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. 2020 Apr 2;54(2):80–81. [Article in German] doi: 10.1002/ciuz.202080079

Von Kamelen und Krebsforschung

Ungelöste Fragen

Tatjana Dänzer
PMCID: PMC7162138

Abstract

Die moderne Medizin hat innerhalb der letzten Jahrzehnte große Fortschritte gemacht und viele Wirkstoffe an unerwarteten Orten entdeckt. Eine Forschungsrichtung beschäftigt sich nun mit der Nutzung von Kamelen, die in ihrem natürlichen Habitat schon lange als Lieferant von verschiedensten Heilmitteln gelten.


Die moderne Medizin hat innerhalb der letzten Jahrzehnte große Fortschritte gemacht und viele Wirkstoffe an unerwarteten Orten entdeckt. Eine Forschungsrichtung beschäftigt sich nun mit der Nutzung von Kamelen, die in ihrem natürlichen Habitat schon lange als Lieferant von verschiedensten Heilmitteln gelten.

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Schon der Prophet Mohammed soll die Nutzung und den Konsum von Kamelmilch und ‐urin empfohlen haben, was sie in der islamischen prophetischen Medizin fest verankerte 1. Doch allein der Gedanke, mit Urin in Kontakt zu kommen oder ihn gar zu verschlucken, stößt besonders in der westlichen Welt viele Menschen ab. Die medizinische Behandlung mit Urin – auch Urotherapie genannt – war in der traditionellen Medizin vieler Kulturen in den letzten Jahrhunderten jedoch ein wichtiger Ansatz. In der Regel wird endogener Urin verwendet, aber auch Tiere sind beliebte Quellen. Auch in der konventionellen Medizin ist die Verwendung von Urin nicht ungewöhnlich: Urokinase zum Beispiel kann aus (menschlichem) Urin isoliert werden und ist ein wichtiges Thrombolytikum 2. Das Medikament Premarin®, das zur Hormonbehandlung eingesetzt wird, enthält Östrogene, die aus dem Urin trächtiger Stuten gewonnen werden 2. Es ist also bei weitem nicht abwegig, die medizinische Wirksamkeit von Kamelurin zu untersuchen.

Die konventionelle Medizin bietet eine Vielzahl von pharmazeutischen Krebsbehandlungen an, die für die Patienten Segen und Fluch zugleich sind. Neben der langwierigen und erschöpfenden Behandlung sind die Patienten mitunter schweren Nebenwirkungen wie Übelkeit, Müdigkeit, Haarausfall, Entzündungen und einer vorübergehenden Immunschwäche ausgesetzt. Die Nachfrage nach Alternativen, die gleichzeitig hochwirksam, einfach anzuwenden, mild und im besten Fall auf nachwachsenden Rohstoffen basieren, ist daher sehr hoch. Kamelurin stellt dabei eine interessante Ressource dar, die im Jemen im Jahr 2013 etwa 15 (ca. 20 USD) pro Liter kostete – wo er nicht nur für die universelle medizinische Behandlung, sondern auch als kosmetisches Produkt für die Haut‐ und Haarpflege verwendet wird. Jungfräuliche Tiere sind dabei am stärksten gefragt 4.

Abb. 1.

Abb. 1

Ein marokkanisches Dromedar‐Kamel – ein beliebtes Nutztier der Beduinen 5 (wikimedia commons – public domain).

Kamelurin wird seit langem als mögliche Krebsbehandlung untersucht, aber detaillierte Studien mit aussagekräftiger Statistik über seine tatsächliche Wirksamkeit und Wirkung auf die menschliche Gesundheit sind kaum vorhanden. Die berichtete lindernde Wirkung von reinem Kamelurin auf Verdauungsbeschwerden lässt sich hinreichend durch seinen relativ hohen Gehalt an Elektrolyten wie Natrium und Zink erklären, den Al‐Attas 2009 gefunden hat – ein Ergebnis, das sicherlich genauso gut durch das Trinken einer Bouillon erreicht werden könnte 6. Kohrshid et al. waren 2009 die ersten, die auch eine hemmende Wirkung von gefriergetrocknetem Kamelurin auf Karzinomzellen bei Tieren zeigten 7. Zwei Jahre später stellten Alhaider et al. fest, dass die Behandlung von Leberzellen mit Kamelurin den Einfluss bestimmter Karzinogene hemmt 8. Danach zeigten Khorsihd et al. wiederum, dass die Wirksamkeit von Kamelurin gegen einen bestimmten Typ von Lungenkrebszellen (A549) in gewissem Maße von Rasse und Alter der Kamele abhängt 9, 10. Die bioaktive Subfraktion PMF, von der man annimmt, dass sie für diese Effekte verantwortlich ist, wird aus gefriergetrocknetem Kamelurin (in der Literatur häufig als PM701 bezeichnet) gewonnen 10. Klinische Studien zur oralen Aufnahme der PM701‐Fraktionen zeigten bisher keine negativen Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit 11. Offenbar enthält der Urin eine sehr große Menge an Antikörpern von so geringer Größe, dass sie vom Verdauungssystem des Patienten leicht absorbiert werden können 12. Andere Experimente zeigen außerdem antimikrobielle Wirkungen von Kamelurin auf Bakterien und Pilze 13.

Im Hinblick auf den umweltfreundlichen Ersatz von synthetischen Wirkstoffen, die normalerweise in komplexen mehrstufigen Reaktionen gewonnen werden, ist der Ansatz reizvoll, solche aus Abfallprodukten zu extrahieren. Es ist spannend zu sehen, dass ein Abfallprodukt der Viehwirtschaft das Potenzial hat, medizinisch eingesetzt zu werden – gleichwohl ist zu bemerken, dass die Forschung zu diesem Thema bei weitem noch nicht abgeschlossen ist und die bisherigen Studien noch nicht ausreichen, um die Wirksamkeit der isolierten Bestandteile einwandfrei nachzuweisen. Unbestreitbare Beweise für die Wirksamkeit und Sicherheit der PM701‐Fraktionen sind von entscheidender Bedeutung, schließlich handelt es sich hierbei um ein Produkt aus einem tierischen Exkrement.

Eine etwas appetitlichere Alternative für den neugierigen Leser könnte übrigens Kamelmilch sein, die ein ebenso interessantes Wirksamkeitsspektrum wie Kamelurin aufweist – viele der Inhaltsstoffe wie die erwähnten Antikörper und damit deren Effekte wurden auch in der Milch gefunden, auch wenn diese wohl schwieriger im großen Stil medizinisch umgesetzt werden kann 14.

Für eine angenehmere Einnahme des Urins wurden bereits Kapseln mit PM701 bzw. PMF entwickelt. 10 Allerdings gibt es von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) einige schlechte Nachrichten über die Verwendung von Kamelmilch und ‐urin: kurz nach dem Ausbruch des MERS‐CoV (Middle East Respiratory Syndrome Coronavirus) in Saudi‐Arabien im Jahr 2012 wurden Dromedar‐Kamele als zoonotische Überträger gefunden, was bedeutet, dass das Virus schnell von Tieren auf Menschen übertragen wird 15. Seit dem Ausbruch des neuesten Coronavirus (COVID‐19) ein sehr aktuelles und heikles Thema. Die WHO rät daher, den Kontakt mit Kamelen zu vermeiden oder rohe Kamelmilch und ‐urin zu konsumieren 16. Dies dämpft sicherlich die Begeisterung für die Verwendung von Kamelurin in der Krebsforschung.

(Übersetzung und Adaption: Kai Litzius)

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Das Journal of Unsolved Questions (JUnQ) ist eine 2010 von Doktoranden in Mainz gegründete, englischsprachige, interdisziplinäre Zeitschrift, bei der die Publikation von Null‐Resultaten, also Forschungsergebnissen nicht funktionierender Arbeiten, die anderweitig der Öffentlichkeit nicht zugänglich und somit dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn entzogen wären, im Fokus steht. Die halbjährlich erscheinenden Printausgaben sind über die Homepage des Journals http://www.junq.info kostenfrei zugänglich.

An dieser Stelle finden Sie als kleinen Appetithappen eine (ungelöste) Frage – mit der die Redaktion auf die vielen (unbeachteten) Fragen in der Alltagswelt aufmerksam machen möchte.

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