eine Myokarditis denken. Der Anstieg von Troponin T oder I gibt wichtige Hinweise.
Ein Troponin-T-Wert über 0,052 ng/ml hat nach der Literatur eine Sensitivität von 71 % und eine Spezifität von 86 %, Werte unter 0,01 ng/ml schließen eine Myokarditis praktisch aus.
Andere Enzyme wie CK-MB sind weniger sensitiv. Im EKG sieht man ggf. Veränderungen der ST-T-Abschnitte. Im Echokardiogramm fallen die Erweiterung der Ventrikel und ihre gestörte Funktion, gelegentlich auch ein Perikarderguss auf. Man muss jedoch davon ausgehen, dass bei einem bedeutenden Teil der Patienten mit Myokarditis das Echokardiogramm normal ist. Die Häufigkeit einer Myokarditis bei Kindern und Jugendlichen ist nicht bekannt, vermutlich werden viele nicht diagnostiziert.
Bei Autopsien plötzlich verstorbener Kinder wurden Myokarditiden in 15–40 % gefunden.
6.20.4. Beratung und Behandlung
Nach dem Ausschluss ernsthafter Erkrankungen (siehe Differenzialdiagnosen) sollen die Patienten und ihre Eltern darüber aufgeklärt werden, dass Müdigkeit, Blässe und Leistungsknick bei Jugendlichen so häufig sind, dass sie als normal bezeichnet werden können. Die Zuversicht auf Besserung und Selbstwirksamkeit ist ein wichtiger salutogenetischer Faktor für Jugendliche. Ebenso die Erkenntnis, dass die Eltern als Jugendliche dieselben Probleme hatten und sie überwunden haben.
Die Betroffenen einer autonomen Regulationsstörung sollen lernen, Frühsymptome der neurologischen Störungen wahrzunehmen und Strategien dagegen zu entwickeln. Sie können den peripheren Widerstand durch isometrische Anspannung erhöhen oder den Rückfluss durch Bewegung der Beine steigern. Bei Prodromalzeichen können sie sich setzen, hinlegen oder „lümmeln“. Ein Mittagsschlaf ist keine Schande für einen jugendlichen Menschen. Die Erfahrung, dass es ihm während Bewegung und Sport gut geht, ist in vieler Hinsicht wertvoll.
Die Steigerung der täglichen Trinkmenge um etwa einen Liter kann störende Symptome bis zu 80 % vermindern, eine ausreichende Salzzufuhr ist dabei wichtig. Ein kleines Frühstück beugt der Hypoglykämie in der zweiten Schulstunde vor. An die Stelle von Medikamenten sollten eher die „legalen Drogen“ des Alltagsgebrauchs treten: Schwarztee und Kaffee in jeglicher Form. Insbesondere die Vielfalt aromatisierter Schwarztees hilft, die Compliance zu verbessern. Häufig verschriebene Medikamente sind meist unnötig.
Merke.
Medikamente, die pflanzliche Wirkstoffe (Crataegus), Etilefrin oder Dihydroergotamin enthalten, sind entbehrlich. Behandlungsversuche mit Atenolol oder Fludrocortison sind nicht wirksamer als Placebobehandlung.
Fallbeispiel.
Auflösung
Kerim hatte das übliche autonome Regulationsproblem der älteren Kinder und Jugendlichen, das wir als orthostatische Hypotonie bezeichnen. Zusätzlich fanden sich serologisch Zeichen für eine Mononukleose mit erhöhtem IgM. Klinisch war die Erkrankung nicht evident. Er hatte nur unspezifische Symptome für eine virale Erkrankung. Die Virusinfektion erklärt jedoch die anamnestische Verschlimmerung der Symptome. Auffällig war zudem eine sehr niedrige 25OH-Vitamin-D-Konzentration im Serum von 11 nMol/l. Kerim und seine Eltern wurden beraten, wie er mit seinem Problem selbst umgehen kann. Die spontane Besserung der Müdigkeit nach Mononukleose ist eine Frage der Zeit. Vitamin D wurde supplementiert.
Literatur
- Steward J.M. Common Syndromes of Orthostatic Intolerance. Pediatrics. 2013;131(5):968–980. doi: 10.1542/peds.2012-2610. [DOI] [PMC free article] [PubMed] [Google Scholar]
6.21. Blässe – hämatologische Sicht
Wilhelm Geilen, Christian Kebelmann-Betzing
Fallbeispiel
Das siebenjährige Mädchen Amira wird von seiner aufgeregten Mutter in die Praxis gebracht und hat offensichtlich starke Schmerzen. Die Familie lebt in einer Erstunterbringung für Asylbewerber, der Vater ist auf einem Behördengang und nicht erreichbar. Die Mutter spricht nur Arabisch, ein Dolmetscher konnte in der Kürze der Zeit nicht gefunden werden. Bei der Untersuchung des dunkelhäutigen Kindes fallen die etwas blassen Schleimhäute sowie ein dezenter Sklerenikterus auf, ansonsten scheinen die Schmerzen im Bereich der unteren Extremitäten lokalisiert zu sein, aber Genaues lässt sich nicht feststellen. Das Mädchen hat kein Fieber.
Fragen zum Fallbeispiel
-
•
Welche Angaben sind für die Diagnose zielführend?
-
•
Wie kann eine vernünftige Anamnese erhoben werden?
-
•
Wie soll mit dem Kind verfahren werden?
-
•
Welche Differenzialdiagnosen müssen bedacht werden?
-
•
Kann eine Krankenhauseinweisung notwendig sein?
-
•
Liegt hier ggf. eine lebensbedrohliche Situation vor?
6.21.1. Stellenwert in der Grundversorgung
Kinder und Jugendliche werden in der BlässePraxis nur sehr selten mit der dezidierten Frage nach dem Vorliegen einer Anämie vorgestellt. Meist erfolgen Vorstellungen, die an eine Anämie denken lassen können, mit Hinweisen wie „… ist immer so blass“, „… ist immer so müde, kann sich nicht konzentrieren“ und anderen. In der Diagnostik stellt sich bei diesen Angaben meist keine Anämie heraus. Anämien fallen eher zufällig bei anders indizierten Blutuntersuchungen auf.
6.21.2. Definition
Eine AnämieAnämie liegt vor, wenn die Hämoglobinkonzentration den altersabhängigen Mittelwert um 2 Standardabweichungen unterschreitet (Abb. 6.87 ). Die Größe der Erythrozyten (MCV), der zelluläre Hb-Gehalt (MCH) sowie die Anzahl der Retikulozyten sind wichtige Marker zur Differenzierung der Anämieursachen. Für die Interpretation der Messwerte ist die Beachtung der Altersabhängigkeit der Parameter von großer Bedeutung.
Abb. 6.87.

Altersabhängige Normbereiche von Hämoglobin, Retikulozyten und MCV (Mittelwerte und 2-fache Standardabweichung für Retikulozyten und MCV, Mittelwert und untere 2,5er-Perzentile für Hämoglobin)
[O1048]
Anämien lassen sich unter Beachtung des MCV in makro-, normo- und mikrozytäre sowie unter Beachtung des MCH in hyper, normo- und hypochrome Formen einteilen. Hyper- und hyporegeneratorische Anämien beschreiben Störungen des Knochenmarks bei der Produktion roter Blutkörperchen und ihrer Vorläuferzellen, Erstere sind kennzeichnend für hämolytische Anämien. Zur Interpretation ist die Bestimmung der Retikulozytenzahl essenziell.
6.21.3. Klinisches Erscheinungsbild
Die klinischen Zeichen einer Anämie sind abhängig vom Alter des Kindes, dem Schweregrad der Anämie, den zugrunde liegenden Ursachen und der Geschwindigkeit ihrer Entwicklung. Bei Kindern mit einer asymptomatischen Anämie wird die Diagnose häufig bei einer Blutuntersuchung im Rahmen einer anderen Erkrankung festgestellt, da bei langsamer Entwicklung der Anämie die klinischen Zeichen durch Kompensationsmechanismen verschleiert sein können.
Subakut oder chronisch verlaufende Anämien
In der pädiatrischen Grundversorgung finden sich hauptsächlich subakut oder chronisch verlaufende Anämien.
-
•
Bei Säuglingen sind die hierfür typischen Zeichen und Vorstellungsanlässe Blässe, Trinkunlust, Irritabilität, (Skleren)ikterus bei Hämolyse.
-
•
Bei Klein- und Schulkindern neben den oben genannten Zeichen Appetitlosigkeit, Müdigkeit und Konzentrationsstörungen.
Akut verlaufende Anämien
Anämien als akutes Ereignis treten in der Praxis des Grundversorgers sehr selten auf, sondern werden in der Regel als Notfall stationär behandelt. Eine Ausnahme können hämolytische Anämien bilden, die gelegentlich einen Erstkontakt in der Grundversorgung haben. Auftreten:
-
•
Überwiegend als Folge autoimmunologischer Prozesse (z. B. Freilegung von Membranantigenen im Rahmen von Virusinfekten; Wärme-, Kälteautoantikörper)
-
•
Extrem selten als akute Folge erythrozytärer Membranopathien (z. B. Sphärozytose) oder durch bakterielle Toxinschädigung (HUS)
Hauptsymptome bei allen Formen sind: Ikterus (bei dunkler Haut schwer erkennbar), Sklerenikterus, dunkler Urin; (Hepato-)splenomegalie.
Hämolytische Krisen bei Sphärozytose werden weiter unten als gesonderter Notfall beschrieben.
6.21.4. Diagnosen und Differenzialdiagnosen
Die AnämieUrsachenUrsachen subakut oder chronisch verlaufender Anämien sind vielfältig, ihre wichtigsten sind im Folgenden (Tab. 6.40 ) aufgeführt.
Tab. 6.40.
Ursachen subakut oder chronisch verlaufender Anämien
| Häufigkeit | Ursache |
|---|---|
| Häufig | Ernährungsfehler (Eisen-, Folsäure- oder Vitamin-B12-Mangel durch ein einseitiges Nahrungsangebot oder eine Verwertungsstörung) mit der Folge einer alimentär verminderten und/oder gestörten Erythropoese (mikrozytäre bzw. megaloblastäre Anämie). Daneben treten Anämien auch im Rahmen von viralen und bakteriellen Infektionen auf |
| Weniger häufig | Genetische Ursachen: z. B. Hämoglobinopathien wie Sichelzellerkrankung, Thalassämie, Enzymdefekte, Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Mangel (G6PD), Pyruvatkinase-Mangel (PK) mit der Folge eines beschleunigten Erythrozytenabbaus (chronische Hämolyse); chronische Erkrankungen mit Entzündungsreaktionen |
| Eher selten |
|
| Sehr selten | Medikamente und Toxine (z. B. Bleivergiftungen – Störung der Blutbildung) können hämolytische Krisen auslösen oder stellen spezifische unerwünschte Wirkungen dar (Zytostatika) |
Die Eisenmangelanämie ist Eisenmangelanämiein Mitteleuropa die häufigste Form der Blutarmut. Die Erkrankung wird bei Kindern meist im Säuglings- und Kleinkindalter entdeckt und in der Praxis behandelt. Andere Anämieursachen im Kindesalter sind sehr viel seltener, werden zukünftig durch den Zuzug von Menschen aus Ländern mit einer hohen Anämieprävalenz vermehrt auftreten.
Die schnelle Klärung der pathophysiologischen Ursache ist entscheidend für die Wahl der Therapie und die Beratung der Patienten und Eltern. Zur Orientierung dient das folgende Schema (Abb. 6.88 ).
Abb. 6.88.

Schema zur Klärung der pathophysiologischen Ursachen
[V492]
Eisenmangelanämie
Die häufigste Ursache der Anämie im Kindesalter ist die Eisenmangelanämie mit einer geschätzten Häufigkeit von ca. 3 % aller Kinder bis zum zweiten Lebensjahr. Der alimentäre Eisenmangel ist oft im Alter zwischen dem 6. Lebensmonat und dem 3. Lebensjahr zu finden.
Die Ursachen eines Eisenmangels sind (in absteigender Reihenfolge):
-
1.
Zu geringe Zufuhr von Eisen, z. B. zu viel Kuhmilch im 1. und 2. Lebensjahr
-
2.
Verminderte Eisendepots bei unreif geborenen Kindern
-
3.
Ungenügende Resorption z. B. bei Zöliakie und anderen Darmerkrankungen
-
4.
Chronische Blutverluste
Symptomatische Hinweise können sein: Mundwinkelrhagaden, Zungenatrophie, brüchige Nägel/Haare, auch Haarausfall. Bei ausgeprägten Formen und längerem Bestehen können psychomotorische Entwicklungsverzögerungen auftreten.
Diagnose
Die Diagnose einer Eisenmangelanämie erfolgt in der allgemeinmedizinischen Praxis. Da es sich um eine mikrozytäre Anämie handelt, liegen
-
•
der Gesamt-Hb-Wert und die Erythrozytengröße (MCV) unterhalb der Altersnorm (Abb. 6.87),
-
•
das Serum-Ferritin (Speicher-Eisen) liegt unterhalb von 12–15 µg/l. Es liegt darüber hinaus eine
-
•
ausgeprägte Ungleichheit der Erythrozytenformen vor (Anisozytose), entsprechend ist der
-
•
RDW-Wert (= „Red Cell Distribution Width“, gibt in Prozent die mittlere Abweichung der Erythrozytengröße von der Norm an, normal < 15 %) erhöht.
Die Bestimmung des Serum-Eisens ist nur von begrenzter Aussagekraft und für die Diagnose „Eisenmangel“ nicht zielführend, da die Werte stark schwanken.
Ferritin als Akute-Phase-Protein kann auch bei banalen Infektionen erhöht sein.
Bei Patienten mit normalem Ferritin muss nach anderen Ursachen der Anämie gesucht werden. Am häufigsten sind dabei Anämien im Rahmen chronischer Infektionen oder Erkrankungen, Blutverlusten (Darm, HNO, Menorrhagie, vorausgegangene Operationen).
Beratung und Behandlung
-
•
Therapie mit 2–3-mg Eisen (Fe++)/kg KG/Tag in 1–3 Einzeldosen, einschleichende Dosierung. Wird die angestrebte Dosis aufgrund von gastritischen Nebenwirkungen nicht erreicht, können auch niedrigere Dosen gegeben werden. Entscheidend ist die gesamte Menge an verabreichtem Eisen.
Zur Prophylaxe bei Früh-und Neugeborenen oder nach einer Austauschtransfusion in der Vorgeschichte kann mit einem oralen Eisenpräparat ab der 6. Lebenswoche begonnen werden, die über mindestens 6 Monate fortgesetzt werden sollte.
-
•
BB-Kontrolle (Ziel: Hb-Anstieg 1–2 g/dl pro Woche, Fortsetzung bis 2–3 Monate nach Erreichen des Altersnormwertes. Kontrolle des Ferritin-Werts: Die Normwerte sind altersabhängig zwischen 7 und 142 ng/ml im Alter vom 6. Lebensmonat bis zum 15. Lebensjahr, bei Säuglingen höher).
-
•
Ernährungsberatung.
Bei Nicht-Ansprechen der Therapie:
-
•
Compliance? (Verträglichkeit/gastrointestinale Nebenwirkungen)
-
•
Resorptionsstörungen
-
•
Blutverluste
-
•
Andere Ursachen der Anämie?
Eine intravenöse Gabe von Eisen ist bei ca. zwei Drittel aller Patienten mit sicherer Compliance erfolgreich, wenn bei einer oralen Gabe kein Erfolg erkennbar wird.
Hyporegeneratorische normozytäre Anämien
Hyporegeneratorische normozytäre Anämien weisen eine normale erythrozytäre Morphologie mit normalem Hb-Gehalt auf. Sie entstehen entweder als isolierte Form einer Erythropoesestörung oder im Rahmen einer generalisierten Knochenmarksdepression durch unterschiedliche Ursachen. Ihr diagnostisches Charakteristikum ist eine erniedrigte Retikulozytenzahl bzw. ihr nicht adäquates Ansteigen bei vorliegender Anämie. Die Retikulozytenzahl ist ein direktes Maß für die Leistung der Erythropoese.
Besteht ein vermehrter peripherer Erythrozytenverbrauch (Hämolyse) mit resultierender Anämie, erhöhen sich bei ungestört funktionierender Erythropoese die Retikulozytenzahlen. Es liegt eine hyperregeneratorische normozytäre Anämie vor.
Merke.
Eine der häufigsten Ursachen der hyporegeneratorischen Anämie im Kindesalter sind virale Infektionen. Der Hb-Wert kann dabei während einer aktiven Entzündung um etwa 13 % pro Woche fallen.
Diagnostik
Es reicht ein einfaches Differenzialblutbild oft aus. Die wichtigste Differenzialdiagnose ist der Ausschluss eines Knochenmarkversagens durch leukämische Infiltrate. Im Zweifelsfall muss eine Knochenmarkszytologie durchgeführt werden.
Hyporegeneratorische Anämien treten auf:
-
•
Als Infektanämie
-
•
Im Rahmen von chronischen Erkankungen mit Entzündungsreaktionen, z. B. rheumatische Erkrankungen, Tuberkulose und HIV, entzündliche Darmerkrankungen, Malignome
-
•
Als transiente Erythroblastopenie des Kindesalters
-
•
Im Rahmen von Endokrinopathien, z. B. Hypothyreose
-
•
Im Rahmen einer Niereninsuffizienz (renale Anämie)
-
•
Im Rahmen von Lebererkrankungen
Hämoglobinerkrankungen
Thalassämien
Thalassämien Thalassämien sindHämoglobinerkrankungen eine Gruppe genetischer Erkrankungen mit autosomal-rezessivem Erbgang, bei denen ein Globinanteil des Hämoglobins vermindert ist. Die Folge ist ein gesteigerter Abbau (Hämolyse) und/oder ein Funktionsdefizit (erschwerter O2-Transport). Beta-Thalassämien treten vorwiegend im Mittelmeerbereich, im vorderen Orient und im südlichen Afrika auf. Alpha-Thalassämien finden sich häufiger bei Patienten aus dem asiatischen Raum.
Diagnostik und Einteilung der verschiedenen Thalassämieformen erfolgt durch die Hb-Elektrophorese. Thalassämien werden in die Alpha- und Beta-Thalassämien (Formen mit fehlenden oder zu gering produzierten alpha- oder beta-Globinketten) unterteilt (Tab. 6.41 ).
Tab. 6.41.
Thalassämien: Einteilung und Therapie
| Form | Symptome und Therapie |
|---|---|
| Beta-Thalassaemia minor (heterozygot, häufigste Form) |
|
| Beta-Thalassaemia intermedia |
|
| Beta-Thalassaemia major (homozygot, selten) |
|
| Alpha-Thalassaemia minor (heterozygot) |
|
| HbH-Krankheit: (Sonderform der Alpha-Thalassämie) |
|
| Alpha-Thalassämie (homozygote Form) |
|
Beratung und Behandlung
Auch wenn dieses Problem in der Grundversorgung selten auftritt, sei trotzdem angemerkt:
-
1.
Patienten mit einer homozygoten oder intermediären Thalassämie gehören in ein spezialisiertes Zentrum, Patienten mit den übrigen Formen benötigen eine genetische Beratung.
-
2.
Für Thalassämiepatienten existieren entsprechende Behandlungsprotokolle der Fachgesellschaften, eine Betreuung durch spezialisierte Einrichtungen sollte gewährleistet sein.
-
3.
Die einzige kurative Therapie bei allen schweren Formen der Thalassämie ist die allogene Stammzelltransplantation.
Das Hauptproblem bei allen transfusionspflichtigen Patienten ist die Eisenüberladung Eisenüberladung (Hämosiderose) mit den daraus resultierenden Organschädigungen. Aber auch nicht transfusionsabhängige Patienten erkranken im Verlauf an den Folgen einer Eisenüberladung, da die Eisenresorption auch bei ihnen deutlich erhöht ist.
Zeichen der Eisenüberladung bei regelmäßig transfundierten Patienten: Herzrhythmusstörungen, Leberfunktionsstörungen, Diabetes mellitus, Kleinwuchs, verzögerte Pubertätsentwicklung, Schilddrüsenunterfunktion, Störungen im Vitamin-D-Stoffwechsel.
Der frühzeitige Beginn einer Chelattherapie kann das Auftreten der Spätfolgen stark verzögern (Klinikeinweisung, Hämatologe).
Überwachung in der Grundversorgung:
Die Versorgung von Thalassämiepatienten gelingt – je nach Schweregrad der Erkrankung – in der Zusammenarbeit und den Absprachen mit den zuständigen hämatologischen Zentren/Schwerpunktpraxen.
Sichelzellerkrankung (HbS-Erkrankung)
Sichelzellerkrankungen Sichelzellerkrankungen sind neben den Thalassämien die häufigsten erblichen Hämoglobinopathien (Punktmutation im Beta-Globin-Genlokus), etwa 400.000 Personen in Deutschland sind symptomfreie Merkmalsträger (HbS-Träger). Bei abnehmendem O2-Partialdruck verformt sich das intraerythrozytäre Hb-S, die Erythrozyten nehmen eine Sichelform ein. Dadurch resultieren Störungen der Erythrozyten-Rheologie mit Infarktbildungen, es erfolgt ein vermehrter Abbau in der Milz (Hämolyse). Die HbS-Hämaglobinopathie wird autosomal-rezessiv vererbt. Betroffene, bei denen nur eines der beiden Hämoglobin-Gene verändert ist (Heterozygotie), sind vor den schweren Verlaufsformen der Malaria geschützt. Dadurch ist das mutierte Hämoglobin-Gen in Malariagebieten relativ weit verbreitet. Ein systematisches Screening ist bislang nicht etabliert.
Als Herkunftsregionen sind das östliche Mittelmeer, der Mittlere Osten, Zentral- und Westafrika, Indien, Afghanistan, Pakistan und der amerikanische Kontinent bekannt.
Gelegentlich ist eine aplastische Krise, ausgelöst durch eine Parvovirus B19-Infektion, ein erster Hinweis auf das Vorliegen einer Sichelzellerkrankung. Gekennzeichnet ist die Krise durch einen raschen Hb-Abfall mit den entsprechenden Symptomen.
Die Diagnostik erfolgt durch die Hb-Analyse (HPLC, Kapillar-Elektrophorese). Heterozygote HbS-Träger sind krankheitsfrei, gelegentlich tritt eine Hämaturie auf. (Saures und hypoxisches Milieu in der Niere begünstigt die Entstehung von Gefäßverschlüssen.)
Kriterien für eine weitergehende Diagnostik bei bisher unbekannten Patienten:
-
•
Herkunft aus Ländern mit erhöhter Inzidenz
-
•
Positive Familienanamnese
-
•
Rezidivierende Schmerzereignisse
-
•
Hämolytische Anämie (Ikterus bei dunkler Haut schwer erkennbar)
-
•
Unklare schmerzhafte Schwellungen von Händen und Füßen bei Kleinkindern
-
•
Ausgeprägte Anämie (Schock!) und deutliche Splenomegalie
-
•
Anämie und inadäquate Retikulozytenzahl (selten, z. B. bei Parvo B19-Infektionen)
-
•
Ungeklärte schwere Infektionen
-
•
Schmerzkrisen mit verschiedenster Lokalisation resultieren durch die vaskuläre Stapelung der verformten Erythrozyten mit konsekutiver Infarzierung der Gefäße und Nekrose der abhängigen Gewebe
-
•
Lebensgefährliche Durchblutungsstörungen möglich (u. a. Infarzierungen der Knochengefäße), Schwindelattacken, Infektionen (erhöhte Gefahr einer Sepsis durch eine funktionelle Asplenie)
Vorsicht.
Notfälle und lebensbedrohliche Komplikationen der HbS-Krankheit sind:
schwere Schmerzkrisen, akutes Thoraxsyndrom, Sepsis, aplastische Krisen, akute Milzsequestration, zerebrovaskuläre Komplikationen, Niereninsuffizienz, Priapismus. Eine stationäre Einweisung ist bei solchen Komplikationen unerlässlich.
Schmerzkrise
Bei Patienten mit einer bekannten SichelzellerkrankungSichelzellerkrankungenSchmerzkrise oder dem Verdacht auf eine Sichelzellkrise bei unbekannten Vorbefunden sollte bei einer Schmerzkrise sofort eine
-
•
analgetische Therapie mit
-
–Novalgin (10–15 mg/kg KG p. o. alle 6 Stunden) oder bei fehlender Besserung
-
–Tramadol (1–2 mg/kg KG p. o. alle 4–6 Stunden) begonnen werden.Eltern brauchen hierzu einen schriftlichen Notfallplan mit Angabe der Dosierung der Schmerzmedikamente.
-
–
In jedem Fall ist die Einweisung in eine spezialisierte Einrichtung dringend notwendig.
Eine Beratung zur Vermeidung einer Schmerzkrise durch Beeinflussung der Auslöser ist notwendig: Hitze, Kälte, Infektionen, Wetterumschwünge, Sport, Stress u. a.
Vasookklusive Krisen der Milz können schon im frühen Kleinkindalter auftreten. Die resultierende funktionelle Asplenie erhöht das Risiko für schwere, lebensbedrohliche Infektionen durch bekapselte Erreger wie Pneumokokken, Haemophilus influenzae und Meningokokken. Ein entsprechender Impfschutz muss sichergestellt werden. Eine Penicillinprophylaxe bis zum 5. Lebensjahr ist empfohlen, danach ist ihr Wert umstritten.
Beratung und Behandlung
Die ambulante Betreuung von Patienten mit Sichelzellerkrankung sollte in spezialisierten Praxen bzw. Hochschulambulanzen durchgeführt werden.
-
1.
Überwachung in der Spezialversorgung
-
–Herzfunktion (EKG, Echokardiografie)
-
–Gallenblase (Gallenblasensonografie: Gallensteinbildung durch Hämolyse), Milzsonografie
-
–Durchblutung der großen Hirnarterien (transkranielle Doppler-Sonografie, TCDS), ein sehr sensibles Verfahren zur frühzeitigen Erkennung von drohenden Schlaganfällen
-
–
-
2.
Überwachung und Betreuung in der Grundversorgung
-
–Jährliche Kontrollen der Nierenfunktion
-
–Urinkontrollen ab dem 6. Lebensjahr (Proteinurie)
-
–Kreatinin-Kontrollen (häufig niedrig, Werte ab 0,8 mg/dl können auf eine beginnende Niereninsuffizienz hinweisen)
-
–
-
–Folsäurespiegel im Serum
-
–Gefahr des funktionellen Asplenismus → Pneumokokken-Impfung, antibiotische Prophylaxe
-
–
Für Sichelzell-Patienten sind Hb-Werte > 10 g/dl wegen der zunehmenden Viskosität des Blutes problematisch, da Krisen ausgelöst werden können. Eine ausführliche Beschreibung des notwendigen und angemessenen Vorgehens findet sich bei AWMF-Leilinie 025/016: Sichelzellkrankheit.
Andere Anämieformen
1. Enzymdefekte wie G6PD-Mangel oder PK-Mangel sind sehr selten. Beim G6PD-Mangel können durch Medikamente, chemische Produkte und Nahrungsmittel (Saubohnen) hämolytische Krisen ausgelöst werden.
2. Membranopathien
Die hereditäre Sphärozytose (syn.: angeborene Kugelzellenanämie) ist in Mitteleuropa die bei weitem häufigste angeborene hämolytische Anämie (Prävalenz 1:5 000). Bei zwei Drittel der Patienten liegt eine dominante Form vor. Alle Defekte bedingen eine verminderte Verformbarkeit und einen beschleunigten Abbau der Erythrozyten in der Milz. Die Leitbefunde der Erkrankung sind meist
-
•
Normozytäre (in ca. 70 %), diskrete mikrozytäre Anämie (in ca. 30 %)
-
•
Ikterus (hämolytischer Ikterus, Verschlussikterus)
-
•
Splenomegalie
Gallensteine können bereits im Kindesalter zu Beschwerden führen; häufiger bleiben die Steine asymptomatisch. Hämolytische Krisen treten nach dem ersten Lebensjahr wiederholt vor allem im Rahmen interkurrenter Infekte auf. Der Verlauf ist oft milde und eine Bluttransfusion meist nicht erforderlich. Aplastische Krisen können durch Parvovirus B19 ausgelöst werden (Ringelröteln), wobei die Patienten selber keine typischen Effloreszenzen zeigen → Umgebungsbeobachtung durch die Eltern!
Die Aufgaben des Grundversorgers:
-
•
Jenseits der Neugeborenenperiode sollten bis zum Alter von sechs Monaten monatliche, anschließend 6- bis 8-wöchentliche Hb-Kontrollen erfolgen.
-
•
im zweiten Lebensjahr bei mittelschwerer und schwerer Form alle 3–4 Monate, bei leichter Form alle sechs Monate.
-
•
Vom dritten bis fünften Lebensjahr wird eine 6- bis 12-monatliche Kontrolle von Hb, Retikulozytenzahl und Bilirubinkonzentration empfohlen, im weiteren Verlauf einmal pro Jahr.
-
•
Ultraschallkontrollen auf das Vorliegen von Gallensteinen sollten mindestens alle drei Jahre sowie unmittelbar vor einer Splenektomie erfolgen.
-
•
Splenektomierte benötigen einen adäquaten Impfschutz sowie eine Penizillin-Prophylaxe.
6.21.5. Notfälle
Notfälle im Zusammenhang mit AnämieNotfallAnämieerkrankungen sind in der Grundversorgung extrem selten.
Erwähnt werden sollen aber
-
•
die akute Milzsequestration und akute schwere vasookklusive Krisen (Thoraxsyndrom, Schlaganfall) bei Sichelzell-Patienten und
-
•
schwere hämolytische Krisen durch Autoantikörper. Hierbei führt ein rapider Hb-Abfall innerhalb weniger Stunden zu einer lebensbedrohlichen Situation.
Andere, deutlich seltenere Formen der Anämien im Kindesalter werden hier nicht besprochen. Hinweise dazu ergeben sich aus dem Diagnoseschema und in den entsprechenden Publikationen.
Fazit
Die Zahl der Sichelzellpatienten vor den zurzeit stattfindenden Zuzügen in Deutschland betrug ca. 1.500, was in etwa der Anzahl von leukämiekranken Kindern/Jahr entspricht. Die Anzahl der Patienten wird sich in Zukunft deutlich erhöhen, wenn mehr Menschen aus den Ländern mit einer hohen Inzidenz nach Deutschland kommen (Abb. 6.89 ).
Abb. 6.89.

Länder mit erhöhter Inzidenz an Anämien
[W798]
Fallbeispiel.
Auflösung
Bei Amira wurde in der beschriebenen Konstellation an eine Schmerzkrise im Rahmen einer Sichelzellerkrankung gedacht, eine sofortige Schmerzbehandlung eingeleitet und das Kind stationär eingewiesen.
Eine genaue Anamnese erfolgte anschließend mithilfe eines Dolmetschers. Frühere Schmerzkrisen im Herkunftsland wurden angegeben und „dass das Kind etwas mit dem Blut hat“. Während des Klinikaufenthalts konnte das Vorliegen einer HbS-Hämoglobinopathie elektrophoretisch gesichert werden. Amira wurde zur weiteren ambulanten Betreuung an eine hämatologische Spezialambulanz überwiesen.
Die Eltern und Geschwister wurden vom pädiatrischen Grundversorger im Rahmen einer späteren Behandlung der Patientin aufgefordert, sich ebenfalls auf das Vorliegen einer Sichelzellanämie untersuchen zu lassen.
Literatur
- AWMF-Leitlinie 025/016: Sichelzellkrankheit. (Abgerufen am 3.2.16).
- Behnisch W et al. Eisenmangelanämie. Leitlinie der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie. (Abgerufen am 3.2.16).
- Burdach S. Differenzialdiagnose der Anämie. Monatsschrift Kinderheilkunde. 2015;163(1):18–27. [Google Scholar]
- Cario H et.al.: Sichelzellkrankheit. Leitlinie der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie. (Abgerufen am 3.2.16).
- de Benoist B., McLean E., Egli I., Cogswell M., editors. Worldwide prevalence of anaemia. WHO global database on anaemia 2008; 1993–2005. http://apps.who.int/iris/bitstream/10665/43894/1/9789241596657_eng.pdf (letzter Zugriff: 1.4.2016) [DOI] [PubMed] [Google Scholar]
- Eber S.W. Häufigste Formen und Ursachen der Anämie. Monatsschrift Kinderheilkunde. 2015;163(1):28–38. [Google Scholar]
- Kühnle T., Schifferli A. Springer; Berlin: 2016. Kompendium Kinderhämatologie. [Google Scholar]
- Kulozik AE, Kunz J. Anämiediagnostik im Kindesalter. Leitlinie der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie. Abgerufen: 2/16
- Lasky J et al. Anemia. In: Berkowitz's Pediatrics-A primary care approach. Chapter 86 S.545 ff.
- S1-Leitlinie zu Diagnostik und Therapie in der Pädiatrischen Onkologie und Hämatologie hereditäre Sphärozytose www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/025-018.html (wird zurzeit überprüft)
6.22. Gerinnungsstörungen
Fallbeispiel.
Der GerinnungsstörungenMutter fällt auf, dass ihre Tochter am Tag auffallend viele Monatsbinden braucht und dass die Regelblutung länger als eine Woche anhält. Schmerzen oder ein Trauma gibt die Jugendliche nicht an. Hanneke war zuvor immer mal wieder mit Nasenbluten aufgefallen. Auf Nachfrage bei den Eltern tritt aber auch bei anderen Familienangehörigen häufiger einmal Nasenbluten auf, weshalb das bislang niemanden beunruhigt hatte.
Fragen zum Fallbeispiel
-
1.
Welche Angaben sind für die Diagnosefindung zielführend?
-
2.
Welche Diagnostik ist sinnvoll?
-
3.
Wie sollen die Eltern beraten und wie soll die Jugendliche behandelt werden?
6.22.1. Stellenwert in der Grundversorgung
Epistaxisneigung ist Epistaxisein häufiges Problem der kinder- und jugendärztlichen Praxis: 64 % aller Kinder und Jugendlichen hatten bis zum 15. Lebensjahr schon einmal NasenblutenNasenbluten Blutungsneigung. Bei Kindern mit Epistaxis kann in bis zu 30 % eine Störung des Gerinnungssystems nachgewiesen werden. Es besteht dabei eine deutliche Korrelation zwischen der Blutungsdauer und dem Vorliegen einer Gerinnungsstörung. Bei 50 % der Patienten mit Blutungszeiten > 1 Stunde bzw. bei mehr als einem Epistaxisereignis pro Monat ist eine Gerinnungsstörung nachweisbar.
-
•
Die häufigste Gerinnungsstörung in unserer Bevölkerung stellt mit einer Prävalenz von ca. 1 % das von-Willebrand-Jürgens-Syndrom mit vermindertem oder qualitativ beeinträchtigtem von-Willebrand-Faktor (vWF) dar. Klinisch relevant ist diese Erkrankung jedoch nur bei 1 von 5.000 Einwohnern.
-
•
Die mit einem Thromboserisiko einhergehende verstärkte Gerinnungsneigung Gerinnungsneigung, verstärkte ist sozusagen das Gegenstück der Blutungsneigung. Das Risiko hierfür ist bei Kindern unter zehn Jahren im Gegensatz zur älteren Bevölkerung sehr gering (Inzidenz 1:100.000 vs. 1:100).
Gerinnungsdiagnostik vor OP
Häufig wird vor einem operativen Eingriff eine Gerinnungsdiagnostik verlangt. Ein derartiges Screening ist aus unten aufgeführten Gründen in der Regel unsinnig und sollte nur bei begründetem Verdacht auf eine Gerinnungsstörung durchgeführt werden.
Bewährt haben sich dagegen gezielte anamnestische Fragebögen, wie z. B. von Eberl et al. (Tab. 6.42 ).
Tab. 6.42.
Fragebogen zur GerinnungsdiagnostikGerinnungsdiagnostik vor Operationen
| Anamnese vor geplanter Adenotomie oder Tonsillektomie bei Kindern | ||
|---|---|---|
| Eigenanamnese des Kindes | ja | nein |
| 1. Hat Ihr Kind vermehrt Nasenbluten ohne erkennbaren Grund? | ||
| 2. Treten bei Ihrem Kind vermehrt „blaue Flecke“ auf, auch am Körperstamm oder an ungewöhnlichen Stellen? | ||
| 3. Haben Sie Zahnfleischbluten ohne erkennbare Ursache festgestellt? | ||
| 4. Wurde Ihr Kind schon einmal operiert? | ||
| 5. Kam es während oder nach einer Operation zu längerem und verstärktem Nachbluten? | ||
| 6. Kam es im Zahnwechsel oder nach dem Ziehen von Zähnen zu längerem oder verstärktem Nachbluten? | ||
| 7. Hat Ihr Kind schon einmal Blutkonserven oder Blutprodukte übertragen bekommen? | ||
| 8. Hat Ihr Kind in den letzten Tagen Schmerzmittel, zum Beispiel Aspirin, ASS oder Ähnliches genommen? | ||
| Familienanamnese, getrennt für Vater und Mutter | ||
| 1. Haben Sie vermehrt Nasenbluten, auch ohne erkennbaren Grund? | ||
| 2. Haben Sie bei sich Zahnfleischbluten ohne ersichtlichen Grund festgestellt? | ||
| 3. Haben Sie den Eindruck, dass es bei Schnittwunden (Rasieren) nachblutet? | ||
| 4. Gab es in der Vorgeschichte längere oder verstärkte Nachblutungen nach Operationen? | ||
| 5. Gab es längere oder verstärkte Nachblutungen nach oder während des Ziehens von Zähnen? | ||
| 6. Gab es in der Vorgeschichte Operationen, bei denen Sie Blutkonserven oder Blutprodukte erhalten haben? | ||
| 7. Gibt es oder gab es in Ihrer Familie Fälle von vermehrter Blutungsneigung? | ||
| Zusatzfragen an die Mutter | ||
| 8. Haben Sie den Eindruck, dass Ihre Regelblutung verlängert oder verstärkt ist? | ||
| 9. Kam es bei oder nach der Geburt eines Kindes bei Ihnen zu verstärkten Blutungen? | ||
Quelle:Eberl W et al. Präoperatives Screening auf Gerinnungsstörungen vor Adenotomie und Tonsillektomie. Klein Pädiatr 2006; 217, 20–24.
6.22.2. Definition
Eine klinisch auffällige Blutungsneigung ist in der Praxis auf das Vorliegen einer Gerinnungsstörung abzuklären. Neben angeborenen Formen sind erworbene Formen möglich, welche im Kindesalter jedoch seltener vorkommen. Zu unterscheiden sind dabei Störungen der plasmatischen Hämostase, des thrombozytären Systems sowie des Gefäßsystems (wie Vaskulitiden). Am häufigsten ist eine plasmatische Störung die Ursache, weniger häufig Thrombozytopathien oder Thrombozytopenien und deutlich seltener Störungen der Gefäßwandpermeabilität (Vaskulitiden).
Bei der Thrombophilie kommt es aus verschiedenen endogenen oder exogenen Ursachen zur vermehrten Bildung von Blutgerinnseln innerhalb von Blutgefäßen (Thrombose). Die häufigste genetische (endogene) Ursache ist der Faktor-V-Mangel (Leiden). 0,05–0,5 % der Bevölkerung in Europa sind als homozygote Träger betroffen.
Merke.
Bemerkungen zur Labordiagnostik
Durch ledigliche Bestimmung von Globalparametern der plasmatischen Gerinnung (wie Quick, aPTT) können relevante Störungen unentdeckt bleiben, da sie hiervon nicht ausreichend erfasst werden! Einzelfaktoren wie Fibrinogen, der vWF und Faktor XIII sollten daher bei Verdacht auf Vorliegen einer Gerinnungsstörung immer als Einzelfaktoranalysen mitbestimmt werden. Zudem ist eine orientierende Untersuchung der Thrombozytenfunktion in vitro sinnvoll.
Da z. B. der vWF als Akut-Phase-Protein reagiert, sollte die Bestimmung unbedingt in einem infektfreien Intervall erfolgen. Im Kindesalter stören zudem oft im Rahmen von Infektionen erhöhte Lupusinhibitoren (Antiphospholipid-AK) die Labordiagnostik.
Wegen diverser möglicher, präanalytischer Fehler sollte die genaue Diagnostik durch eine der zahlreichen Spezialpraxen oder -ambulanzen erfolgen.
6.22.3. Klinisches Erscheinungsbild
Das Erscheinungsbild variiert mit dem Alter des Kindes, der Art und der Schwere der Gerinnungsstörung. Abhängig von der vorliegenden Gerinnungsstörung sind klinisch unterschiedliche Blutungsmanifestationen zu beobachten.
Menschen mit einer Thrombophilie werden in der Regel durch tiefe Beinvenenthrombosen oder Lungenembolien symptomatisch.
Neugeborene und Säuglinge
In der Regel keine schweren Blutungen: Auch bei Vorliegen schwerer Formen angeborener Blutungsneigungen kommt es in diesem Lebensabschnitt selten zu schweren Blutungen. Eine erworbene schwere Blutungsneigung durch Vitamin-K-Mangel sollte durch die allgemein empfohlene Prophylaxe nicht mehr auftreten.
Neonatale Immunthrombozytopenien kommen selten (durch mütterliche Antikörper) vor. Dabei können diaplazentar übertragene Auto- oder Allo-Antikörper der Mutter vorliegen.
Merke.
Ein postnatal wachsendes Kephalhämatom insbesondere bei männlichen Neugeborenen ist ein Alarmsignal für das mögliche Vorliegen einer schweren Hämophilie A oder B (Faktor-VIII- oder Faktor-IX-Mangel; schwere Formen mit Restaktivitäten < 1 %). In der Folge sind auch intrakranielle Blutungen beschrieben. Daher sollte eine notfallmäßige Verlegung in ein hämostaseologisch erfahrenes Perinatalzentrum und eine unverzügliche Abklärung bei solchen Patienten erfolgen.
Die Prävalenz beträgt 1:25.000. Verminderung oder Fehlen von Faktor VIII (fünffach häufiger) oder Faktor IX.
X-chromosomal vererbbare Erkrankungen (daher fast ausschließlich Jungen betroffen), jedoch kommen auch Spontanmutationen vor.
Vorschulkinder
Klinische Blutungszeichen treten bei wachsender körperlicher Aktivität öfter auf. Typische Fehldiagnose: Kindesmisshandlung; wegen ausgeprägter Hämatome (teilweise mit Indurationen tastbar). Bei schweren Blutungsübeln sind auch in diesem Alter schon Gelenkblutungen möglich.
Schulkinder und Jugendliche
-
•
Von-Willebrand-Syndrom (vWS) oder Thrombozytopathien: insbesondere Schleimhautblutungen (häufiges Nasen- oder Zahnfleischbluten, Hypermenorrhö), Hämatomneigung, bei schwereren Formen eines vWS: Gelenkblutungen möglich.
-
•
Hämophilie (A oder B): Hämatome, Gelenkblutungen (früher gefürchtet, heute nur noch Rarität: Ausbildung einer Hämophilen-Arthropathie), innere Blutungen, Psoasblutung (imponiert klinisch wie eine Leistenzerrung oder Appendizitis; Cave: hoher Blutverlust in den Muskeln und Nervenschädigung möglich).
-
•
Seltene Mangelzustände anderer Einzelfaktoren (wie F. VII-Mangel, F. X-Mangel, Hypo- oder Dysfibrinogenämie …): klinisch oft wie eine Hämophilie imponierend. Bei F. XIII-Mangel anamnestisch oft eine bestehende Keloidneigung.
Häufigkeit
-
•
Nicht selten: von-Willebrand-Syndromvon-Willebrand-Syndrom vorwiegend mit Schleimhautblutungen
-
•
Selten: Hämophilie A oder B mit ausgeprägten Hämatomen, Gelenkblutungen und möglichen vital bedrohlichen inneren oder intrakraniellen Blutungen
-
•
Sehr selten: andere Einzelfaktormangelzustände (F. VII, F. XIII, Fibrinogen etc.): klinisch ähnlich einer Hämophilie
-
•
Sehr selten: Blutplättchenfunktionsstörungen (wie z. B. M. Glanzmann): klinisch oft Schleimhautblutungen, schwerste (!) Hypermenorrhöen, petechiale Blutungen
6.22.4. Diagnosen und Differenzialdiagnosen
Plasmatische Gerinnungsstörungen mit Blutungsneigung sind häufiger als Funktionsstörungen der Thrombozyten. Dennoch darf bei der Abklärung eine Diagnostik der Thrombozytenfunktion nicht ausgelassen werden, auch wenn sie wegen der kurzen Transportzeiten und des hohen Risikos für präanalytische Fehler nicht überall zur Verfügung steht. Der klinische Befund in Verbindung mit dem Alter des Kindes und der Anamnese einschließlich der Familienanamnese führt schnell zur Verdachtsdiagnose. Bei kleinen Kindern kann die Eigenanamnese noch unauffällig sein. Daher ist immer die Familienanamnese sorgfältig mit zu erheben, z. B. mithilfe eines standardisierten Fragebogens (z. B. unter www.netzwerk-von-willebrand.de)
Dem Labor (Blutbild, Bestimmung von Globalparametern und Einzelfaktoranalysen mit Lupusinhibitoren [Antiphospholipid-AK] sowie zunächst orientierender Bestimmung der Thrombozytenfunktion) kommt eine wichtige Rolle zu. Zur Minimierung präanalytischer Fehler ist ggf. die Durchführung der Diagnostik durch eine Spezialpraxis oder -ambulanz zu empfehlen.
Vorsicht.
-
•
Bei allen Patienten mit Verdacht auf eine Gerinnungsstörung ist möglichst eine standardisierte Eigen- und Fremdanamnese zu erheben.
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•
Bei auffälligem Fragebogenergebnis ist eine Spezialdiagnostik durchzuführen.
-
•
Die Bestimmung lediglich von Globalparametern der Gerinnung ist besonders im Kindes- und Jugendalter nicht zu empfehlen!
Eine Indikation zur Thrombophilie-Diagnostik ergibt sich nur bei stattgehabter Thrombose oder thromboembolischer Erkrankung eines erstgradig Verwandten. Bei Familien mit bekanntem Antithrombin-, Protein-C- oder Protein-S-Mangel sollte die Testung immer und frühzeitig (im ersten Lebensjahr) erfolgen, ggf. noch in der Neonatalperiode. Die Möglichkeiten eines reinen Screenings auf eine Thrombophilie ohne Klinik oder Indexfall sind durch das Gendiagnostikgesetz (GenDG) erheblich eingeschränkt.
Bei einer Labordiagnostik auf eine Thrombophilieneigung sollten im Wesentlichen erfasst werden:
-
•
„Gerinnung“: Antithrombin, Fibrinogen, Protein C, Protein S, Faktor VIII (jeweils Citrat-Blut)
-
•
Genetik: Mutation im Faktor-V-Leiden-Gen (G1691A), Prothrombin Mutation (FII-Mutation/G20210A) (EDTA-Blut/Einverständniserklärung der Eltern nach Gendiagnostikgesetz erforderlich)
-
•
Stoffwechsel und Fettstoffwechsel: Lipoprotein (a) (Serum), Homocystein (EDTA)
6.22.5. Beratung und Behandlung
Die meisten Gerinnungsstörungen mit Blutungsneigung im Kindes- und Jugendalter sind in der Regel angeborene, genetisch determinierte Erkrankungsbilder.
Je nach festgestellter Art und Schwere einer Gerinnungsstörung ist eine Therapie indiziert mit
-
•
Faktorkonzentraten,
-
•
DDAVP (Minirin®),
-
•
Antifibrinolytika,
-
•
Hämostyptika oder
-
•
ggf. Thrombozytenkonzentraten.
von-Willebrand-Syndrom
-
•
Nachvon-Willebrand-Syndrom Subtyp-Analyse/Testung der Wirksamkeit kann DDAVP (Minirin®) bei leichten und mittelschweren Formen zur Therapie angewandt werden. (Nebenwirkungen, Kontraindikationen und Tachyphylaxie beachten!)
-
•
Bei Mädchen jenseits der Menarche: unterstützende, angepasste Verordnung einer hormonellen Therapie durch Gynäkologie oft zur Unterdrückung der Schleimhautproliferation und Regelblutung sinnvoll.
-
•
Bei schwereren Formen oder wenn eine Kontraindikation für DDAVP besteht, lassen sich von-Willebrand-Faktor-haltige Gerinnungsfaktorkonzentrate einsetzen. Antifibrinolytika sind ggf. unterstützend anzuwenden.
Hämophilie A oder B
-
•
Schwere Verlaufsform (< 1 % Restaktivität [RA]): Hämophilie A Hämophilie BIn den ersten Lebensmonaten zunächst beobachtendes Verhalten, solange keine Blutung auftritt. Möglichst vor Auftreten der ersten größeren Blutung bei zunehmender körperlicher Aktivität Beginn einer prophylaktischen Behandlung mit Faktorkonzentraten.
-
•
Mittelschwere Verlaufsform (1–4 % RA): meist nur Bedarfsbehandlung mit Faktorkonzentraten oder Minirin® (DDAVP) bei Hämophilie A erforderlich, bei klinisch schwereren Verläufen ggf. auch prophylaktische Behandlung.
-
•
Leichte Verlaufsform (5–24 % RA): meist nur Bedarfsbehandlung mit Faktorkonzentraten oder Minirin® (DDAVP) bei Hämophilie A erforderlich.
-
•
Subhämophilie (25–50 % RA): meist nur Bedarfsbehandlung mit Faktorkonzentraten oder Minirin® (DDAVP) bei Hämophilie A erforderlich.
Seltenere Einzelfaktormangelerkrankungen mit Blutungsneigung
Je nach Art und Schweregrad unterschiedliche Behandlungskonzepte nach Beratung durch hämostaseologisch erfahrenen Behandler.
Thrombozytopathien
-
•
Nach ThrombozytopathienTestung der Wirksamkeit kann oft DDAVP (Minirin®) bei leichten und mittelschweren Formen zur Therapie angewandt werden. (Nebenwirkungen, Kontraindikationen und Tachyphylaxie beachten!)
-
•
Bei Mädchen jenseits der Menarche: unterstützende, angepasste Verordnung einer hormonellen Therapie durch Gynäkologie oft zur Unterdrückung der Schleimhautproliferation und Abschwächung der Regelblutung sinnvoll.
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•
Bei schwereren Formen oder wenn eine Kontraindikation für DDAVP besteht, kann rekombinanter, aktivierter F. VII als Hochdosis-Therapie zur Thrombozytenstimulation angewandt werden. Antifibrinolytika sind ggf. unterstützend anzuwenden.
Die Therapie einer festgestellten Gerinnungsstörung mit Blutungsneigung sollte immer in Zusammenarbeit mit einem hämostaseologisch qualifizierten und erfahrenen Kinder- und Jugendarzt in einer Spezialpraxis oder -ambulanz erfolgen. An die Verordnung der Gerinnungspräparate sind besondere Vorschriften (Chargendokumentation, Wirtschaftlichkeit der Verordnung, Bezugsweg etc.) gekoppelt. Zudem sollte der Verlauf der Erkrankung (durch spezielle klinische und bildgebende Untersuchungen) und die (ggf. auch supportive) Therapie hierdurch gut dokumentiert und möglichst vor Auftreten von Komplikationen regelmäßig angepasst werden.
Thrombophilien
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•
MinimierungThrombophilien von Risikofaktoren: Verzicht auf Zigaretten, Bewegungsförderung, Vermeiden einer Übergewichtsentwicklung, Wahl des Verhütungsmittels (Cave: orale Kontrazeptiva)
-
•
Antikoagulanzien in Absprache mit einem hämostaseologisch erfahrenen Kinder- und Jugendarzt, insbesondere perioperativ
Fallbeispiel.
Auflösung
Zielführende anamnestische Angaben ergeben sich in diesem Alter aus der Eigen- und Familienanamnese mit ähnlichen Erkrankungsbildern bei nahen Verwandten; bei einer Jugendlichen mit Hypermenorrhö sollte immer an ein von-Willebrand-Syndrom oder eine Thrombozytopathie gedacht werden.
Die klinische Untersuchung ist in diesem Fall meistens nicht so aussagekräftig wie die gute Anamnese.
Empfehlungen an die Eltern und die Patientin: Diagnostik abschließen, dann angepasste Therapie (je nach Ergebnis) mit DDAVP (Minirin®) oder vWF-haltigen Faktorkonzentraten sowie weitere hämostyptische/antifibrinolytische Maßnahmen im Blutungsfall. Zur Menstruationskontrolle ist eine Hormontherapie („Minipille“) in Absprache mit Kinder- und Jugendgynäkologen absolut sinnvoll.
Operative Eingriffe nur mit Planung durch hämostaseologisch qualifizierten Arzt.
Literatur
- Eberl W. Präoperatives Screening auf Gerinnungsstörungen vor Adenotomie und Tonsillektomie. Klin Pädiatr. 2005;217:20–24. doi: 10.1055/s-2004-818789. [DOI] [PubMed] [Google Scholar]
- Espinoza J.P. Fetal and Neonatal Alloimmune Thrombocytopenia. Reviews in Obstetrics and Gynecology. 2013;6.1:e15–e21. [PMC free article] [PubMed] [Google Scholar]
- Kaplan C. Neonatal Alloimmune Thrombocytopenia. Haematologica. 6/2008;93:80–807. doi: 10.3324/haematol.13160. [DOI] [PubMed] [Google Scholar]
6.23. „Das Herz“
6.23.1. Angeborene Herzfehler
Fallbeispiel.
Schon bei der U2 war bei dem Jungen ein Herzgeräusch aufgefallen. Im Alter von drei Wochen wird er zur kardiologischen Diagnostik vorgestellt. Er ist Kind einer herzgesunden Familie, Schwangerschaft und Geburt verliefen ohne Probleme, er trinkt gut, gedeiht und hat keine Zeichen für eine hämodynamische Belastung. Der Säugling ist rosig, Atmung und Lunge sind unauffällig, sein Pulsstatus ist normal und Stauungszeichen bestehen nicht. Das Herz ist palpatorisch ruhig, die Herztöne physiologisch und über dem 3.–4. ICR links hört man ein scharfes Grad 3/6 lautes früh-mittsystolisches Geräusch, kein diastolisches Geräusch. Das EKG ist altersnormal.
Fragen zum Fallbeispiel
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Handelt es sich um einen Herzfehler oder um ein harmloses Herzgeräusch?
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Wie kann der pädiatrische Grundversorger eine hämodynamische Belastung erkennen?
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Wie wird die Lebensqualität des Kindes?
-
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Kann der Arzt die Eltern beruhigen?
Stellenwert in der Grundversorgung
Herzfehler Herzfehler gehören zu den häufigsten angeborenen Fehlbildungen bei knapp einem Prozent der Lebendgeborenen. Etwa 10 % der Kinder mit Herzfehlern haben eine Chromosomenaberration und bei 20 % findet man zusätzliche Fehlbildungen. Hat eine Mutter einen Herzfehler, steigt das Risiko für ihr Kind erheblich. Insbesondere bei Müttern mit Aortenstenose (13–18 %) und AV-Septumdefekt (14 %) besteht ein hohes Wiederholungsrisiko. Wenn der Vater oder Geschwister einen Herzfehler haben, besteht je nach Herzfehler ein Wiederholungsrisiko von 1–3 %.
Definition
Häufigster Vorstellungsanlass zur kinderkardiologischen Untersuchung sind Herzgeräusche. Etwa 70 % der Neugeborenen und jungen Säuglinge haben ein Herzgeräusch Herzgeräusch und bei fast jedem Menschen tritt irgendwann einmal in der Kindheit ein Herzgeräusch auf. Meist sind die Geräusche „akzidentell“ beim gesunden Kind oder „funktionell“ als Ausdruck einer nichtkardialen Erkrankung mit erhöhtem Herzminutenvolumen. Organische Herzgeräusche sind Symptome angeborener oder erworbener Herzerkrankungen.
Vorsicht.
Insbesondere bei Neugeborenen können kritische Herzfehler (Tab. 6.43 ) übersehen werden, weil die Kinder noch kein Herzgeräusch haben. Deshalb ist die pulsoxymetrische Bestimmung der Sauerstoffsättigung bei Neugeborenen ein wichtiges Screeninginstrument.
Tab. 6.43.
Anteil einzelner Herzfehler in %
| Herzfehler | Anteil |
|---|---|
| Ventrikelseptumdefekte (VSD) | 31 % |
| Isolierter persistierender Ductus arteriosus | 7 % |
| Vorhofseptumdefekte | 7 % |
| Pulmonalstenosen | 7 % |
| Fallot-Tetralogie | 5,5 % |
| Aortenisthmusstenosen | 5–8 % |
| Atrioventikularseptumdefekte | 4,8 % |
| Transposition der großen Arterien | 4,5 % |
| Aortenstenosen | 3–6 % |
| Hypoplastisches Linksherz | 3,8 % |
| Pulmonalatresie mit VSD | 2,5–3,4 % |
| Pulmonalatresie mit intaktem Ventrikelseptum | 2,4 % |
Häufig werden Kinder und Jugendliche wegen belastungsunabhängiger präkordialer Schmerzen vorgestellt. Weniger als 1 % dieser Beschwerden sind kardial bedingt. Vor dem 21. Lebensjahr haben etwa 15 % der Menschen Synkopen. Auch wenn diese meist nicht kardial bedingt sind, sollte eine kardiale Ursache ausgeschlossen werden.
Herzfehler sind meist angeborene Fehlbildungen des Herzens und der herznahen arteriellen und venösen Blutgefäße. Sie können auch durch entzündlich-degenerative Prozesse oder durch Traumen erworben.
Kritische Herzfehler von Neugeborenen (12–30 %) sind solche, die im ersten Lebensmonat symptomatisch werden und unbehandelt im 1. Lebensjahr zum Tode führen. Etwa 77 % der Kinder mit angeborenen Herzfehlern benötigen später eine Operation oder Katheter-Intervention, bei 20 % ist ein Eingriff nie nötig und 3 % sind inoperabel.
Klinisches Erscheinungsbild
Nach der Neugeborenenzeit haben die meisten Kinder mit Herzfehlern ein Herzgeräusch, insbesondere bei zyanotischen Vitien. Daher haben ansonsten gesund, aber zyanotisch wirkende Kinder in der Regel eine „periphere Zyanose“. Die Pulsoxymetrie ist ein wichtiger Schlüssel in der Beurteilung.
Eine hämodynamische Belastung äußert sich allgemein in Fütter- und Gedeihstörungen. Die Atmung wird erschwert und schnell, die Patienten ermüden rasch und schwitzen bei leichter Anstrengung, Säuglinge beim Trinken.
Bei einem bedeutungsvollen Shunt ist das erhöhte Schlagvolumen in einer verstärkten Aktivität des Herzens zu palpieren. Die Palpation der Pulse gibt mit der Blutdruckmessung an Armen und Beinen Auskunft über Koarktationen. Liegt der systolische Blutdruck an den Armen mehr als 10 mmHg über dem Druck an den Beinen, spricht dies für eine Aortenisthmusstenose.
Frühsystolische Klickgeräusche deuten auf Engen der Aorten- oder Pulmonalklappe hin.
Diagnose und Differenzialdiagnosen
Etwa die Hälfte aller kritischen Herzfehler können heute pränatal durch Ultraschall diagnostiziert werden. Bei einem Viertel führt der klinische Befund nach der Geburt zur richtigen Diagnose und beim letzten Viertel sind erst weitere diagnostische Maßnahmen erforderlich (Tab. 6.44 ).
Tab. 6.44.
Differenzierende einfache Untersuchungsbefunde
| Befund | Bedeutung |
|---|---|
| Zyanose |
|
| Verstärkte Aktivität parasternal | Erhöhtes Schlagvolumen rechter Ventrikel (Links-Rechts-Shunt, Pulmonalinsuffizienz, Trikuspidalinsuffizienz) |
| Verstärkte Aktivität lateral | Erhöhtes Schlagvolumen linker Ventrikel (Aorteninsuffizienz, Mitralinsuffizienz, persistierender Ductus arteriosus) |
| Schwirren | Geräusch Grad 4/6 oder lauter, fast immer pathologisch |
| Schwache/fehlende Femoralispulse, Blutdruckdifferenz oben/unten > 10 mmHg | Koarktation |
| Zweiter Herzton gespalten |
|
| Zweiter Herzton betont |
|
| Frühsystolischer Klick | Aorten- oder Pulmonalklappenstenose |
| Holosystolisches Geräusch | Meist pathologisch (VSD) |
| Diastolisches Geräusch | Meist pathologisch (Aorten- oder Pulmonalinsuffizienz) |
| Kontinuierliches systolisch-diastolisches Geräusch |
|
Erfahrene können nach der Neugeborenenzeit durch die körperliche Untersuchung einen angeborenen Herzfehler mit sehr großer Sicherheit diagnostizieren und seinen Schweregrad beurteilen (Sensitivität 80,5 %, Spezifität 90,9 %, positiver Vorhersagewert 91,9 %). Eine EKG-Untersuchung verbessert diese Werte nicht. Erworbene, z. B. rheumatische, Herzerkrankungen kann man klinisch weniger sicher diagnostizieren.
Ambulant tätige Allgemeinpädiater sollen in der Lage sein, Herzgeräusche mit Krankheitswert von akzidentellen Herzgeräuschen bei gesunden Kindern abzugrenzen.
Akzidentell sind ein:
-
1.
Musikalisches Herzgeräusch, linker Sternalrand, oft beim Aufrichten leiser
-
2.
Pulmonalarterien Strömungsgeräusch, rau, links parasternal, kein Klick
-
3.
Venöses Einstromgeräusch („Nonnensausen“), kontinuierliches Geräusch, verschwindet bei Kompression der Jugularvene oder Kopfdrehung
-
4.
Geräusch durch physiologische periphere Pulmonalstenosen bei Neugeborenen, rechts und links parasternal, in Axillen und Rücken fortgeleitet
-
5.
Akzidentelles supraklavikuläres Geräusch, arteriell, Aortenbogengefäße, kein Klick
Merke.
Geräusche, die rau klingen, holosystolisch sind oder lauter als Grad 3/6 (Schwirren), sind meistens organisch bedingt. Diastolische Herzgeräusche sind in der Regel pathologisch.
Zusatzuntersuchungen
Das EKG liefert Hinweise auf Druck- oder Volumenbelastungen. Bei manchen Herzfehlern ist der QRS-Vektor verändert. Ein links überdrehter frontaler QRS-Vektor ist pathognomonisch für einen Atrioventikularseptumdefekt (häufig bei Down-Syndrom).
Die Echokardiografie Echokardiografie ist mit Doppler- und Farbdopplerverfahren die wichtigste bildgebende Methode, um die strukturellen und funktionellen Verhältnisse am Herzen darzustellen. Sie ist immer indiziert, wenn der Verdacht auf einen Herzfehler besteht. Neben der Morphologie kann die Funktion des Herzens, z. B. die Wandbewegung, beurteilt werden. Durch Dopplerverfahren erhält man Rückschlüsse auf Druckgradienten und im Farbdoppler wird der Blutfluss direkt sichtbar. Die wesentlichen Herzfehler werden sicher erkannt und ihr Schweregrad beurteilt. Viele Patienten können heute auf der Basis der echokardiografischen Befunde ohne weitere Diagnostik operiert werden. Insbesondere die transösophageale Echokardiografie ist eine wichtige Hilfe bei interventionellen Eingriffen.
Die Bedeutung der Röntgen-Untersuchung des Thorax ist heute sehr begrenzt. Allerdings wird mit dieser Methode die Lungengefäßzeichnung exzellent abgebildet. Strukturen, Funktion, Volumina und Shuntgrößen kann man deutlich besser in der kardialen Magnetresonanztomografie erkennen. Diese ersetzt oft eine Herzkatheter-Untersuchung. Sie erfordert jedoch einen ruhigen und kooperativen Patienten oder eine Narkose.
Herzkatheter Herzkatheter sind häufig mehr therapeutische als diagnostische Maßnahmen. Engen an Gefäßen und Klappen werden gebessert, Shuntverbindungen auf der Ebene der Vorhöfe, der Ventrikel und der großen Arterien werden verschlossen, Gefäße werden durch Stents offen gehalten und Ersatzklappen werden eingesetzt.
Lebensqualität mit angeborenen Herzfehlern
Auch mit schweren Herzfehlern hat die Mehrzahl der Kinder eine gute Lebensqualität und im Alltag wenige Einschränkungen. Bei vielen ersetzt ein interventioneller Kathetereingriff eine Operation. Durch operative, interventionelle und medikamentöse Behandlungen erreichen etwa 90 % der Kinder mit angeborenen Herzfehlern das Erwachsenenalter. Jährlich werden also über 6.000 Betroffene erwachsen. Deren Lebensqualität richtet sich im Wesentlichen nach der Grunderkrankung. Im Durchschnitt empfinden aber Erwachsene mit Herzfehlern ihre allgemeine Lebensqualität als gut und schätzen sie sogar höher ein als die Durchschnittsbevölkerung.
Mit wenigen Ausnahmen können Patienten mit Herzfehlern normal Sport treiben. Generell gilt: so viel Sport wie möglich. Einschränkungen werden oft aus übergroßer Vorsicht ausgesprochen. Prinzipiell sind dynamische Sportarten wie Laufen, Badminton, Tennis günstiger als statische, wie Geräteturnen, Judo, Klettern oder gar Gewichtheben. Hierauf sollte auch bei der Auswahl der Fitness-Programme geachtet werden.
Kontaktsportarten wie Kampfsport, Handball, Fußball etc. sind bei Patienten unter Antikoagulantien gefährlich.
Fallbeispiel.
Auflösung
Nach dem klinischen Befund hat der Junge einen kleinen Ventrikelseptumdefekt. Da das Herz palpatorisch ruhig ist und die Atmung normal, kann man davon ausgehen, dass der Links-Rechts-Shunt klein ist. Normale Herztöne sprechen für einen normalen Druck im rechten Ventrikel. Somit ist der Defekt nach dem klinischen Befund hämodynamisch unbedeutend. Diese rein klinische Beurteilung hat bereits eine sehr große Sicherheit. Im Farbdoppler-Echokardiogramm stellte sich ein sehr kleiner Defekt im mittleren Bereich des muskulären Ventrikelseptums dar. Der rechte Ventrikel war normal groß und nicht druckbelastet. Solch ein Defekt ist hämodynamisch und daher für das Leben des Kindes unbedeutend, er verschließt sich sehr oft spontan. Kinderkardiologische Kontrollen sind daher in der Regel unnötig. Meist werden sie dennoch empfohlen, wenn das Herzgeräusch weiter besteht, um die Familien zu beruhigen. Eine Endokarditisprophylaxe muss bei diesem Herzfehler nicht empfohlen werden.
6.23.2. Herzrhythmusstörungen
Fallbeispiel.
Die Mutter des sechs Jahre alten Mädchens bittet abends um einen dringenden Hausbesuch, weil ihre Tochter plötzlich ganz unruhig geworden sei und einen schnellen Herzschlag habe. Bei der Untersuchung war das Mädchen ängstlich, blass, die Herzfrequenz betrug ca. 200/min. Ansonsten bestand kein pathologischer Organbefund.
Die Situation hat sich wenige Minuten nach Eintreffen des Arztes und Trinken von kaltem, kohlesäurehaltigem Mineralwasser normalisiert. Das Kind schlief danach ruhig die ganze Nacht.
Fragen zum Fallbeispiel
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•
Wie viel Rhythmusstörung ist normal?
-
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Rhythmusstörungen: Sind sie harmlos oder bedeutungsvoll?
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Sollen Medikamente gegeben werden oder keine?
-
•
Darf das Kind Sport treiben?
Stellenwert in der Grundversorgung
Herzrhythmusstörungen Herzrhythmusstörungen bei Kindern sind häufig – und häufig normal (Tab. 6.45 ). Jedes 10. Kind wird bis zum Erwachsenenalter einmal wegen Störungen des Herzschlages beim Arzt vorgestellt. Am häufigsten sind Tachykardie oder durch die Atmung bedingte Störungen des Sinusrhythmus. Viele Kinder und Jugendliche mit Herzrhythmusstörungen können von ambulant tätigen Allgemeinpädiatern richtig erkannt und eingeordnet werden.
Tab. 6.45.
Herzrhythmusstörungen bei Kindern und Jugendlichen
| Häufigkeit von Herzrhythmusstörungen | |
|---|---|
| Gelegentliche und gutartige Herzrhythmusstörungen | 10 % |
| Extrasystolen | 5–20 % |
| Pausen | 4–8 % |
| Andauernde problematische Herzrhythmusstörungen | 1 % |
| Supraventrikuläre Tachykardien Prävalenz | 2,25/10.000 |
| Supraventrikuläre Tachykardien jährliche Inzidenz | 13/100.000 |
| Erworbene Herzrhythmusstörungen (nach Operationen, Entzündungen) | zunehmend |
| Genetisch bedingt (Long QT, Brugada-Syndrom) | 2/10.000 |
Herzrhythmusstörungen können angeboren oder erworben sein. Ebenso können sie Ausdruck einer Erkrankung sein oder Folge eines operativen Eingriffs am Herzen. Manchmal verschwinden sie ebenso rasch, wie sie aufgetreten sind, manchmal aber bleiben sie und begleiten einen Menschen ein Leben lang.
Die Bedeutung für jeden einzelnen Patienten muss sorgfältig bewertet werden, um sich für die jeweils beste Behandlungsalternative zu entscheiden.
Die normale HerzfrequenzHerzfrequenz ist kein einzelner fester Wert, sondern sie ist je nach Alter in Bereichen anzugeben (Tab. 6.46 ).
Tab. 6.46.
Normale Herzfrequenz
| Altersabhängige Herzfrequenz | |
|---|---|
| Alter | Bereich |
| 0–30 Tage | 90–180 |
| 1–6 Monate | 105–185 |
| 6–12 Monate | 110–170 |
| 1–3 Jahre | 90–150 |
| Kindergartenkinder | 79–140 |
| Schulkinder | 65–135 |
| Jugendliche | 60–120 |
Definition
Fast jeder Teil des Herzgewebes kann einen Herzschlag auslösen und somit als Schrittmacher fungieren. Rhythmusstörungen entstehen durch einen veränderten Rhythmus des Sinusknotens, durch blockierte oder veränderte Reizleitung oder durch eine ektope Schrittmachertätigkeit. Eine Störung liegt dann vor, wenn die Herzschlagfolge selbstständig und meist schlagartig umspringt auf eine – vorübergehend oder anhaltend – zu hohe, zu niedrige oder unregelmäßige Schlagfrequenz, die der gegebenen Situation nicht angemessen ist, weil weder das Herz noch der Kreislauf sie fordern.
Manche Rhythmusstörungen sind benigne und ungefährlich, andere können lebensbedrohlich sein. Die Störungen können nach dem Ort ihrer Entstehung – Vorhöfe oder Kammern – beschrieben werden. Man unterscheidet Störungen mit zu schnellem (tachykardem) oder zu langsamem (bradykardem) oder solche mit regelmäßigem oder unregelmäßigem Herzschlag.
Klinisches Erscheinungsbild
Viele Herzrhythmusstörungen werden zufällig entdeckt, weil die Patienten keine Symptome haben. Der Rhythmus ist zu schnell, zu langsam oder unregelmäßig.
Häufige Vorstellungsanlässe zur Abklärung sind Herzklopfen oder schneller Herzschlag. Verbunden mit Thoraxschmerzen, Synkopen, Schwindel oder Leistungsknick sind diese anamnestischen Angaben alarmierend. Werden anamnestisch Familienangehörige mit Herzrhythmusstörungen oder plötzlichen Todesfällen identifiziert, ist eine baldige Abklärung dringend erforderlich. Rhythmusstörungen bei Kindern nach Herzoperationen oder im Rahmen von Erkrankungen sind immer ernsthaft.
Diagnose und Differenzialdiagnosen
Neben der Anamnese und einer ausführlichen klinischen Untersuchung wird bei Patienten mit Herzrhythmusstörungen in der Regel ein EKG abgeleitet. Eine Überweisung zum Kinderkardiologen erfolgt, wenn die Untersuchung nicht sicher zu Diagnose einer gutartigen Rhythmusstörung führt. Dann sind eine Echokardiografie und ggf. Belastungs- oder Langzeit-EKG notwendig oder eine längerfristige Registrierung des Rhythmus mit einem Event-Recorder.
Asymptomatische Patienten
In der Praxis kann man sich mit großer Sicherheit von der Anamnese und dem Vorstellungsanlass leiten lassen. Bei asymptomatischen Kindern ohne belastende Anamnese ist die Rhythmusstörung wahrscheinlich gutartig. Die häufigsten Diagnosen sind:
-
•
Sinusarrhythmien
-
•
Supraventrikuläre Extrasystolen
-
•
Ventrikuläre Extrasystolen
Sinusarrhythmien
Atemabhängige SinusarrhythmienSinusarrhythmie (Ausatmung langsamer, Einatmung schneller) sind bei Kindern normal und bedürfen keiner weiteren Abklärung. Eine Sinustachykardie ist bei Fieber und emotionalem Stress physiologisch. Körperliche Belastung, Sympathomimetika und Hyperthyreosen erhöhen ebenfalls die Sinusfrequenz.
Merke.
Sinustachykardien sind in Ruhe in der Regel nicht schneller als 150–180/min. Herzfrequenzen darüber müssen weiter abgeklärt werden.
Supraventrikuläre Extrasystolen
Einzelne supraventrikuläe ExtrasystolenExtrasystolen sind bei herzgesunden Kindern normal. Im Zusammenhang mit Zeichen eines Virusinfekts muss man an eine Myokarditis denken.
Ventrikuläre Extrasystolen
Ventrikuläre Extrasystolen sind bei herzgesunden Kindern in Ruhe ebenfalls häufig und unbedeutend. Sie können vereinzelt, aber auch gehäuft in Bigeminus- oder Trigeminusform auftreten. Kriterien für gutartige ventrikuläre Extrasystolen sind:
-
•
Gesundes Herz mit normaler Ventrikelfunktion
-
•
Extrasystolen gleichen Ursprungs (monomorphes Bild)
-
•
Langes Koppelungsintervall (kein R auf T-Phänomen)
-
•
Extrasystolen werden unter Belastung weniger oder verschwinden
-
•
Kein Auftreten in Couplets, Salven oder kurzen Tachykardien
Extrasystolen, die diese Kriterien nicht vollständig erfüllen, müssen weiter abgeklärt werden.
Kinder und Jugendliche mit benignen ventrikulären Extrasystolen können normal Sport treiben.
Vorsicht.
Symptome wie Synkopen, Schwindel oder Leistungsknick sind im Zusammenhang mit Herzrhythmusstörungen Alarmsignale und sprechen gegen eine gutartige Rhythmusstörung.
Symptomatische Patienten
Symptomatische Kinder, Patienten nach Herzoperationen oder interventionellen Eingriffen und solche mit einer belastenden Anamnese haben häufig bedeutungsvolle Rhythmusstörungen. Eine Betreuung durch Kinderkardiologen ist in der Regel nötig.
Häufige Diagnosen sind:
-
•
Supraventrikuläre Tachykardien unterschiedlicher Ursache
-
•
Bradykarde Herzrhythmusstörungen (Blockierungen auf Ebenen des Vorhofes, AV-Knotens und ventrikulären Leitungsbahnen)
-
•
Genetisch bedingte Rhythmusstörungen (Long-QT-Syndrom, Short-QT-Syndrom, Brugada-Syndrom, WPW-Syndrom)
Supraventrikuläre Tachykardien
Die häufigste Diagnose bei symptomatischen Kindern ist eine supraventrikuläre TachykardieTachykardie verschiedener Ursache. Meist handelt es sich um Re-Entry-Tachykardien über zusätzliche Leitungsbahnen, am häufigsten um ein WPW-Syndrom. Die Herzfrequenz ist meist höher als 180/min. Neugeborene und junge Säuglinge entwickeln aufgrund der hohen Herzfrequenz innerhalb kurzer Zeit eine Herzinsuffizienz. Ältere Kinder und Jugendliche sind nicht akut gefährdet. Sie klagen über Herzklopfen und Herzrasen, gelegentlich in Zusammenhang mit emotionalem oder körperlichem Stress, das meist spontan wieder verschwindet. Häufige und anhaltende supraventrikuläre Tachykardien können zu einer Tachykardie-induzierten Kardiomyopathie mit verminderter Ventrikelfunktion führen, insbesondere bei selteneren Tachykardie-Formen mit wenig erhöhter Herzfrequenz, die aus diesem Grunde übersehen werden können.
Manche Formen von supraventrikulären Tachykardien verschwinden im ersten Lebensjahr. Säuglinge und Kleinkinder werden in der Regel medikamentös behandelt. Bei älteren Kindern (über 15 kg KG) und Jugendlichen werden akzessorische Leitungsbahnen durch Hochfrequenz- oder Kryotherapie abladiert.
Reizleitungsblockaden
AV-Überleitung
VieleReizleitungsblockaden Menschen haben eine mit dem Alter zunehmende zeitweilige oder andauernde Überleitungsstörung der Impulse von den Vorhöfen auf die Kammern (AV-Block). In Situationen mit erhöhtem Vagotonus, z. B. im Schlaf oder bei Sportlern, ist ein AV-Block I° oder II° physiologisch.
Bei Autoimmunerkrankungen einer Mutter (z. B. Lupus erythematodes oder Sjögren-Syndrom) kann das Reizleitungssystem des Feten geschädigt werden, wodurch ein AV-Block entsteht. Die Herzinsuffizienz hierdurch ist eine Differenzialdiagnose des Hydrops fetalis. Symptomatische AV-Blockierungen entstehen häufig nach Herzoperationen oder Kathetereingriffen. Sie können auch Folge einer Entzündung, von Medikamenten, einer Koronarerkrankung oder einer Systemerkrankung sein.
Merke.
Bei angeborenem AV-Block muss die Mutter ggf. auf das Vorliegen einer Autoimmunerkrankung untersucht werden.
Patienten mit AV-Block I° und II° sind meistens asymptomatisch. Sie werden regelmäßig kontrolliert, eine Therapie richtet sich gegen behandelbare Ursachen. Bei einem AV-Block II° Mobitz II muss man einen Übergang in einen totalen AV-Block (III°) befürchten.
Patienten mit AV-Block III° werden häufig mit einem Schrittmacher versorgt, um einen plötzlichen Herztod oder eine Herzinsuffizienz zu verhindern.
Intraventrikuläre Leitung
Komplette Blockierungen des rechten oder des linken Tawara-Schenkels sind bei Kindern meist Folge einer Herzoperation. Nach Operation einer Fallot-Tetralogie hat der überwiegende Teil der Patienten einen kompletten Rechtsschenkelblock, nach Verschluss eines VSD sind es 20–50 %. Der linke Tawara-Schenkel wird gelegentlich bei Operationen im Ausflusstrakt des linken Ventrikels geschädigt. Andere Ursachen sind entzündliche oder degenerative Herzerkrankungen, Volumenbelastungen oder Erkrankungen der Koronararterien. Da der links anteriore Tawara-Schenkel und der rechte Tawara-Schenkel gemeinsam aus der linken Koronararterie versorgt werden, ist ein bifaszikulärer Block gemeinsame Folge einer Ischämie in diesem Bereich.
Ein „inkompletter Rechtsschenkelblock“ mit Rsr'-Konfiguration in Ableitung V1 ist insbesondere bei schlanken Kindern und Jugendlichen normal. Bei einer Volumenbelastung des rechten Ventrikels (ASD II, Lungenvenenfehlmündung) ist das QRS-Muster rsR'. Patienten mit AV-Septumdefekten und Trikuspidalatresien haben eine atypische Lage des Reizleitungssystems und deswegen das Bild eines linksanterioren Hemiblocks mit überdrehtem Linkstyp.
Kinder mit isolierten Schenkelblöcken müssen nicht behandelt werden. Bei zunehmender Blockbildung entsteht ein AV-Block III°, und die Patienten werden entsprechend versorgt.
Genetisch bedingte Rhythmusstörungen
Eine große Anzahl von Genen beeinflussen über die Steuerung von Ionenkanälen (Natrium, Kalium, Kalzium) Depolarisation und Repolarisation des Myokards. Störungen der Ionenkanäle können zu lebensbedrohlichen Störungen des Herzrhythmus führen.
Long-QT-Syndrom (LQTS)
Zehn Long QT-Syndrom (LQTS)verschiedene Typen werden nach Genloci betroffenen Ionenkanälen und assoziierten Anomalien unterschieden. Gemeinsam ist ihnen die Verlängerung der frequenzkorrigierten QTc-Zeit über 0,46 Sekunden. Eine QT-Verlängerung ist jedoch manchmal erst unter Belastung nachweisbar. Die Betroffenen sterben häufig als Jugendliche und junge Erwachsene durch ventrikuläre Tachyarrhythmien, die durch körperliche Belastung oder emotionalen Stress ausgelöst werden. Bei einem kleineren Teil ist der Risikofaktor die niedrige nächtliche Herzfrequenz. Wenn Kinder Bewusstseinsstörungen haben oder unklare Krampfanfälle, muss ein LQTS ausgeschlossen werden. LQTS sind häufig Ursache für einen plötzlichen Herztod. Schätzungen in den USA ergeben dort 4.000 Todesfälle jährlich.
Vorsicht.
Eine Belastungsuntersuchung von Patienten mit Verdacht auf QT-Verlängerung darf nur in Reanimations- und Defibrillationsbereitschaft erfolgen.
Die Patienten dürfen keinen Leistungssport treiben und nur unter Aufsicht ins Wasser. Betreuungspersonen müssen in kardiopulmonaler Reanimation geschult werden. Die Verordnung eines automatischen externen Defibrillators, wie er bereits an vielen öffentlichen Plätzen zu finden ist, ist bei diesen Patienten eine sinnvolle Maßnahme, wenn noch keine Indikation für die Implantation eines Defibrillators besteht.
Eine große Anzahl von Medikamenten verlängern die QT-Zeit, ebenso Störungen im Elektrolythaushalt. Auch bei endokrinologischen Erkrankungen, Kardiomyopathien und Myokarditiden kann die QTc-Zeit negativ verändert sein. Daher sollten im Verdachtsfall immer eine Echokardiografie erfolgen und zumindest die Elektrolyte, Schilddrüsenparameter und Troponin bestimmt werden.
Short-QT-Syndrom
Diese StörungShort QT-Syndrom mit einer QTc-Zeit unter 0,33 Sekunden ist sehr selten. Teilweise haben die Patienten schon früh Vorhofflimmern, in der Familienanamnese sind häufig plötzliche Todesfälle.
Brugada-Syndrom
Die Patienten Brugada-Syndromhaben ein pathognomonisches EKG mit atypischem Rechtsschenkelblock und ein erhöhtes Risiko für plötzliche Todesfälle durch ventrikuläre Tachyarrhythmien. Da bei einem Teil der Patienten das native EKG unauffällig ist, sind im Zweifelsfall Provokationstests erforderlich.
Merke.
Bei allen Patienten mit genetisch bedingten Rhythmusstörungen müssen die nahen Verwandten untersucht werden.
Fallbeispiel.
Auflösung
Am nächsten Tag wurde bei dem Kind ein EKG abgeleitet. Dieses zeigte den typischen Befund eines WPW-Syndroms (Abb. 6.90 ). Ein solches war bereits bei mehreren Familienmitgliedern bekannt. Da die Episoden von supraventrikulären Tachykardien über mehrere Jahre sehr selten waren, nach kurzer Zeit spontan sistierten und das Kind nicht belasteten, wurde zunächst keine Behandlung durchgeführt. Die linksventrikuläre Funktion blieb ungestört.
Abb. 6.90.

EKG-Ableitung V2 bei WPW-SyndromWPW-Syndrom Typ A (parasternal positiv), der Pfeil markiert eine „Deltawelle“
[P298]
Im Jugendlichenalter häuften sich die supraventrikulären Tachykardien und die Patientin fühlte sich beeinträchtigt. Nach einer elektrophysiologischen Untersuchung mit anschließender komplikationsloser Katheterablation blieb sie symptomfrei. Das EKG war normalisiert.
6.23.3. Bluthochdruck
Fallbeispiel.
Vater und Großmutter des 16 Jahre alten Leistungssportlers (Mountain running) haben einen erhöhten Blutdruck. Bei der sportärzlichen Untersuchung des sehr muskulösen und etwas übergewichtigen Jugendlichen ist der RR 160/90 mmHg. Abgesehen von einer leichten atopischen Dermatitis ist er körperlich gesund. Er verneint, Drogen oder muskelaufbauende Präparate zu nehmen. EKG und Echokardiogramm sind normal.
Fragen zum Fallbeispiel
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Handelt es sich um einen „Arztpraxishochdruck“ oder eine Hochdruckkrankheit?
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Primäre oder sekundäre Hypertonie?
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Wann ist eine medikamentöse Therapie erforderlich?
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Darf der Jugendliche weiter Leistungssport betreiben?
Definition
Bei Kindern und Jugendlichen liegt ein BluthochdruckBluthochdruck 1° vor, wenn die 94. Perzentile des alters- oder längenbezogenen Normalwertes anhaltend überschritten ist. Bei Werten von 5 mmHg oberhalb der 99. Perzentile besteht ein Bluthochdruck 2°. Liegen die Werte über den Normalwerten von Erwachsenen (130/85 mmHg), besteht immer ein Bluthochdruck. Werte von der 90. bis zur 94. Perzentile werden als hochnormal bezeichnet.
Stellenwert in der Grundversorgung
Nach dieser statistischen Definition haben wenigstens 5 % aller Kinder und Jugendlichen einen Bluthochdruck, der weiter abgeklärt werden muss. Bei Übergewichtigen muss man mit einer wenigstens doppelt so hohen Inzidenz rechnen. Bluthochdruck ist ein wesentlicher Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen. Bereits im Kindes- und Jugendlichenalter kann man bei Hochdruckpatienten eine Verdickung der Arterienwände finden.
Kinder mit unterschiedlichen Grunderkrankungen haben ein erhöhtes Risiko einer Bluthochdruckkrankheit. Dazu gehören Adipositas, Früh- oder Mangelgeburtlichkeit, perinatale Komplikationen, intrakranielle Druckerhöhung, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronische Nierenerkrankungen, endokrinologische Erkrankungen, Z. n. Organtransplantation, Systemerkrankungen (Diabetes mellitus, tuberöse Sklerose, Neurofibromatose, Turner-Syndrom). Blutdruckwirksame Medikamente: Steroide (einschl. Anabolika), NSAID, β-Mimetika, Calcineurin-Inhibitoren, Erythropoetin, zentrale Stimulantien, trizyklische Antidepressiva, Antipsychotika, Abführmittel, Ovulationshemmer, exzessiver Konsum von Glycyrrhizinsäure (Lakritze), Drogenabusus, Schlafapnoe.
Klinisches Erscheinungsbild
Kopfschmerzen, Schwindel, Nasenbluten, Lern- oder Konzentrationsstörungen oder Ohrgeräusche können klinische Zeichen für einen erhöhten Blutdruck sein. Allerdings klagen viele Patienten über keine hinweisenden Symptome.
Diagnose und Differenzialdiagnosen
Regelmäßige standardisierte Blutdruckmessungen sind bei Kindern ab dem Alter von drei Jahren sinnvoll. Erhöhte Werte werden mehrfach kontrolliert, um eine dauerhafte Erhöhung zu dokumentieren. Die Verdachtsdiagnose muss mit einer ambulanten 24-Stunden-Blutdruckmessung verifiziert werden.
Die Basisdiagnostik umfasst eine ausführliche Anamnese, die körperliche und neurologische Untersuchung. Blutbild, Serumelektrolyte, Nieren- und Schilddrüsenparameter, Triglycerin, Cholesterin, LDL-/HDL-Cholesterin und ein Urinstatus müssen untersucht werden.
Niere und ableitende Harnwege werden sonografisch untersucht einschließlich einer Doppler-Untersuchung der extra- und intrarenalen Arterien. In der Abdomensonografie werden Tumore z. B. der Nebenniere ausgeschlossen.
Eine kinderkardiologische Untersuchung soll zum Nachweis von Veränderungen mit Hypertonieassoziation (Aortenisthmusstenose) durchgeführt werden und um Sekundärschäden festzustellen. Ebenso eine augenärztliche Untersuchung des Fundus.
Wenn in der Basisdiagnostik Hinweise auf eine sekundäre Hypertonie bestehen, ist meist eine weiterführende Diagnostik erforderlich. Diese beinhaltet eine detaillierte nephrologische und endokrinologische Abklärung mit Bestimmung der Metanephrine im Plasma, Cortisol im 24-h-Urin, Renin. Eine Schlafapnoe wird polysomnografisch ausgeschlossen.
Beratung und Behandlung
Insbesondere um späteren kardiovaskulären Erkrankungen vorzubeugen und um Schäden an den Endorganen zu verhindern, ist es wichtig, den Blutdruck nach Möglichkeit zu normalisieren.
Bei sekundären Hypertonieformen behandelt man in der Regel zunächst die ursächliche Erkrankung und beobachtet den Effekt auf den Blutdruck.
Vor Beginn einer medikamentösen Behandlung des Bluthochdrucks sollte der Patient seinen Lebensstil ändern. Mehr Bewegung, eine sparsame Verwendung von Kochsalz und der Abbau von Übergewicht sind die wesentlichen Elemente. Sofern keine gravierenden anderen Probleme wie Diabetes, Endorganschäden, ein hohes kardiovaskuläres Risiko oder starke subjektive Symptome bestehen, kann man hierunter den Blutdruckverlauf sechs Monate beobachten. Bleibt der Blutdruck im 24-Stunden-Profil weiter erhöht, erfolgt eine medikamentöse Behandlung. Begonnen wird mit einer Monotherapie, wobei der Effekt der einzelnen Substanzgruppen nicht unterschiedlich ist (Tab. 6.47 ). Ziel ist, den Blutdruck unter die 90. Perzentile zu senken. Bei Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz wird ein Blutdruck < 70. Perzentile angestrebt und eine weitere Absenkung < 50. Perzentile, wenn zusätzlich eine Proteinurie besteht. Kann der Blutdruck mit einer Monotherapie nicht in den angestrebten Bereich abgesenkt werden, ist eine Kombination von zwei oder drei Präparaten mit unterschiedlichem Wirkprinzip möglich und erforderlich. Dies ist insbesondere bei Patienten mit sekundärem renalem Hypertonus gelegentlich der Fall.
Tab. 6.47.
AntihypertensivaAntihypertensiva der ersten Wahl
| Präparat | empfohlene Tagesdosis oral |
|---|---|
| Captopril | 0–12 Monate: 3 × 0,15 mg/kg 12 Monate bis 18 Jahre: 3 × 0,3 mg/kg |
| Enalapril | 6–18 Jahre und 20–49 kg: 1 × 2,5 mg (max. 20 mg) 6–18 Jahre ab 50 kg: 1 × 5 mg (max. 40 mg) |
| Lisinopril | 6–16 Jahre und 20–50 kg: 1 × 2,5 mg (max. 20 mg) 6–16 Jahre ab 50 kg: 1 × 5 mg (max. 40 mg) |
| Losartan | 6–16 Jahre und 20–50 kg: 1 × 0,7 mg/kg (max. 25–50 mg) 6–16 Jahre ab 50 kg: 1 × 50 mg (max. 1,4 mg/kg oder 100 mg) |
| Valsartan | 6–18 Jahre und < 35 kg: 1 × 40 mg (max. 80 mg) 6–18 Jahre und 35–80 kg: 1 × 80 mg (max. 160 mg) |
| Amlodipin | 6–17 Jahre 1 × 2,5 mg (max. 5 mg) |
| Metoprololsuccinat | ab 6 Jahre 1 × 0,95 mg/kg (max. 47,5 mg) |
Für Kinder zugelassene orale Antihypertensiva (nach AWMF-Leitlinie „Arterielle Hypertonie im Kindes- und Jugendalter“)
Bei den seltenen hypertensiven Notfällen ist eine sofortige Behandlung nötig, der Blutdruck soll aber in den ersten 6–8 Stunden um nicht mehr als 25–30 % des Ausgangswertes abgesenkt werden.
Die AWMF-Leitlinie „Arterielle Hypertonie im Kindes- und Jugendalter“ ist als weiterführende Literatur ausdrücklich empfohlen.
Fallbeispiel.
Auflösung
Im 24-Stunden-Profil war der Blutdruck systolisch und diastolisch erhöht (Abb. 6.91 ). Umfangreiche Blutuntersuchungen erbrachten keinen Hinweis auf eine sekundäre Hypertonie bei dem Jugendlichen. Nierenarterienstenosen wurden dopplersonografisch ausgeschlossen. Die Sportmedizin riet zu einer Gewichtsreduktion und zu weiterem Training und Wettkämpfen. Da der Blutdruck sechs Monate später trotzdem erhöht blieb, erhielt der Patient Lisinopril. Darunter sind die Werte stabil im Normalbereich.
Abb. 6.91.

24-Stunden-Blutdruckprofil vor Therapie. 85 % der systolischen und 25 % der diastolischen Werte sind erhöht.
[P298]
Literatur
- AWMF-Leitlinie Nr. 023/040: Arterielle Hypertonie im Kindes- und Jugendalter. www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/023-040.html (letzter Zugriff: 20.1.2017).
- Biancaniello T. Innocent Murmurs. Circulation. 2005;111:e20–e22. doi: 10.1161/01.CIR.0000153388.41229.CB. [DOI] [PubMed] [Google Scholar]
- Haas N.A., Kleideiter U. Thieme; Stuttgart: 2011. Kinderkardiologie, Klinik und Praxis der Herzerkrankungen bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. [Google Scholar]
6.24. „Die Hormone“
6.24.1. Wachstumsstörungen: „zu klein oder zu groß?“
Fallbeispiel.
Die Eltern der gerade eben sechsjährigen Anna machen sich Sorgen wegen der zu geringen Körpergröße. Sie misst 106 cm (ca. 2 cm < 3. Perz.) mit proportioniertem Wuchs (Sitzhöhe 57 cm). Als Neugeborenes aus der 39. SSW hatte sie ein Geburtsgewicht von 3.000 g (ca. 25. Perz.) und einer Körperlänge von 48 cm (ca. 10. Perz.). Bisher ist sie immer gesund gewesen und zeigt keinerlei klinische Auffälligkeiten. Bei der U8 mit vier Jahren war sie 94 cm groß (ca. 1 cm < 3. Perz.), bei der U9 vor einem Jahr 101 cm (ca. 1 cm < 3. Perz.). Ihr siebeneinhalbjähriger Bruder ist 120 cm groß (10.–25. Perz.). Die Körpergrößen der Eltern betragen 154 cm (Mutter) und 168 cm (Vater).
Fragen zum Fallbeispiel
-
•
WelcheWachstumsstörungen Angaben sind für die Ursache des Kleinwuchses maßgeblich?
-
•
Welche Maßnahmen ergeben sich aus der Auffälligkeit?
Stellenwert in der Grundversorgung
Fragen Endokrinologiezu Wachstumsproblemen gehören zu den weniger häufigen, aber regelmäßigen Vorstellungsanlässen in der grundversorgenden pädiatrischen Praxis. Oft verbergen sich hinter den konkreten Fragen der Eltern auch grundsätzliche Sorgen hinsichtlich einer normalen Entwicklung des Kindes, auf die in der Praxis auf der Grundlage einer rationalen Diagnostik adäquat eingegangen werden muss.
Das auxologische Kapitel (Kap. 3.1) im vorliegenden Handbuch widmet sich grundsätzlichen Fragen des Wachstums und seiner Abweichungen. Außerdem liefert der Autor (M. Hermanussen) dort ein modernes Instrumentarium zur präzisen Beurteilung von Wachstumsverläufen.
Im vorliegenden Text wird auf die notwendigen differenzialdiagnostischen und – wo möglich – therapeutischen Überlegungen bei auffälligem Wachstumsverlauf eingegangen.
Definition
Alle Kinder, deren Körperhöhe oder -länge unterhalb des 3. Perzentils ihres Geschlechts- und Alterskollektivs liegt, sind kleinwüchsig, oberhalb des 97. Perzentils hochwüchsig. Dieses statistische Kriterium erfüllen bei Benutzung aktueller Referenzdaten jeweils 3 % aller deutschen Kinder. Kleinwuchs kann (wie Großwuchs) bei Geburt vorliegen oder entsteht später durch zu langsames (schnelles) oder zu früh (spät) endendes Wachstum.
Der Wachstumsverlauf ist dabei oft ondulierend um eine (virtuelle) Perzentilenkurve und praktisch nie streng auf immer der gleichen Perzentile.
Klinisches Erscheinungsbild
Den meisten wachstumsauffälligen Kindern und Jugendlichen liegen Varianten ohne Krankheitswert zugrunde. Die klassischen beiden Normvarianten sind der familiäre Klein- oder auch Hochwuchs sowie die konstitutionelle Entwicklungsverzögerung.
Kinder mit familiärem Kleinwuchs wachsen Kleinwuchspermanent unterhalb der 3. Perzentile, aber perzentilenparallel (normale Wachstumsgeschwindigkeit) innerhalb ihres Zielgrößenbereichs. Analog gilt das auf den oberen Perzentilenrängen für den familiären Hochwuchs.
Die konstitutionelle Entwicklungsverzögerung Entwicklungsverzögerung, konstitutionelle (KEV) zeichnet sich durch eine sehr niedrige Wachstumsgeschwindigkeit im Kleinkindesalter aus. Der in der ersten Dekade und darüber hinaus zu beobachtende Körpergrößenrückstand wird jedoch mit Verspätung durch ein längeres Wachstum vor dem Hintergrund von verzögerter Skelettreifung und Pubertät (retardiertes Knochenalter!) wieder in den elterlichen Zielgrößenbereich aufgeholt.
Anamnestische Hinweise auf einen späten Pubertätseintritt von Vater und Mutter müssen erfragt werden und sind oft hilfreich.
Echte Wachstumsstörungen unterscheiden sich quantitativ (zu groß oder zu klein bzw. zu früh oder zu spät für das Alter) oder qualitativ (Proportionen) vom normalen Verlauf.
Wachstumsstörungen gibt es nicht selten auch ohne eine endokrine Ursache.
Entsprechend der Vielfalt wachstumsbeeinträchtigender Syndrome oder chronischer Krankheiten müssen bei der Abklärung von Kleinwuchs zahlreiche klinische Auffälligkeiten mitberücksichtigt werden. Die wichtigsten Differenzialdiagnosen sind in Kap. 3.1 aufgeführt.
Mit einfachen Mitteln kann z. B. bei den häufigen Kleinwuchs- und Reifeabklärungen in der Praxis eine rationale Differenzialdiagnostik (siehe unten) geführt werden.
Zu den Schlüssel-Instrumentarien gehören:
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•
Spezifische anamnestische Daten
-
•
Klinische Auffälligkeiten
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•
Die Wachstums- und Wachstumsgeschwindigkeitskurve des Kindes (Kap. 3.1)
-
•
Der aktuelle Stand der pubertären Reifezeichen nach Tanner (siehe Anhang)
-
•
Die Elterngrößen (und die daraus abzuleitende Elternzielgröße, Kap. 3.1).
Die Bestimmung des Knochenalters (nach den Tabellen von Bayley und Pinneau) als Indikator für das biologische (vs. kalendarische) Alter ergänzt zusammen mit Laborparametern (siehe unten) die Abklärung.
Diagnosen und Differenzialdiagnosen
Wachstum (endokrine und nichtendokrine Ursachen)
Ausgangspunkt ist immer ein auffälliges Wachstum/Wachstumsgeschwindigkeit. Endokrine Auslöser stellen dabei nur einen Teil der Ursachen dar. Deshalb sind immer auch die nichtendokrinen Wachstumsstörungen mit zu betrachten.
Grundsätzlich unterscheidet man primäre und sekundäre Kleinwuchsformen.
-
•
Primärer Kleinwuchs: von Geburt an vorhanden, genetisch oder prä-/perinatal verursacht
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•
Sekundärer Kleinwuchs im Laufe der Entwicklung entstanden („Perzentilenknick“)
Die Unterscheidung zwischen einem proportionierten und disproportionierten Kleinwuchs ist differenzialdiagnostisch ebenfalls wichtig. Im zweiten Fall ist i. d. R. das Extremitätenwachstum gegenüber dem Körperstammwachstum stärker beeinträchtigt und oft ein Hinweis auf eine Skelettdysplasie oder metabolische Wachstumsstörungen. Die Sitzhöhe (siehe Anhang) gibt hier entscheidende Hinweise.
Steht bei der Wachstumsstörung eine mangelhafte Gewichtszunahme im Vordergrund (Gedeihstörung), muss differenzialdiagnostisch an ein deutlich breiteres Krankheitsspektrum (viele chronische Grunderkrankungen) gedacht werden (Kap. 5.8 und Kap. 6.14 Gedeihstörungen).
Auch beim Hochwuchs gibt es Formen, die von Geburt an vorhanden sind (selten, z. B. Sotos-Syndrom oder familiäre Hochwuchsformen), und andererseits sekundäre Krankheitsbilder (z. B. wachstumshormonproduzierende Tumoren oder Funktionsstörungen der Nebennierenrinde), bei denen es erst später zu einer Beschleunigung des Wachstums kommt. Die wichtigsten Differenzialdiagnosen sind ebenfalls in Kap. 3.1 aufgeführt.
Basislabor (Wachstumsstörung)
-
•
bei V. a. Hormonstörung: IGF-1, IGF-BP3, TSH, fT4, fT3,
-
•
bei V. a. nichtendokrine Störungsbilder: Kreatinin, Ferritin, Eisen, Blutbild, Gewebe-Transglutaminase-Antikörper, IgA
Erweitertes Labor
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•
Cortisol, 17α-OH-Progesteron, Prolaktin, Kalzium, Phosphat, alk. Phosphatase, Parathormon, Vitamin-D-Metabolite (25-Hydroxyvitamin D, 1,25 [OH]2-Vitamin D), Elektrolyte
-
•
Bei Dysmorphiebildern und ungeklärtem Kleinwuchs: ggf. molekulargenetische Untersuchungen
Knochenalterbestimmung
Merke.
Bei einem unerklärten Kleinwuchs sollte immer auch eine genetische Abklärung erwogen werden!
Verstärkte Hinweise auf eine genetische Ursache ergeben sich insbesondere bei:
-
•
Intrauterinem Kleinwuchs mit postnatal deutlich anhaltender Wachstumsstörung
-
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Disproportioniertem Kleinwuchs („Sitzriesen“ bei relativ verkürztem Extremitätenwachstum)
-
•
Zusätzlichen syndromalen Auffälligkeiten, insbesondere fazialen Dysmorphien
-
•
Begleitenden Entwicklungsstörungen (Sprache, Motorik, Verhalten, Kognition)
-
•
Auffälligem Stammbaum mit weiteren kleinwüchsigen Verwandten
-
•
Begleitender sonst nicht erklärbarer Gedeihstörung oder massiver Adipositasentwicklung
Die wichtige erweiterte hormonelle Differenzialdiagnostik ist die Domäne der spezialisierten Kinderendokrinologie und beinhaltet z. B. Stimulations- und Funktionstests zur Wachstumshormonausschüttung.
Beratung und Behandlung
Behandlungsmöglichkeiten bei Klein- und Hochwuchs erfordern spezialisierte endokrinologische Erfahrung. Die Substitutionstherapie bei Wachstumshormonmangel wird deshalb in aller Regel in Kooperation mit dem pädiatrischen Spezialisten durchgeführt.
Wichtig zu wissen ist, dass kleinwüchsige Patienten mit folgenden Diagnosen von einer WachstumshormontherapieWachstumshormontherapie profitieren:
-
•
Wachstumshormonmangel
-
•
Chronische Niereninsuffizienz
-
•
Ullrich-Turner-Syndrom
-
•
Prader-Willi-Syndrom
-
•
Mangelgeborene unter definierten Voraussetzungen ab vier Jahren
-
–Geburtslänge und/oder -gewicht < –2 SD
-
–Chron. Alter > 4 Jahre
-
–Körperhöhen-SDS < –2,5
-
–Wachstumsgeschwindigkeit-SDS < 0 (kein Aufholwachstum)
-
–Aktueller Körperhöhen-SDS > 1,0 unterhalb des elterlichen Zielhöhen-SDS (Ausschluss familiärer Kleinwuchs)
-
–
Ebenfalls in den Aufgabenbereich des pädiatrischen Endokrinologen gehört die hormonelle Wachstumsbremsung bei extremen Hochwuchsformen.
Fallbeispiel.
Auflösung
-
•
Diagnose: familiärer Kleinwuchs
-
•
Zielführende anamnestische Angaben:
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–Aktuelle Körpergröße 106 cm (ca. 2 cm < 3. Perz. bzw. –2,3 SDS unter der durchschnittlichen Mädchengröße mit 6 J.)
-
–Gleichbleibendes Wachstum (6 cm/anno = 25. P.) ohne signifikanten Arrest
-
–Vereinfachte geschlechtskorrigierte mittlere Elterngröße (nach Tanner):154,5 cm = 3.–10. Perz.
-
–
-
•
Berechnung der Zielgröße nach korrigierter Tanner-Methode (Kap. 3.1):
-
–Weibliches Populationsmittel (168,2 cm) minus Zielgröße nach Tanner (154,5 cm) = –13,7 cm
-
–Wert multipliziert mit Faktor 0,72 = –9,9 cm (Rechenweg Kap. 3.1)
-
–
→ Anna bleibt 9,9 cm kleiner als das Bevölkerungsmittel mit einer Zielhöhe von 158,3 cm = –1,55 SDS
-
•
Berechnung der Zielgröße nach der SDS-Methode (Kap. 3.1):
-
–Elterliche SDS-Abweichung von der mittleren Erwachsenengröße: Vater: –1,87 SDS, Mutter: –2,22 SDS
-
–Zielgrößen-SDS = 0,72 × (–1,87–2,22) / 2 = –1,47 SDS = –9,4 cm
-
–
→ Als Zielgröße für Anna ergibt sich danach 168,2 cm – 9,4 cm = 158,8 cm = –1,47 SDS
-
•
Zielführende klinische Untersuchung: keine Dysmorphiezeichen, keine Dysproportionen
-
•
Mögliche ergänzende Diagnostik: Knochenalterbestimmung
-
•
Nicht erforderlich: Laboruntersuchungen
6.24.2. Früh- und Spätentwickler
Fallbeispiel.
Der Mutter der dreijährigen Emilia fällt auf, dass das Mädchen eine deutlich sichtbare Brustentwicklung zeigt. Schambehaarung hat sie aber nicht. Mit einer Körpergröße von 95 cm fällt sie unter den anderen Dreijährigen nicht auf. Mit zwei Jahren hat sie 86 cm, mit einem Jahr 75 cm gemessen. Emilias Mutter ist 173 cm groß. Der getrennt lebende Vater sei etwa 10 cm größer.
Fragen zum Fallbeispiel
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Welche Angaben sind für die Ursachenfindung der Auffälligkeit maßgeblich?
-
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Welche sinnvollen diagnostischen Maßnahmen ergeben sich aus der Auffälligkeit?
Stellenwert in der Grundversorgung
Fragen Pubertäthormonelle Störungenzu hormonellen Störungen der pubertären Reifung gehören wie WachstumsproblemePubertätsentwicklung zu den weniger häufigen, aber regelmäßigen Vorstellungsanlässen in der grundversorgenden pädiatrischen Praxis. Beispielsweise kann ein verzögerter Pubertätsbeginn (Pubertas tarda) Ausdruck einer Grunderkrankung sein (z. B. Klinefelter-Syndrom), aber wesentlich häufiger eine Normvariante ohne Therapiebedürftigkeit (z. B. konstitutionelle Entwicklungsverzögerung).
Im vorliegenden Text wird auf die notwendigen differenzialdiagnostischen und – wo möglich – therapeutischen Überlegungen bei auffälliger Reifeentwicklung eingegangen.
Definition
Die Normwerte der pubertären Reifung bei Mädchen und Jungen und Grenzdefinitionen für einen vorzeitigen bzw. verspäteten Eintritt der Pubertät (Pubertas praecox bzw. Pubertas tarda) sind in Tab. 6.48 dargestellt.
Tab. 6.48.
Normwerte der pubertären Reifung
| Mädchen |
Jungen |
|||
|---|---|---|---|---|
| Alter/Jahre | Alter/Jahre | |||
| Pubarche/Thelarche∗∗ | < 8 | Pubertas praecox | < 9 | Pubarche (PH 2) Hodenvolumen > 3 ml |
| Pubarche/Thelarche Menarche |
> 13,5 > 15 |
Pubertas tarda | > 14 | Pubarche (PH 2) Hodenvolumen > 3 ml |
Komplette vorzeitige Reifungsprozesse sind anders zu bewerten als isolierte (z. B. prämature Thelarche).
Klinisches Erscheinungsbild
Den echten pubertären Störungsbildern ist gemeinsam, dass sich die Entwicklungsprozesse quantitativ (zu früh oder zu spät für das Alter) oder qualitativ (Proportionen, gestörte Geschlechtsdifferenzierung mit ambiguären Genitalbefund bei weiblichem, männlichem, dysgenetischem oder echtem Hermaphroditismus) vom normalen Verlauf unterscheiden.
Exkurs.
Bei einem männlichen Neugeborenen mit einem MikropenisMikropenis (< 2,5 cm stretched penile length Tab. 6.49 ) sollte nach der Geburt der Blutzucker kontrolliert werden. Sein auffälliger Befund kann von einer Hypophyseninsuffizienz mit Wachstumshormonmangel herrühren und mit einer Hypoglykämie einhergehen.
Tab. 6.49.
Untere Grenzwerte der gestreckten PenislängePenislänge (SPL) im Kindesalter∗ (Mittelwert –2 SD)
| Alter | SPL (x–2 SD) |
|---|---|
| 0–6 Monate | 2,3 cm |
| 7–12 Monate | 2,8 cm |
| 1–3 Jahre | 3,2 cm |
| 3–5 Jahre | 3,5 cm |
| 5–8 Jahre | 4,0 cm |
| 8–11 Jahre | 4,3 cm |
modifiziert nach Daten von Feldman KW, Smith DW. Journal of Pediatrics. 1975; 86: 395.
Diagnosen und Differenzialdiagnosen
Mit einfachen Mitteln kann bei Reifeabklärungen in der Praxis eine rationale Differenzialdiagnostik geführt werden. Zu den Schlüssel-Instrumentarien gehören spezifische anamnestische Daten und klinische Auffälligkeiten, die Wachstums- und Wachstumsgeschwindigkeitskurve des Kindes (siehe Anhang) und der aktuelle Stand der pubertären Reifezeichen nach Tanner (siehe Anhang).
Die Bestimmung des Knochenalters (nach den Tabellen von Bayley und Pinneau) als Indikator für das biologische (vs. kalendarische) Alter ergänzen zusammen mit Laborparametern die Abklärung.
Bei verfrühten bzw. verspäteten Pubertätszeichen spielt neben der klinischen Einordnung (Tanner-Stadien, Wachstumsdaten) das Labor die wesentliche Rolle. Eine Ultraschalldiagnostik kann ergänzende Informationen liefern.
Gestörte Pubertätsentwicklung
-
•
Basislabor:
-
–LH, FSH, Prolaktin, E2, Testosteron, DHEAS, 17α-OH-Progesteron, Elektrolyte
-
–Ggf. Chromosomenbestimmung (Turner-Syndrom, Klinefelter-Syndrom)
-
–
-
•
Sonografische Beurteilung peripherer Drüsenorgane (Nebenniere, Hoden, Ovar, Uterus): Volumen, Zysten, Tumor
Die wichtige erweiterte hormonelle Differenzialdiagnostik ist die Domäne der spezialisierten Kinderendokrinologie und beinhaltet z. B. Funktionstests zur LH/FSH-Ausschüttung, die Klärung einer peripheren oder zentralen Pubertas praecox oder die Indikation zum MRT des Schädels.
Beratung und Behandlung
Behandlungsmöglichkeiten bei vorzeitiger oder verzögerter Pubertät erfordern spezialisierte endokrinologische Erfahrung.
-
•
Die Hormonbehandlung der pubertären Reifestörung (GnRH-Agonist oder Sexualhormone) wird deshalb in aller Regel in Kooperation mit dem pädiatrischen Spezialisten durchgeführt.
-
•
Dasselbe gilt für die Erscheinungsformen des adrenogenitalen Syndroms (Regeldosierung bei AGS [21-Hydroxylase-Defekt]: 10-15-20 mg/m2 Hydrocortison [in 3 Dosen] und ggf. Fludrocortison [25–50 µg/d] bei Salzverlust).
-
•
Ein hochsensibles Thema ist die Entscheidung über geschlechtsdeterminierende Operationen oder andere Maßnahmen bei Kindern mit einem ambiguären Genitale bzw. einer varianten Geschlechtsentwicklung („Disorders of sex development“). Eine Genitaloperation ohne Einverständnis des Kindes ist eine schwerwiegende Entscheidung mit unabsehbaren Folgen. Deshalb sollte abgesehen von wenigen medizinisch begründeten Ausnahmefällen für eine solche Entscheidung die Einwilligung des einsichts- und urteilsfähigen intersexuellen Kindes abgewartet werden (i. d. R. bis zum 14., unter besonderen Umständen bis zum 12. Lebensjahr).
Fallbeispiel.
Auflösung
-
•
Diagnose: Prämature Thelarche
-
•
Zielführende anamnestische Angaben: isolierte Brustentwicklung ohne Wachstumsschub
-
•
Zielführende klinische Untersuchung: keine ubiquitären Pubertätszeichen
-
•
Sinnvolle ergänzende Diagnostik: Sonografie der Ovarien und des Uterus (präpubertär)
-
•
Entbehrliche Diagnostik: Laboruntersuchungen
-
•
Konsequenzen: keine Therapie, Beobachtung der Entwicklung
6.24.3. Schilddrüsenerkrankungen: „Kann es die Schilddrüse sein?“
Fallbeispiel.
Die Schilddrüsenerkrankungdreizehn Jahre alte Britta kommt zur J1-Vorsorge. Ihr geht es gut. Sie berichtet weder von gesundheitlichen Problemen noch von Schulleistungsdefiziten. Kurz vor der Untersuchung teilt Brittas Mutter der Kinder- und Jugendärztin unter vier Augen mit, dass sich ihre Tochter bei ihr über einen dicker gewordenen Hals beklagt habe. Palpatorisch ergibt sich der Verdacht auf eine vergrößerte Schilddrüse.
Fragen zum Fallbeispiel
-
•
Was ist die vordringlichste diagnostische Maßnahme?
-
•
Welche differenzialdiagnostischen Überlegungen sind anzustellen?
Stellenwert in der Grundversorgung
Schilddrüsenerkrankungen zählen ebenfalls zu den häufigeren endokrinen Störungsbildern. Die Inzidenz für die konnatale (angeborene) Hypothyreose beträgt 1 Erkrankung pro 3.500 Neugeborene pro Jahr (entsprechend ca. 200 Neuerkrankungen pro Jahr).
Die Diagnose einer Hashimoto-Thyreoiditis wird seit 20–25 Jahren zunehmend häufiger gestellt. Die Prävalenz im Kindes- und Jugendalter für diese T-Zell-abhängige Autoimmunerkrankung der Schilddrüse liegt bei ca. 1–5 %. Mädchen sind etwa 5-mal so häufig betroffen wie Jungen. Manifeste Hypothyreosen entwickeln sich in etwa 10 %.
Kinder mit Trisomie 21 oder Turner-Syndrom sind von Schilddrüsenerkrankungen deutlich häufiger betroffen.
-
•
Kinder mit einer Trisomie 21 haben eine Prävalenz von knapp 2 % einer manifesten und von 25 % einer latenten Hypothyreose (TSH > 10 µg/dl bei normalen T4-Werten). Die Inzidenz der konnatalen Hypothyreose ist bei diesen Kindern 250-mal höher als in der Allgemeinbevölkerung, die einer Autoimmunthyreoiditis auf das 10-Fache erhöht.
-
•
Mädchen mit Turner-Syndrom zeigen in 15–20 % eine Hypothyreose, die Inzidenz der Hashimoto-Thyreoiditis ist um das 10- bis 20-Fache erhöht.
Die Inzidenz im Kindes- und Jugendalter für die viel seltenere Hyperthyreose bei M. Basedow liegt bei 1 Erkrankung pro 100.000 Einwohner pro Jahr.
Als Struma wird eine Schilddrüsenvergrößerung bezeichnet. Die vor Jahrzehnten häufigste durch einen Jodmangel verursachte Form einer Struma (Jodmangelkropf) ist heute eine Rarität geworden. Strumen auf dem Boden einer Autoimmunerkrankung der Schilddrüsen haben ihr den Rang abgelaufen.
Schilddrüsenknoten sind bei jungen Kindern sehr selten und lassen sich erst bei 10- bis 18-Jährigen mit einer Prävalenz von 0,6 % nachweisen. An eine Malignität mit der Notwendigkeit einer speziellen Diagnostik ist insbesondere bei Knoten > 1 cm Durchmesser zu denken.
Definition
SchilddrüsenfunktionsstörungenSchilddrüsenfunktionsstörung können angeboren oder erworben sein. Die Schilddrüse kann in ihrer Funktion, d. h. der Ausschüttung von Schilddrüsenhormon, eu-, hyper- oder hypothyreot sein.
Das Schilddrüsenvolumen ist unauffällig (normal), vergrößert oder verkleinert. Von einer Struma spricht man, wenn das Schilddrüsenvolumen oberhalb des Normbereichs liegt, der sich alters-, geschlechts- und regionenspezifisch unterscheidet. Bislang hat sich noch keine einheitliche Normierung durchsetzen können.
Normalerweise besteht eine regelrechte anatomische Lage der Schilddrüse (normotop), selten liegt sie irregulär (ektop), z. B. bei der Zungengrundstruma. Schilddrüsenknoten sind oft ein Zufallsbefund bei Jugendlichen.
Klinisches Erscheinungsbild
Kinder und Jugendliche mit einer Schilddrüsenfunktionsstörung stellen sich insbesondere mit folgenden Auffälligkeiten vor:
| Minus-Symptomatik (Unterfunktion) | Plus-Symptomatik (Überfunktion) |
|
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Im Säuglingsalter: Obstipation, teigige Haut, verzögertes Wachstum, verzögerte kognitive Entwicklung |
Diagnosen und Differenzialdiagnosen
Angeborene Hypothyreosen sind die Domäne des Neugeborenen-Screenings. Ihm fällt die wichtige Aufgabe der präsymptomatischen Krankheitserkennung und rechtzeitigen Substitutionstherapie zu.
Eine vergrößerte Schilddrüse (Struma) ist optisch oder palpatorisch nicht immer gut zu erkennen. Die Schilddrüsensonografie ist heute die volumetrische Standarddiagnostik.
Kinder und Jugendliche mit einer erworbenen Schilddrüsenfunktionsstörung zeigen klinisch ein Spektrum von diskreten bis hin zu hochauffälligen Symptomen, die den Arzt unterschiedlich deutlich auf die vorhandene Thematik hinweisen.
Basislabor:
TSH, fT4, fT3, SD-Antikörper (TPO, TAK, TRAK), Kalzitonin, Thyreoglobulin (bei V. a. Schilddrüsenfunktionsstörung bzw. zum Monitoring nach Thyreodektomie infolge Ca.)
Sonografische Beurteilung:
-
•
Volumen (Struma) Tab. 6.50
-
•
Binnentextur bei Autoimmunthyreoiditis
-
•
Knoten, Zysten etc.
Tab. 6.50.
Anhalt für obere Grenzwerte für SD-Volumen im UltraschallSchilddrüsenerkrankungSD-Volumen
| Alter (in Jahren) | Summe beider SD-Lappen∗ |
|---|---|
| bis 2 | 2 ml |
| 2–4 | 4 ml |
| 5–6 | 6 ml |
| 7–10 | 7 ml |
| 10–12 | 9 ml |
| 13–14 | 12 ml |
| 15–16 | 16 ml |
| > 16 | 20 ml |
eigene Daten und KIGGS-Daten (2007)
Diagnose-Synopsis der wichtigsten Schilddrüsenerkrankungen
Tab. 6.51.
Synopsis der Befunde bei verschiedenen Schilddrüsenfunktionsstörungen
| Verdacht auf | TSH | fT4 (fT3) | SD-Antikörper | Kalzitonin | Sonografie | Weiterführende Diagnostik und Therapie |
|---|---|---|---|---|---|---|
| Konnatale Hypothyreose | ↑ | ↓ bis ↑ | nl | nl | Struma oder Athyreose oder SD-Ektopie |
T4 In Absprache mit Kinderendokrinologie |
| Jodmangelstruma | > > 3 µg/dl | nl | nl | nl | Struma | Jodid T4 bei TSH > 10 µg/dl |
| Oft bei Adipositas | 4–10 µg/dl | nl | nl | nl | nl | Nur Kontrollen (6–12 Mon.) |
| Hashimoto-Thyreoiditis | ↑ | ↓ bis ↑ | TPO ⊕ TAK ⊕ |
nl | Oft Struma Texturunruhe |
Kein Jodid T4 bei TSH > 10 µg/dl |
| Morbus Basedow | ↓ | ↑ | TRAK ⊕ | nl | Oft Struma Texturunruhe |
In Absprache mit Kinderendokrinologie |
| Autonomes Adenom | ↓ | ↑ | nl | nl | Knoten | In Absprache mit Kinderendokrinologie |
| Medulläres SD-Ca | nl | nl | nl | ↑ | Knoten | In Absprache mit Kinderendokrinologie |
| Papilläres SD-Ca | nl | nl | nl | nl | Knoten | In Absprache mit Kinderendokrinologie |
Beratung und Behandlung
Die Substitutionstherapie mit Schilddrüsenhormonen Schilddrüsenhormonekann bei einfachen unkomplizierten Hypothyreosen vom grundversorgenden Kinder- und Jugendarzt übernommen werden (Tab. 6.51). Das gilt auch für die Schilddrüsenunterfunktion im Rahmen einer Hashimoto-Thyreoiditis. Etwa 10 % aller Hashimoto-Thyreoiditiden entwickeln eine Hypothyreose, die große Mehrzahl bedarf keiner Behandlung, muss aber wegen der Gefahr der Entwicklung einer therapiebedürftigen Hypothyreose regelmäßig kontrolliert werden. Besteht eine Euthyreose über viele Jahre, ist kaum mehr mit einer drohenden Unterfunktion zu rechnen.
Die Behandlung der Hypothyreose erfolgt mit L-Thyroxin. Der TSH-Wert sollte unter der Therapie idealerweise in den Normbereich und der fT4-Wert in die obere Normwerthälfte reguliert werden. Regelmäßige Laborkontrollen sind unerlässlich, ebenso die Ultraschalldarstellung der Schilddrüse (Volumenverlauf, Knotenbildungen).
Eminent wichtig in Bezug auf irreparable Folgeschäden vor allem der kognitiven Entwicklung ist die Compliance bei der Behandlung einer angeborenen Hypothyreose. Engmaschige Kontrollen sind im ersten und zweiten Lebensjahr hier unumgänglich, in den ersten Lebenswochen ein- bis zweiwöchentlich, später zwei- bis dreimonatlich.
Die vor 20–30 Jahren häufige Jodmangelstruma ist heutzutage eine Seltenheit geworden (Grund: deutlich verbessertes alimentäres Jodidangebot in vielen Nahrungsmitteln).
Bis zu einem Blut-TSH-Spiegel von (5–)10 µg/dl sollte mit täglich 100 µg (< 10 J.) – 200 µg (> 10 J.) Jodid, bei höheren TSH-Spiegeln mit L-Thyroxin behandelt werden (Tab. 6.52 ). Zu beachten ist, dass L-Thyroxin 30–60 Minuten vor dem Frühstück eingenommen werden soll.
Tab. 6.52.
Orientierende Dosierungsempfehlungen (nach Alter)
| Alter | L-Thyroxin-Dosis pro kg KG/d |
L-Thyroxin-Dosis pro Tag |
|---|---|---|
| Neugeborene | 10–15 µg | (25–)50 µg |
| 1–6 Monate | 7–10 µg | 37,5–75 µg |
| 7–24 Monate | 6–8 µg | 50–75 µg |
| 2–5 Jahre | 5–6 µg | 50–100 µg |
| 6–12 Jahre | 3–5 µg | 50–125 µg |
| > 12 Jahre | 2–4 µg | 75–175 µg |
Die Therapie einer komplizierten Autoimmunthyreoiditis (hyperthyreoter Verlauf einer Hashimoto-Thyreoiditis oder ein Morbus Basedow) sollten in Kooperation mit dem kinderendokrinologischen Spezialisten durchgeführt werden.
Exkurs.
Von erheblicher praktischer Relevanz ist die Frage nach der Schilddrüsendiagnostik bei Neugeborenen, deren Mutter unter einer Autoimmunthyreoiditis leidet. Auf einen kurzen Nenner gebracht ist dann eine engmaschige Hormondiagnostik (TSH und fT4) beim Neugeborenen nötig, wenn sich bei der Mutter erhöhte thyreoidale Rezeptorantikörper (TRAK) nachweisen lassen, die beim Neugeborenen zu einer Hyperthyreose führen können.
Fallbeispiel.
Auflösung
-
•
Diagnose: Hashimoto-Thyreoiditis
-
•
Zielführende anamnestische Angaben: Halsumfang (Alter)
-
•
Zielführende klinische Untersuchung: Sonografie (bei AI-Thyreoiditis: Struma mit wolkiger Binnentextur)
-
•
Sinnvolle ergänzende Diagnostik: basale Laboruntersuchungen: TSH, fT4, (fT3), TPO, TAK, TRAK, Blutzucker, ggf. augenärztliche Untersuchung (bei V. a. M. Basedow)
-
•
Behandlungseinleitung und -kontrolle: je nach Schilddrüsenfunktion (Behandlung mit L-Thyroxin bei Hypothyreose), ansonsten (3- bis) 6-monatliche Kontrollen von TSH, fT4 und sonografisch ermitteltem Schilddrüsenvolumen
6.24.4. „Viel Durst und Bauchschmerzen – zuckerkrank?“
Fallbeispiel.
Der achtjährige Carlo ist schon seit mehreren Tagen krank und hat in den letzten Tagen vier Kilogramm an Gewicht abgenommen. Er hat andauernd Durst und klagt über Bauchweh. Zuvor war er immer gesund gewesen. In der Familie sind keine ähnlichen Störungsbilder bekannt.
Fragen zum Fallbeispiel
-
•
Welche Diagnostik ist unmittelbar geboten?
-
•
Welche Konsequenzen ergeben sich nach Bestätigung der Diagnose?
Stellenwert in der Grundversorgung
Die Diabetesmanifestation Diabetes mellitusist ein nicht ganz seltenes Ereignis in den Praxen. Jedes Jahr erkranken immerhin mindestens 2.000 Kinder unter 15 Jahren in Deutschland an einem Diabetes mellitus Typ 1. Der Typ-1-Diabetes ist damit die häufigste endokrine Erkrankung, die im Kindes- und Jugendalter „ausbricht“. So sind laut Schätzungen in Deutschland ca. 30.000 Kinder und Jugendliche (bis zu 18 Jahren) betroffen (insgesamt leiden etwa 300.000 Menschen in Deutschland daran).
Die Prävalenz des Diabetes mellitus Typ 2 bei Jugendlichen nimmt in den letzten Jahren auch in Deutschland zu und korreliert mit der gleichsinnigen Zunahme der Adipositas. Man geht derzeit von einer Inzidenz von jährlich ca. zehn neu entdeckten Typ-2-Diabetikern unter 18 Jahren aus. Es besteht eine hohe Dunkelziffer.
Manifest wird die schleichende Erkrankung typischerweise bei extrem adipösen Jugendlichen in der Pubertät. Bedeutsam, aber oft nicht genügend beachtet, ist die Erkennung und Behandlung der Komorbiditäten (Adipositas, arterielle Hypertonie, Hyperlipidämien etc.).
Eine Reihe problematischer makro- sowie mikrovaskulärer Erkrankungen (v. a. Hirn- und Herzinfarkt, Retino-, Nephro- und Neuropathien) stellen die späten chronischen Folgen der metabolischen Veränderungen des Diabetes dar.
Definition
Der Typ-1-Diabetes ist eine Autoimmunerkrankung, die auf dem Boden einer Zerstörung der Beta-Zellen in der Langerhans-Inseln des Pankreas zu einem absoluten Insulinmangel und einer Hyperglykämie führt. Sie macht in Europa über 90 % der Diabetesfälle im jungen Lebensalter (unter 25 Jahren) aus.
Der Typ-2-Diabetes stellt demgegenüber einen heterogenen und multifaktoriellen komplexen Krankheitsprozess dar, an dessen Ende regelmäßig eine gestörte Glukosetoleranz und Insulinresistenz steht. Eine entscheidende Rolle spielt die Kombination aus genetischer Veranlagung, Übergewicht bzw. Adipositas und Bewegungsarmut.
Klinisches Erscheinungsbild
Klassischerweise wird der betroffene Typ-1-Diabetes-Patient zunächst in der Praxis häufig mit den typischen akuten Krankheitszeichen vorgestellt:
-
•
Rasche Gewichtsabnahme
-
•
Polyurie
-
•
Polydipsie
-
•
Exsikkose
-
•
Müdigkeit
-
•
Bauchschmerzen
-
•
Acetongeruch
Wichtig ist es, an das Krankheitsbild zu denken und mit einer Bestimmung des Blut- und Harnzuckers (inkl. Aceton) die klinische Verdachtsdiagnose zu bestätigen und eine rasche Überweisung in eine spezielle Institution zur Einleitung der Therapie zu veranlassen.
Der Typ-2-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen wird durch seine schleichende Entwicklung (anfangs asymptomatisch) meist zufällig im Rahmen von Screening-Untersuchungen diagnostiziert (pathologischer Glukosetoleranztest, Glukosurie). Oft haben die in aller Regel stark adipösen Jugendlichen mit Typ-2-Diabetes eine positive Familienanamnese für einen Diabetes. Nicht selten besteht eine Acanthosis nigricans oder bei Mädchen ein Syndrom der polyzystischen Ovarien (Kap. 9.2).
Diagnosen und Differenzialdiagnosen
Symptome und Befunde bei Neumanifestation eines Diabetes mellitus Typ 1. Auszuschließen ist vor allem ein Diabetes insipidus.
Basislabor:
-
•
Glukose im Serum und Harn
-
•
Elektrolyte
-
•
Aceton im Harn
Die Labordiagnostik beim Diabetes mellitus Typ 2 beinhaltet einen oralen Glukosetoleranztest (oGTT).Glukosetoleranztest, oraler (oGTT)
Durchführung des oGTT:
-
•
Zum Zeitpunkt „0“ Trinken von 1,75 g/kg KG (maximal 75 g) Glukose in 250–300 ml Wasser (oder äquivalenter Menge hydrolysierter Stärke z. B. Dextro-OGTT-Saft) innerhalb von 5 Minuten
-
•
Blutentnahme (kapillär) zu den Zeitpunkten „0“ und „120“ Minuten
Kriterien für die Diagnose eines Diabetes mellitus beim oGTT
Als Grenzwerte gelten
-
•
für die Nüchternglukose: > 126 mg/dl (> 7,0 mmol/l)
-
•
für den 2-h-Wert: > 200 mg/dl (> 11,1 mmol/l)
Beratung und Behandlung
Vor allem die rechtzeitige Erkennung einer Neumanifestation und die zeitnahe Einleitung der notwendigen Maßnahmen sind die Aufgaben in der Kinder und Jugendliche versorgenden Praxis.
Die Dauerbetreuung des Kindes mit einem Typ-1-Diabetes und Einstellung auf eine adäquate Insulintherapie sowie die stets notwendige Schulung des betroffenen Kindes bzw. Jugendlichen und ggf. seiner Eltern erfolgt in aller Regel in Kooperation mit einem Kinderdiabetologen. Der grundversorgende Kinder- und Jugendarzt benötigt Grundkenntnisse über die Pathophysiologie des Glukosestoffwechsels, um adäquat auf Probleme wie z. B. akute Erkrankungen mit fehlender Nahrungsaufnahme oder hypoglykämische Zustände durch Fehldosierungen von Insulin u. a. zu reagieren.
Die Betreuung des Diabetes-Typ-2-Patienten machen grundsätzliche (Lebensstil-)Änderungen des Ernährungsverhaltens und der Bewegung notwendig. Meist bedarf es medikamentöser Unterstützung in Form von oralen Antidiabetika (Metformin) oder auch von Insulin. Auch bei dieser neuen Morbidität spielen Schulungen der Betroffenen eine zentrale Rolle im langfristigen therapeutischen Management.
Fallbeispiel.
Auflösung
-
•
Diagnose: Diabetes mellitus Typ 1, Erstmanifestation
-
•
Zielführende anamnestische Angaben: Gewichtsabnahme, Polydipsie, Bauchschmerzen
-
•
Zielführende klinische Untersuchung: Gewichtsbestimmung, Exsikkosezeichen, Ausschluss anderer Ursachen für Gewichtsverlust
-
•
Sinnvolle ergänzende Diagnostik: basale Laboruntersuchungen: Blutzucker, Elekrolyte, Harnzucker, Aceton im Harn; in Ausnahmefällen: oGTT, C-Peptid u. a.
-
•
Behandlungseinleitung und -kontrolle: durch pädiatrische Diabetologie, in der Regel stationär
Literatur
- AWMF-Leitlinien. Registernummer: 027–17 (Primäre angeborene Hypothyreose), 027–040 (Autoimmunthyreoiditis), 027–41 (Hyperthyreose), www.awmf.org/leitlinien/leitlinien-suche.html; Registernummern: 027–023 (Kleinwuchs), 027–025 (Pubertas tarda und Hypogonadismus), 027–026 (Pubertas praecox), 174–001 (Varianten der Geschlechtsentwicklung); Registernummer: 057–16 (Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle des Diabetes mellitus im Kindes- und Jugendalter), www.awmf.org/leitlinien/leitlinien-suche.html
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- Statement der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA) und der Arbeitsgemeinschaft Pädiatrische Diabetologie bezüglich Glukosetoleranzstörungen und Diabetes mellitus Typ 2 im Kindes- und Jugendalter. 2005. [Google Scholar]
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6.25. Das auffällig aussehende Kind
Ricarda Flöttmann, Herbert Grundhewer
Fallbeispiel.
Eine Mutter stellt ihren sechs Monate alten Sohn vor. Sie berichtet, dass seit der Geburt zunehmende bräunliche Hautveränderungen aufträten. In der Familie habe sonst niemand diese auffälligen Flecken.
Fragen zum Fallbeispiel
-
•
Bei welchen klinischen Zeichen sollte an eine genetische oder teratogene Störung gedacht werden?
-
•
Liegen alle Zeichen bereits bei Geburt vor?
6.25.1. Stellenwert in der Grundversorgung
Dem geschulten Blick des pädiatrischen Grundversorgers fällt ein auffällig bzw. ungewöhnlich aussehendes Kind sofort auf, und er kann seinen Gesamteindruck recht bald analytisch zurückführen auf eine Summe von meist kleineren strukturellen Anomalien, vielleicht auch auf eine auffällige Körperproportion des Kindes, auf ein Wachstums- und Entwicklungsproblem. Sind die physischen Auffälligkeiten ausgeprägt, ist dies in der Regel bereits kurz nach der Geburt aufgefallen und hat eine entsprechende diagnostische Abklärung nach sich gezogen.
Je subtiler jedoch die physischen AnomalienAnomalien, physische sind, desto eher werden sie von Ärzten und Eltern übersehen. Wenn überhaupt wahrgenommen, ist es eine Ausnahme, dass Eltern ihr Kind deswegen in der Praxis vorstellen, zumal wenn sich das Kind mehr oder weniger altersentsprechend entwickelt. Es bleibt die Aufgabe des Grundversorgers, bei jeder Vorstellung des Kindes aufmerksam Symptome und klinische Zeichen zu registrieren, die auf eine sogenannte „seltene Krankheit“ (genetisch, teratologisch) hinweisen können, und sodann zur diagnostischen Klärung in eine entsprechende Einrichtung weiterzuleiten.
Bei welchen Symptomen oder klinischen Zeichen sollte man aufmerksam werden?
Dysmorphie-Zeichen Dysmorphie-Zeichen :
-
•
Epicanthus medialis, z. B. Down-Syndrom
-
•
Abfallender Lidachsenverlauf, z. B. M. Crouzon
-
•
Synophris, z. B. Cornelia-de-Lange-Syndrom
-
•
Auffällig geformte Augenbrauen, z. B. hoch und bogenförmig bei Kabuki-Syndrom
-
•
Hypertelorismus bei vielen genetischen Syndromen
-
•
Iriskolobom, z. B. Noonan-Syndrom
-
•
Pterygium colli, z. B. Turner-Syndrom
-
•
Ohrfehlbildungen, z. B. Kerbenohr bei Wiedemann-Beckwith-Syndrom
-
•
Overfolded helix bei Mikrodeletionssyndrom 22q11
Entwicklungsverzögerung: motorisch, kognitiv und/oder sprachlich
Wachstumsverzögerung
Organfehlbildungen
-
•
Herzfehler, z. B. Down-Syndrom und Noonan-Syndrom
-
•
Nierenfehlbildungen, z. B. Williams-Beuren-Syndrom
-
•
Morbus Hirschsprung, z. B. Mowat-Wilson-Syndrom
Skelettfehlbildungen
-
•
Radiale Strahldefekte, z. B. Holt-Oram-Syndrom
-
•
Triphalangealer Daumen sowie prä- und postaxiale Polydaktylien bei verschiedenen genetischen Syndromen
-
•
Partielle Syndaktylien, z. B. Smith-Lemli-Opitz-Syndrom
-
•
Sandalenfurche bei Chromosomopathien
-
•
Schädelnahtsynostosen, z. B. bei Pfeiffer-Syndrom
Hautveränderungen
-
•
Café-au-lait-Flecken, kutane Neurofibrome und Freckling bei NF1
-
•
White spots bei tuberöser Sklerose
Weitere Hinweiszeichen
-
•
Fütterungsschwierigkeiten in den ersten Lebensmonaten (Sondenernährung), z. B. Prader-Willi-Syndrom
-
•
Muskuläre Hypotonie
-
•
Krampfanfälle
-
•
Verhaltensauffälligkeiten, z. B. repetitive Handbewegungen beim Rett-Syndrom
Einige der aufgeführten Auffälligkeiten (Fehlbildungen und Minor-Anomalien) können bereits bei der Geburt vorhanden sein, andere entwickeln sich erst später (z. B. Wachstumsstörungen, Entwicklungsstörungen, Pigmentierungen). Für sich genommen müssen die Veränderungen nicht krankheitsrelevant sein, aber in der Zusammenschau verschiedener Aspekte können sich wertvolle Hinweise auf die zugrunde liegende Ursache bieten.
6.25.2. Ausgesuchte Erkrankungsbilder
Im Folgenden sollen einige Erkrankungsbilder vorgestellt werden, die beim pädiatrischen Grundversorger bei Vorliegen der jeweils hervorgehobenen Symptome einen Anfangsverdacht auf ein Syndrom auslösen sollten. Es werden Hinweise zur langfristigen Betreuung dieser Kinder gegeben (tertiäre Prävention), besonders in Hinsicht auf häufige medizinische Probleme, die bei den einzelnen Erkrankungen auftreten. Wenn möglich, wird auf bestehende Leitlinien hingewiesen.
Neurofibromatose Typ 1
Die Neurofibromatose Typ 1 (NF1) Neurofibromatose Typ 1 (NF1) ist eine genetisch bedingte Erkrankung, die durch Mutationen im NF1-Gen verursacht und autosomal-dominant mit nahezu vollständiger Penetranz vererbt wird. Die Expressivität ist jedoch auch innerhalb einer Familie extrem variabel. Die Inzidenz beträgt 1:3 000, wobei die Hälfte aller Betroffenen eine de novo-Mutation trägt. In ca. 50 % der Fälle können die Betroffenen Lernschwierigkeiten aufweisen. Eine eindeutige Diagnose ist für die Familien von großer Bedeutung, da dann ggf. eine Abschätzung der Prognose möglich ist und individuelle Fördermaßnahmen eingeleitet werden können.
Klinisches Erscheinungsbild
-
•
„Café-au-lait-Flecken“
-
–Im Säuglings- und Kleinkindalter > 6 Flecken von wenigstens 0,5 cm im Durchmesser
-
–Beim Jugendlichen > 6 Flecken von wenigstens 1,5 cm im Durchmesser
-
–
-
•
Axilläre und inguinale sommersprossenartige Pigmentierungen (sog. Freckling)
-
•
2 oder mehr Lisch-Knötchen (Melanozytenhamartome der Iris)
-
•
Kutane und subkutane Neurofibrome (Progredienz mit zunehmendem Alter)
-
•
Seltenere Manifestationen:
-
–Plexiforme Neurofibrome mit Wachstum entlang von Nervenstämmen (z. T. infiltrierend wachsend) mit darüber liegender hyperpigmentierter und ggf. behaarter Haut (Tendenz zur malignen Entartung)
-
–Optikusgliome, Astrozytome und Glioblastome
-
–
-
•
Spezifische Skelettveränderungen (Keilbeinflügeldysplasie, Verbiegung langer Röhrenknochen, tibiale Pseudarthrose, Osteopenie, Skoliose)
-
•
Tendenz zu Kleinwuchs und Makrozephalie
Diagnosesicherung
Bei der NF1 gibt es umschriebene klinische Kriterien, die eine Diagnose auch ohne molekulargenetische Veränderung erlauben. In über 95 % der Fälle können Mutationen im NF1-Gen nachgewiesen werden. Zwei oder mehr der aufgeführten klinischen Diagnose-Kriterien müssen erfüllt sein (siehe oben).
Besondere Aufgaben der Grundversorgung
Aufgaben bei der NF1:
-
•
Jährliche körperliche Untersuchungen (+ Abdominalsonografie → Fibromsuche)
-
•
Jährliche augenärztliche Untersuchung (0–6 Jahre)
-
•
Überwachung des Entwicklungsstandes (ggf. Fördermaßnahmen)
Bei neurologischen Auffälligkeiten, Auffälligkeiten am Skelettapparat oder Herz-Kreislauf-System → Subspezialist.
Bei einem Teil der Patienten mit einer NF1 können Malignome (Rhabdomyosarkom, entarteter Nervenscheidentumor, chronisch myeloische Leukämie) auftreten. Es besteht ein erhöhtes Risiko einer Nierenarterienstenose sowie für Phäochromozytome → regelmäßige RR-Kontrollen.
Fragiles-X-Syndrom
Das Fragile-X-Syndrom Fragiles-X-Syndrom ist durch eine meist moderate Intelligenzminderung bei männlichen Patienten und durch eine milde Intelligenzminderung bei weiblichen Patienten gekennzeichnet. Es zählt zu den häufigsten monogen vererbten Ursachen einer Intelligenzminderung. Ursächlich sind Veränderungen im FMR-1-Gen auf dem X-Chromosom (> 99 % CGG-Triplett-Repeat-Expansion), die mit einer Inzidenz von ca. 1:5 000 im männlichen Geschlecht auftreten.
Klinisches Erscheinungsbild
-
•
Entwicklungsverzögerung (sprachlich und motorisch); mentale Retardierung ab 2. Lebensjahr erkennbar
-
•
Makrozephalie, langes Gesicht, hohe Stirn, ausgeprägtes Kinn, große Ohren (abstehend)
-
•
Vergrößerte Hoden (meist erst nach der Pubertät)
-
•
Verhaltensauffälligkeiten, z. T. aus dem autistischen Spektrum, Hyperaktivität
-
•
Muskuläre Hypotonie
-
•
Strabismus, Gelenküberbeweglichkeit, Mitralklappenprolaps
-
•
Gastroösophagealer Reflux
-
•
Rezidivierende Mittelohrentzündungen
-
•
Epileptische Anfälle
Diagnosesicherung
Die Diagnose Fragiles-X-Syndrom wird durch das Vorliegen einer Mutation im FMR1-Gen gesichert.
Besondere Aufgaben der Grundversorgung
Beim Fragilen-X-Syndrom sollte, um das Ausmaß der Erkrankung abzuschätzen,
-
•
eine kontinuierliche Evaluation der Entwicklung vorgenommen und ein
-
•
individuelles Förderprogramm erstellt werden.
Dies kann unter den richtigen Umständen sehr erfolgreich sein.
Down-Syndrom
Beim Down-Syndrom Down-Syndrom liegt in den Körperzellen der Betroffenen zusätzlich zu den regulären 46 Chromosomen ein weiteres Chromosom 21 vor, weshalb man von einer Trisomie 21 spricht. Ursache ist in den meisten Fällen eine Non-Disjunction während der Meiose. Es können Translokations-Trisomien (3–4 %) und Mosaike (1–2 %) vorkommen. Es zählt zu einer der häufigsten Chromosomenaberrationen bei Neugeborenen (1:800). In der Regel weisen die Kinder typische körperliche Merkmale auf – Blickdiagnose! In der Regel wird das Syndrom bereits im Kreissaal vermutet.
Klinisches Erscheinungsbild
-
•
Epikanthus medialis, nach lateral ansteigende Lidachsen; Brushfield-Spots („Porzellanflecken“)
-
•
Vierfingerfurche, Sandalenlücke
-
•
Muskelhypotonie, hypotone Zunge und Furchenzunge (lingua plicata)
-
•
Beeinträchtigung der kognitiven Fähigkeiten
-
•
Herzfehler 40–50 % (überwiegend ASD und AVSD)
-
•
Ernährungsstörungen, ggf. mit Sondenernährung (Säuglinge)
-
•
Duodenaltresie 8 %, Morbus Hirschsprung 5–8 %
-
•
Schwerhörigkeit, Sehstörungen
-
•
Hohes Risiko für konnatale (aber auch autoimmune) Hypothyreose
-
•
Epilepsie, Immundefekte, Alzheimer Erkrankung
-
•
Erhöhtes Risiko für Leukämien im Kindesalter
Diagnosesicherung
Die chromosomale numerische Aberration wird durch Karyotypisierung und FISH gesichert.
Besondere Aufgaben der Grundversorgung
-
•
Umfassende medizinische Betreuung (Präventionen! Regelmäßige TSH-Kontrollen)
-
•
Entwicklungsförderung (mit Frühförderung, Logopädie wegen orofazialer Dysfunktion und Dysarthrie etc.)
-
•
Kooperation mit Subspezialisten bei Vorliegen eines Herzfehlers, von Seh- oder Hörstörungen
-
•
Psychosoziale Hilfen, ggf. Kooperation mit einem SPZ oder einer Spezialsprechstunde
Für eine ausführliche Darstellung der Routineuntersuchungen soll an dieser Stelle auf die gültige Leitlinie verwiesen werden.
Klinefelter- und Turner-Syndrom
Das Klinefelter-Syndrom Klinefelter-Syndrom (phänotypisch männlich) ist durch den Karyotyp 47,XXY und das Turner-Syndrom Turner-Syndrom (phänotypisch weiblich) durch den Karyotyp 45,X (häufig als Mosaik vorliegend) gekennzeichnet. Geschlechtschromosomenaberrationen kommen mit einer Häufigkeit von 1:500 bei Männern, bzw. 1,5:1 000 bei Frauen vor. Der Verdacht auf ein Klinefelter-Syndrom wird in der Regel erst während der Pubertät erhoben.
Klinisches Erscheinungsbild
Klinefelter-Syndrom (47,XXY)
-
•
Lern- und Schulschwierigkeiten (gering unterdurchschnittliche Intelligenz)
-
•
Auffällig kleine Hoden (→Azoospermie, Infertilität und ggf. verminderte Körperbehaarung)
-
•
Öfter Maldescensus
-
•
Häufig Übergröße in der Kindheit mit relativ vermehrter Beinlänge
-
•
Gynäkomastie (40 %) und ggf. verzögerter Pubertätseintritt
-
•
Erhöhtes Risiko für Brustkrebs, extragonadale Keimzelltumoren und Non-Hodgkin Lymphome
-
•
Erhöhte Anzahl an Autoimmunstörungen
Turner-Syndrom (45,X)
-
•
Neugeborenes: Fuß- und Handrückenödeme
-
•
Lineare Wachstumsverzögerung → Kleinwuchs
-
•
Nicht selten: Aortenisthmusstenose, Herzfehler und Nierenfehlbildungen (bei Diagnosestellung „Turner-Syndrom“ müssen eine kardiologische Abklärung bzw. Abklärungen auf das Vorliegen von Organfehlbildungen erfolgen)
-
•
Neigung zu häufigen Mittelohrentzündungen in der frühen Kindheit
-
•
Ausbleibende Brustentwicklung und Pubertät (bei 80 % der Betroffenen)
-
•
Strang-Gonaden (Patientinnen sind i. d. R. unfruchtbar)
-
•
Variabel: Cubitus valgus, Pterygium colli, tiefer Haaransatz, Schildthorax, weiter Mamillenabstand, ggf. Ohr- und Nageldysplasien
-
•
Erhöhtes Risiko für Leukämien im Kindesalter
Diagnosesicherung
Die chromosomale numerische Aberration wird jeweils durch Karyotypisierung und FISH gesichert. Aufgrund der eher unauffälligen Entwicklung wird an ein Turner-Syndrom meist erst aufgrund der nicht eintretenden Pubertätszeichen gedacht. Die Kombination von Kleinwuchs, häufigen Mittelohrentzündungen und Organfehlbildungen (Herzfehler, Hufeisenniere oder Nierenagenesie) sollte immer an ein Turner-Syndrom denken lassen.
Besondere Aufgaben der Grundversorgung
Wichtig ist die Kontinuität der Versorgung, eine langfristige vertrauensvolle Beziehung Kind-Familie-Arzt und das Vermeiden von Fragmentierung der Versorgung.
Klinefelter-Syndrom: bei Männern mit endokriner Hodeninsuffizienz Androgensubstitution.
Turner-Syndrom:
-
•
Verlaufsüberwachung
-
–Wachstum: frühzeitige Behandlung der Wachstumsstörung mit STH ab 4.–5. Lj. erwünscht (frühe Kooperation mit Endokrinologie)
-
–Pubertät: hormonelle Substitution (Östrogen) ab 12–13 Jahren: Kooperation mit Endokrinologie
-
–HBA1c-Überwachung bei STH-Therapie (→ path. Glucosetoleranz)
-
–Häufig sensineurale oder Mittelohr-Schwerhörigkeit: regelmäßig Hörkontrolle
-
–Ernährungs- (und Bewegungs-)anleitung: Adipositas nicht selten
-
–Schilddrüse: TSH-, T3/T4- und Antikörperbestimmungen, da früh Autoimmunerkrankungen (Hashimoto-Hypothyreose)
-
–Hypertonie (häufig): regelmäßige RR-Kontrollen
-
–
-
•
Kooperation mit Spezialisten bei Vorliegen von
-
–Herzvitium: regelmäßige klinische Untersuchung, Kooperation mit Kinderkardiologie
-
–Fehlbildungen im Urogenitaltrakt: evtl. Kooperation mit pädiatrischer Nephrologie
-
–Strabismus (häufig): Kooperation mit Ophthalmologe
-
–Psychosoziale Unterstützung, Selbsthilfegruppen etc.
-
–
Mikrodeletionssyndrom Di-George
Das Mikrodeletionsyndrom 22q11.2 ist Mikrodeletionssyndrom Di-Georgedurch Fehlentwicklungen der 3. und 4. Schlundtasche gekennzeichnet. Das Vollbild ist auch als Di-George-Syndrom bekannt, welches mit einer Inzidenz von 1:4.000 auftritt. Es handelt sich um einen Oberbegriff für verschieden große Mikrodeletionen. Die verschiedenen Symptome können unterschiedlich stark ausgeprägt sein und teilweise auch komplett fehlen.
Klinisches Erscheinungsbild
-
•
Herz- und Gefäßfehlbildungen
-
•
verschiedene Dysmorphiezeichen (Hypertelorismus, flache Nasenwurzel, bogenförmige Oberlippe, Retrognathie)
-
•
Thymusaplasie oder -hypoplasie (Cave: Immundefekt!)
-
•
Lippen-Kiefer-Gaumenspalten können auftreten
-
•
Fehlende Nebenschilddrüsen (Cave: Hypokalzämie)
-
•
Entwicklungsverzögerung (vor allem der Sprache) und Kleinwuchs
Diagnosesicherung
Das Mikrodeletionssyndrom 22q11 wird durch ein spezielles zytogenetisches Verfahren, die sogenannte Fluoreszenz-In-situ-Hybridisierung (FISH) gesichert, aber auch mittels Array-CGH ist der Verlust von genetischem Material zu detektieren.
Besondere Aufgaben der Grundversorgung
-
•
Kalzium- und Vitamin-D-Substitution (70 % aller Patienten haben zumindest zeitweise eine Hypokalzämie) mit entsprechender serologischer Überwachung
-
•
Überwachung von Wachstum und Entwicklung, ggf. Intervention
-
•
Kooperation mit entsprechenden Subspezialisten ggf. SPZ
Noonan-Syndrom
Das Noonan-Syndrom Noonan-Syndrom ist extrem variabel in seiner Ausprägung und sollte in Betracht gezogen werden bei einer Kombination aus charakteristischer Fazies, Kleinwuchs, angeborenem Herzfehler, variabler mentaler Retardierung und ggf. Thoraxanomalien und Pterygium colli. Nach dem Down-Syndrom ist das Noonan-Syndrom, welches mit einer Häufigkeit von 1:1.000 bis 1:2.500 auftritt, die zweithäufigste Ursache für angeborene Herzfehler. Am häufigsten treten Pulmonalklappenstenosen auf. Es konnte eine Vielzahl von ursächlichen Mutationen in verschiedenen Genen nachgewiesen werden, teilweise mit Genotyp-Phänotyp-Korrelation.
Klinisches Erscheinungsbild
-
•
Faziale Dysmorphien (breite Stirn, tiefsitzende Ohren, Hypertelorismus, nach außen abfallende Lidachsen, Ptosis)
-
•
Kleinwuchs
-
•
Herzfehler (häufig Pulmonalstenose, ASD und/oder hypertrophe Kardiomyopathie)
-
•
Variable Entwicklungsverzögerung
-
•
Pterygium colli
-
•
Thoraxauffälligkeiten (z. B. Pectus carinatum, großer Mamillenabstand)
-
•
Kryptorchidismus
-
•
Sonstiges: Gerinnungsstörungen, lymphatische Dysplasien
Diagnosesicherung
Für das Noonan-Syndrom sind Veränderungen in einer Vielzahl von Genen beschrieben worden. Es empfiehlt sich eine Stufen- bzw. Paneldiagnostik. Dabei werden in Abhängigkeit vom Phänotyp und Häufigkeit der einzelnen Mutationen die infrage kommenden Gene nacheinander untersucht bzw. mittels neuerer Verfahren (Next Generation Sequencing) innerhalb kurzer Zeit parallel sequenziert.
Besondere Aufgaben der Grundversorgung
-
•
Diagnose stellen lassen und Differenzialdiagnose (Kooperation mit dem Genetiker)
-
•
Erhöhtes Risiko von maligner Hyperthermie bei Anästhesie beachten
-
•
Im Verlauf der Kindheit nach Begleiterkrankungen suchen:
-
–Herz, Wachstum, Schilddrüse
-
–Pubertätsentwicklung
-
–Entwicklung
-
–Augenuntersuchung fortlaufend
-
–Wirbelsäule (Kyphose?)
-
–Zähne
-
–
Prader-Willi-Syndrom
Das Prader-Willi-Syndrom Prader-Willi-Syndrom ist gekennzeichnet durch
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eine Kombination aus Muskelhypotonie mit Gedeihstörung in der Säuglingszeit und
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einem unkontrollierbaren Essverhalten mit Adipositas in späteren Jahren.
In den meisten Fällen wird eine mäßige mentale Retardierung beobachtet. Die Häufigkeit liegt zwischen 1:15 000 und 1:30 000.
Klinisches Erscheinungsbild
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Muskelhypotonie mit Trinkschwäche („floppy infant“) in der Säuglingszeit (häufig Sondenernährung notwendig)
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Etwa ab dem 3. Lebensjahr: unkontrollierbare Hyperphagie mit Adipositas und sekundären Komplikationen
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Verzögerte motorische Entwicklung
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Kleinwuchs
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Mäßige mentale Retardierung, vor allem Lernbehinderung (Störung des Kurzzeitgedächtnisses und der Abstraktionsfähigkeit)
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Hypogonadismus, meistens Unfruchtbarkeit
Diagnosesicherung
Beim Prader-Willi-Syndrom liegen die krankheitsverursachenden Gene auf Chromosom 15q11.2-q13. Da es zu komplexen Veränderungen an dem Locus kommen kann (Imprinting Region), empfiehlt sich auch hier eine Stufendiagnostik, bei der die häufigsten Veränderungen zuerst untersucht werden.
Besondere Aufgaben der Grundversorgung
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Ernährung:
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–Säuglingszeit: bei 95 % der Kinder Ernährung über Sonde in den ersten Lebensmonaten erforderlich.
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–Später bei Hyperphagie: Restriktion der Kalorienzufuhr, gut ausgewogene Kost. Verhaltenstherapeutische Unterstützung. Frühzeitig versuchen, das Essverhalten positiv zu beeinflussen. Da die Kinder häufig jedoch keinerlei Sättigungsgefühl zeigen und teilweise auch zu nicht-essbaren Dinge greifen, ist diese Aufgabe oft mühsam und frustrierend.
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Kooperation mit Endokrinologie:
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–Frühzeitige Wachstumshormontherapie ab 2.–4. Lj. (verbessert neben der Wachstumsstimulation vor allem die allgemeine Stoffwechsellage, die muskuläre Hypotonie und Motilität sowie das Essverhalten)
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–Häufig generelle hypothalamische Insuffizienz (Kooperation mit Endokrinologie)
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–Hypogonadismus (Kooperation mit Endokrinologie)
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Entwicklungsförderung (Frühförderstelle und/oder Krankengymnastik und/oder Logopädie)
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Typische Verhaltensprobleme antizipieren und (evtl. in Kooperation mit Spezialambulanz) angehen
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Psychosoziale Unterstützung
Achondroplasie
Achondroplasie Achondroplasie ist die häufigste Ursache für einen dysproportionierten Kleinwuchs (Häufigkeit 1:20 000). Die Betroffenen haben kurze Arme und Beine und eine charakteristische Fazies mit prominenter Stirn („frontal bossing“). Intelligenz und Lebenserwartung sind im Normbereich. Vererbung autosomal-dominant, jedoch handelt es sich in ca. 80 % der Fälle um de novo-Mutationen, bei denen die Eltern nur ein sehr geringes Risiko haben, ein weiteres Kind mit Achondroplasie zu bekommen.
Klinisches Erscheinungsbild
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Rhizomele Extremitätenverkürzung → Kleinwuchs
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Großer Kopf mit prominenter Stirn, flache Nasenwurzel und Mittelgesichtshypoplasie
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Brachydaktylie, ggf. mit Dreizackhand
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Streckdefizit im Ellenbogengelenk, Genu varum, Lendenlordose
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Spezifische radiologische Zeichen wie z. B. generalisierte Veränderungen an den Metaphysen, Strahlendurchlässigkeit der proximalen Femora, abgerundete Ilia mit horizontalen Acetabulae, ggf. Spinalkanalstenose
Diagnosesicherung
Die Diagnose Achondroplasie kann anhand charakteristischer klinischer und radiologischer Merkmale gestellt werden. Man findet bei 99 % der Patienten eine ursächliche Mutation im FGFR3-Gen.
Besondere Aufgaben der Grundversorgung
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Kinder mit hohem Risiko für schwere Komplikationen müssen identifiziert werden und frühzeitig Behandlungen eingeleitet werden: Hydrocephalus, craniocervikale Kompression, Obstruktion der oberen Luftwege mit Schlafapnoe, thorakolumbale Kyphose (erste Lebensjahre)
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Häufige Probleme: verzögerte motorische Entwicklung, rekurrierende Mittelohrentzündungen, Schwerhörigkeit, Genua vara, Adipositas
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Psychosoziale Unterstützung notwendig, Anpassen des Lebensumfeldes
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Vorbeugung von orthopädischen und neurologischen Problemen:
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–Gerader Sitz ohne Rundrücken, Kopf immer gut abstützen, also keine Schaukeln, Gehfrei, Rucksacktragevorrichtung, Bauchtragetücher etc.
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–Sport: keine Gymnastik, Tauchen, Trampolins, Kontaktsportarten
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–Anästhesie: Risiko von Medullakompression bei Intubation beachten
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Bei der Achondroplasie können ggf. operative Eingriffe bei funktionellen Beschwerden in Erwägung gezogen werden. Auch Beinverlägerungsoperationen sind möglich.
Fetale Alkoholspektrumstörung (FASD)
EineAlkoholspektrumstörung, fetale (FASD) intrauterine Alkoholexposition kann beim Kind zu einer Reihe von Missbildungen, Entwicklungs- und Verhaltensstörungen führen. Man fasst diese unter dem Oberbegriff Fetale Alkoholspektrumstörung (FASD) Fetale Alkoholspektrumstörung (FASD) zusammen. Dazu gehören:
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Vollbild des fetalen AlkoholsyndromsAlkoholsyndrom, fetales (FAS)
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Partielles fetales Alkoholsyndrom (pFAS)
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Alkoholbedingte entwicklungsneurologische Störung (ARND)
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Alkoholbedingte Geburtsdefekte (ARBD)
Eine Alkoholexposition während der fetalen Entwicklung kann eine hirnorganische Störung verursachen im Sinne einer statischen Enzephalopathie. Die neurokognitiven und Verhaltensprobleme bestehen das ganze Leben über, sind aber durch individuelle Förderung beeinflussbar.
Es besteht ein Dosis-Wirkungs-Effekt: Die Schäden nehmen zu mit der Menge, der Dauer und der Höhe der Alkoholexposition. Eine sichere Grenze, unterhalb der Alkohol unschädlich ist, lässt sich nicht angeben.
Bedeutung für die Grundversorgung: Prävalenz
Man schätzt, dass ca. 15 %–30 % der Schwangeren wiederholt Alkohol konsumieren.
Die Prävalenz des fetalen Alkoholsyndroms wird auf 0,2 bis 8,2/1.000 Geburten in Europa geschätzt. Verglichen mit anderen angeborenen oder genetischen Erkrankungen kommt das FAS sehr häufig vor.
Klinik und Diagnose
Eine frühzeitige Diagnose ist wichtig. Ziele sind: Unterstützungen einleiten und sekundäre Erkrankungen verhindern. Vermieden werden müssen dabei Stigmatisierung und Schuldgefühle bei den Eltern, die das Zusammenleben weiter erschweren.
Die Diagnose FAS wird bei Auffälligkeiten in folgenden vier Bereichen gestellt:
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1.
Wachstumsstörung: niedriges Geburtsgewicht oder -länge; BMI ≤ 10. Perzentile
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2.
Faziale Auffälligkeiten (alle drei erforderlich): kurze Lidspalten, verstrichenes Philtrum, schmale Oberlippe
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3.
ZNS-Auffälligkeiten:
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a.Funktionelle ZNS-Auffälligkeiten: z. B. Intelligenzminderung, kombinierte Entwicklungsstörungen, Störungen der Aufmerksamkeit, Epilepsie
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b.Strukturelle ZNS-Auffälligkeiten: Mikrozephalie
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a.
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4.
Bestätigte intrauterine Alkohol-Exposition. Diagnose kann auch gestellt werden, wenn Punkte 1–3 zutreffen
Merke.
Die endgültige Diagnose sollte nur durch einen in FAS erfahrenen Spezialisten gestellt werden. Zur Diagnostik gehört auch eine neuropsychologische Diagnostik, um spezifische individuelle Konsequenzen und Unterstützungen anzubieten.
Prognose, Unterstützung
Die Kinder fallen oft durch erhebliche Schwierigkeiten im Laufe der Entwicklung auf:
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Kurze Aufmerksamkeitsspannen
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Schlechte Impulskontrolle
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Eine geringe Merk- und Lernfähigkeit bei gleichzeitig oft gutem Sprechvermögen (→ diverse Konflikte in den Familien, mit Gleichaltrigen und in der Schule)
Interventionen müssen auf lange Sicht
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protektive Faktoren maximieren und
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individuelle Stärken ausbauen.
Im Einzelnen:
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Optimierte Umweltfaktoren
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Strategien für die Eltern zur Erziehung
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Soziale Unterstützung
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Entwicklungs- und Erziehungs-Interventionen
Aufgaben der Grundversorgung
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Frühe Diagnose bei Verdacht in dafür geeigneten Stellen.
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Aufklärung.
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Unterstützung einleiten und koordinieren.
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Wichtig ist der langfristige Kontakt zu Kind und Familie.
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Primäre Prävention: bei Jugendlichen sollten auch persönliche Gesundheitsaspekte und Verantwortlichkeiten diskutiert werden, z. B. auch in Hinsicht auf Suchtmittel und Alkohol. Wichtige Botschaft schon hier: kein Alkohol in der Schwangerschaft.
Merke.
Wichtig bei allen genetischen und konnatalen Erkrankungen ist die interdisziplinäre medizinische und psychosoziale Betreuung (teilweise bestehen Spezialsprechstunden, z. B. in SPZ).
Fallbeispiel.
Auflösung
Bei dem sechs Monate alten Jungen fanden sich insgesamt neun Café-au-lait-Flecken mit einem Durchmesser > 5 mm und einige weitere kleinere. Der Kindesmutter waren bereits drei Hauttumoren (Neurofibrome) entfernt worden. Sie wird aufgrund eines arteriellen Hypertonus mit einem ACE-Hemmer behandelt.
Bei dem Säugling konnten weiter keine Auffälligkeiten erkannt werden (Abdominal-Sonografie; Augenarzt; RR). Es wurden unabhängig von den Vorsorgeuntersuchungen regelmäßige Kontrollen (körperliche Untersuchung, Abdominal-Sonografie, RR, Augenarzt) empfohlen und terminiert.
Literatur und Internet
- Für eine weitergehende, aktuelle Literatur bezüglich der oben aufgeführten genetischen Syndrome empfehlen sich vor allem folgende, regelmäßig aktualisierte Internetseiten: www.omim.org und www.genetests.org/disorders.
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