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. 2020 May 19;73(6):40–42. [Article in German] doi: 10.1007/s41906-020-0726-7

Fokussiert: Lernen in Extremsituationen

Carsten Müssig 1,
PMCID: PMC7206221  PMID: 32395024

Denken und Handeln unter Druck Stress beeinflusst unsere Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten und Entscheidungen zu treffen. Wie können Pflegende in einer Gesundheitskrise neue Kompetenzen schnell erwerben, beispielsweise in der intensivmedizinischen Versorgung? Es gibt keine elaborierte "Krisen-Didaktik", jedoch können Gestaltungsempfehlungen aus etablierten Bereichen übernommen werden. Lernszenarien und Lernmedien sollten auf genau definierte Ziele ausgerichtet sein, Pflegende zu Handlungen befähigen und durch Einfachheit und Eindeutigkeit kognitiv entlasten.

Krisen sind außergewöhnliche Situationen, die ungeplant und überraschend kommen, dynamisch verlaufen, einen offenen Ausgang haben und bedeutende Schutzgüter bedrohen (BMI 2014). In einer Gesundheitskrise, beispielsweise der aktuellen SARS-CoV-2 Pandemie, stehen Pflegende unter enormem Druck. Dieser Druck hat Einfluss auf Denken und Handeln. Wenn wir das Gefühl haben, einer Krise nicht gewachsen zu sein, reagiert der Körper sofort. Das Herz schlägt schneller, der Blutdruck steigt. Stresshormone haben Einfluss auf den ganzen Körper.

Wissenschaftliche Studien untersuchen den Einfluss von Stress auf die kognitive Leistungsfähigkeit, die Lernfähigkeit und das Treffen von Entscheidungen (z. B. Joëls et al. 2006; Schwabe & Wolf 2009; Starcke et al. 2008). Vereinfachend wird angenommen, dass Stress die Gedächtnisbildung verbessert, den Gedächtnisabruf verschlechtert und die Verarbeitung abstrakter Informationen erschwert. Jedoch sind diese und andere Studien, die unter Laborbedingungen stattfinden, kaum geeignet, operationalisierbare Empfehlungen für die Bewältigung von Krisen abzuleiten.

Es gibt kaum wissenschaftlich begründete Empfehlungen für Lernen unter Stress, andererseits besteht in Krisensituationen ein erhöhter Informations- und Lernbedarf. In dieser Situation erscheint es sinnvoll, auf Gestaltungsprinzipien bewährter Lernszenarien und Lernsettings zurückzugreifen.

Auf das Ergebnis kommt es an

Pflegende müssen sich schnell in neue Aufgaben und Teams einarbeiten. Differenziert abwägende wissenschaftliche Artikel und komplexe Lernmittel helfen dabei nicht. Vielmehr sollten Lernszenarien und Lernmedien Entscheidungen und Pflegehandlungen effektiv unterstützen. Bewährte Gestaltungsprinzipien aus der Praxisanleitung, dem Mobile Learning, der Technischen Dokumentationen und anderen Lernsettings geben Hinweise, wie das gelingen kann (Tab. 1).

Begründung Umsetzung Ergebnis
Entscheiden und Handeln unterstützen Richtige Entscheidungen und Handlungen unter Stress ermöglichen Anleitungen und Lernmedien auf aktuelle Tätigkeiten Pflegender ausrichten

Pflegende werden kognitiv entlastet

Pflegende werden in Entscheidungen und Handlungen unterstützt

Alles Unnötige weglassen Zeit sparen und Aufmerksamkeit bewahren Mit Fachkollegen die notwendigen Inhalte festlegen Lerneinheiten haben eine Länge von wenigen Minuten
Direkte und unmissverständliche Kommunikation Klare Kommunikation beschleunigt die Vermittlung von Kompetenzen Einfache Sprache, aktive Sprache, positive Sprache, direkte Botschaften und sprechende Bilder verwenden

Pflegende werden kognitiv entlastet

Anleitungen werden verstanden

Lernen und Arbeiten verschmelzen Lernzeit außerhalb der Arbeit fehlt Lernen situativ ermöglichen Flexible Anleitungen und Lernzeiten passen in den Alltag
Vorhandene Ressourcen nutzen

Für neue Lehrmethoden und Technologien ist kaum Zeit;

vorhandene Methoden und Lernmittel können angepasst werden

Vorhandene Methoden und Lernmittel anpassen und nutzen

Schnelle Lösungen sind möglich;

was möglich ist, wird umgesetzt

Fokussieren auf das Wesentliche: Welche Information ist notwendig, um die anstehenden Aufgaben bewältigen zu können? Demonstrationen, Simulationen und Anleitungen sollten Handlungsschritte kurz und prägnant erklären. Analoge oder digitale Lernmedien wie beispielsweise Poster, Videos, Online-Trainings oder Präsentationen, sollten auf dekorative Elemente verzichten. Jeder Text und jedes Bild sollten semantisch begründet sein. Best practices aus der technischen Dokumentation geben praktische Umsetzungshinweise (Kothes 2011; Wallwork 2014).

Überflüssiges weglassen: Theoretisches Hintergrundwissen sollte auf das notwendige Minimum reduziert werden. Unnötige Informationen beanspruchen kognitiv. Aufmerksamkeit und Zeit werden an anderer Stelle gebraucht. Die entscheidende Frage ist: Was brauchen Pflegende hier und jetzt, um die Situation zu bewältigen?

Handeln ermöglichen: In der Berufsausbildung geht es um Handlungskompetenz als Pflegefachkraft. Wissen ist Mittel zum Zweck, das konstruktive Handeln ist das eigentliche Ziel (Mamerow 2018). Situationsbezogenes Lernen ist in der Praxisausbildung gelebte Praxis. Der Lerntransfer in Praxissituationen steht im Vordergrund. Doch noch mehr als in der regulären Ausbildung bemisst sich der Lernerfolg in einer Gesundheitskrise an definierten Ergebnissen - im Extremfall an der Zahl der Patienten, die überleben. Lernen dient dem unmittelbaren Praxistransfer, Ziel des Lernens ist die zeitnahe Anwendung. Daraus ergeben sich Gestaltungsempfehlungen, wie sie in Performance Support-Lösungen und Entscheidungsunterstützungssystemen üblich sind (Müssig 2019).

Bei Demonstrationen und dem Vermitteln von Pflegehandlungen mit Lernmedien ist die folgende Struktur hilfreich, die auch in der technischen Dokumentation und in Hilfesystemen verwendet wird (Carey et al. 2014; Kothes 2011; Wallwork 2014):

  1. Voraussetzungen: Wann greift diese Maßnahme?

  2. Durchführung der Maßnahme - Schritt für Schritt. Die Beschreibung von Zwischenergebnissen mit Texten und Bildern ist bei komplexeren Handlungen sinnvoll. Dabei sollten keine oder nur gesicherte Annahmen über vorhandenes Wissen gemacht werden. Alle wichtigen Punkte sind aufzuführen, auch die vermeintlich Offensichtlichen: in chronologischer Reihenfolge, jeder Schritt ein neuer Satz, eins nach dem anderen.

  3. Ergebnis der Maßnahme: Was ist der gewünschte Erfolg der Handlung? Was ist zu tun, wenn der gewünschte Erfolg nicht eintritt?

Der Bedarf Pflegender entscheidet

In Krisensituationen werden neue Teams gebildet, Stationen neu ausgerichtet und Aufgaben neu verteilt. Hier wird es oft keinen fertigen Plan geben, der Abläufe und Prozesse im Detail vorgibt. Vielmehr sind Improvisation und Lernen im Job gefragt. Damit das gelingt, müssen erforderliche Fortbildungsmaßnahmen konsequent am Bedarf und der Zielgruppe ausgerichtet werden.

Zur richtigen Zeit und am richtigen Ort: Gesonderte Lernzeiten zusätzlich zur Arbeitszeit sind angesichts von Überstunden und Personalknappheit kaum realisierbar. Daher sollte Lernen konsequent an die Situation angepasst werden. Das kann bedeuten, Lernen auf die Station zu bringen und während des Jobs zu ermöglichen. Dabei verschmelzen Arbeiten und Lernen miteinander. Dieser Gedanke ist nicht neu (Müssig 2018; Sauter & Sauter 2013), erhält in Krisensituationen jedoch eine besondere Relevanz. Anleitungen am Bett, One Minute Wonder in Form von Postern und digitale Unterstützungssysteme auf Tablets und Computern sind Beispiele für die Umsetzung.

"Gib mir einfach was ich brauche": Lernende verstehen und verinnerlichen Wissen, wenn es bekannte Anknüpfungspunkte gibt. Pflegende sammeln in Ausbildung und Beruf unterschiedliche Erfahrungen (Mamerow 2018). Beispielsweise können sie unterschiedliche Erfahrungen in der Intensivpflege oder in einem anderen Fachgebiet gemacht haben. Lerninhalte sollten stets zur Zielgruppe, ihren Aufgaben und ihren Erfahrungen passen. Diese Aspekte sind bekannt aus dem pädagogischen Konstruktivismus (Siebert 2005) und entsprechen der Nutzerorientierung im UX-Design (Jacobsen & Meyer 2017).

Entscheidungen unterstützen und Handlungen anleiten: Eine akute Krisensituation geht mit erhöhtem Informationsbedarf und Handlungsdruck einher. Das sorgfältige Abwägen möglicher Handlungskonsequenzen ist schwer leistbar, selbst wenn Entscheidungen mit extremer Tragweite getroffen werden müssen, beispielsweise bei der Priorisierung medizinischer Hilfeleistungen. Anleitungen und Lernmedien sollten schnell abrufbare Informationen geben, Entscheidungen unterstützen und zum Handeln befähigen. Schnell abrufbar und anwendbar bedeutet, dass jede Lerneinheit in sich abgeschlossen ist und keine andere Lernressource braucht. Das bringt auch die notwendige Fokussierung und Kürze mit sich. Gestaltungsempfehlungen dafür kommen aus dem Microlearning (Kapp & Defelice 2019; Müssig 2020; Torgerson 2016) und dem Design von Hilfesystemen (Carey et al. 2014).

Direkte und unmissverständliche Kommunikation

Demonstrationen, Simulationen und Anleitungen sind übliche Formen des Praxislernens (Mamerow 2018). In Krisensituationen können diese Lernformen nur unter hohem Zeitdruck stattfinden. Information können auch über gedruckte Medien (z. B. One-Minute Wonder und Lernkarten) oder digitale Medien (z. B. digitale Unterstützungssysteme) vermittelt werden. Unabhängig vom Lernszenario und Lernmedium sollte die Kommunikation direkt und unmissverständlich sein. Das gelingt mit wenigen Gestaltungsprinzipien:

Einfache Sprache: Einfache Sprache nutzt jedem, nicht nur Menschen mit sprachlichen Einschränkungen. Einfache Sprache ist eine vereinfachte Version der Fachsprache. Abkürzungen und Fremdwörter werden nur verwendet, wenn sie notwendig sind. Satzbau und Grammatik sind stark vereinfacht. Kurze Sätze und geringer Textumfang bringen die Dinge auf den Punkt. Wörter in Klammern und Parenthesen sollten nicht verwendet werden, sie stören den Lesefluss (Kothes 2011; Wallwork 2014).

Aktive Sprache: Aktive Sprache ist eine sinnvolle Ergänzung zur einfachen Sprache. Aktive Sprache fokussiert auf Tätigkeiten und Vorgängen. Es wird klar, wer wie handelt, Menschen rücken in den Mittelpunkt. Tätigkeiten, Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten werden Personen zugeordnet. Ein Beispiel: "Legen Sie einen Katheter an" ist aktive Sprache, die den Leser als Handelnden benennt. "Ein Katheter wird angelegt" ist passive Sprache, die den Handelnden offen lässt.

Positive Sprache: "Nicht" und "kein" funktionieren nicht in unserem Gehirn. Den Satz "Denke jetzt nicht an einen rosa Elefanten" kennt jeder. Natürlich denken wir trotzdem an einen rosa Elefanten. In einer Krise interessiert nur das, was funktioniert. Anleitungen und Lernmedien sollten beschreiben was geht, und nicht das, was nicht geht.

Klare Botschaften: Passive Sprache, sprachliche Abschwächungen ("könnte"), Konjunktive ("würde") und Relativierungen ("vielleicht") nehmen Texten die Bedeutungsstärke und den Nutzen in kritischen Situationen. Begriffe wie "gewöhnlich" und "normalerweise" sind überflüssig. Handlungsanweisungen sollen eindeutig und klar sein. Zweifel im Kopf der Lernenden sind kontraproduktiv.

Ein Bild sagt mehr als 1.000 Worte: Text ist notwendig für präzise medizinische Information. Fotos, Illustrationen und Infografiken beschleunigen das Verständnis (Clark & Mayer 2011). Dabei sind gezeichnete Bilder und Icons oft geeigneter als Fotos, weil sie auf das Wesentliche fokussieren. Statische Bilderserien sind oft geeigneter als Videos, weil Videos nicht auf einen Blick überschaubar sind.

Diese Gestaltungsempfehlungen für Anleitungen und Lernmedien mögen einfach klingen, jedoch erfordert die Umsetzung einen klaren Blick für das notwendige Wissen und gute Kenntnis der Zielgruppen. Die wichtigste Voraussetzung für erfolgreiche Lernsettings ist die Bereitschaft, die Krisensituation aus Sicht der Lernenden zu sehen. Den kognitiven Aufwand, den Lehrende betreiben, müssen Lernende im Job nicht mehr leisten. Lehrende unterstützen Pflegende in Gesundheitskrisen, indem sie Lernen einfach machen.

Fazit.

Gesundheitskrisen treten überraschend ein und gehen mit erhöhtem Informationsbedarf einher. Pflegende werden plötzlich vor neue Aufgaben und Belastungen gestellt.

Lernsettings sollten vorrangig ein Ziel verfolgen: Pflegende in ihren vielen täglichen Entscheidungen und Handlungen wirksam zu unterstützen.

Literatur

  • Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (2014) Leitfaden Krisenkommunikation. BMI, Berlin

  • Carey M, Mcfadden Lanyi M, Longo D, Radzinski E, Rouiller S, Wilde E (2014) Developing Quality Technical Information: A Handbook for Writers and Editors. IBM Press

  • Clark RC, Mayer RE (2011) E-Learning and the science of instruction. Pfeiffer/Wiley, Hoboken, USA

  • Jacobsen J, Meyer L (2017) Praxisbuch Usability und UX. Rheinwerk, Bonn

  • Joëls M, Pu Z, Wiegert O, Oitzl MS, Krugers HJ (2006) Learning under stress: how does it work? Trends in Cognitive Sciences, 10:152-158

  • Kapp K M, Defelice RA (2019) Microlearning short and sweet. ATD Press, Alexandria, USA

  • Kothes L (2011) Grundlagen der technischen Dokumentation. Springer, Heidelberg

  • Mamerow R (2018) Praxisanleitung in der Pflege. Springer, Heidelberg

  • Müssig C (2020) Microlearning: Lernen im Minutentakt. Heilberufe (72) 3, S. 52-53

  • Müssig C (2019) Lernen während der Arbeit. Heilberufe (71) 2, S. 52-53

  • Müssig C (2018) Arbeiten und Lernen wachsen zusammen. Heilberufe (70) 11, S. 52-53

  • Sauter W, Sauter S (2013) Workplace Learning: Integrierte Kompetenzentwicklung mit kooperativen und kollaborativen Lernsystemen. Springer Gabler, Wiesbaden

  • Schwabe L, Wolf OT (2009) Learning under stress impairs memory formation. Neurobiology of Learning and Memory 93, S. 183-188

  • Siebert H (2005) Pädagogischer Konstruktivismus. Beltz, Weinheim

  • Starcke K, Wolf OT, Markowitsch HJ, Brand M (2008) Anticipatory stress influences decision making under explicit risk conditions. Behavioral Neuroscience, 122 (6) S. 1352-1360

  • Torgerson C (2016) The microlearning guide to microlearning.

  • Wallwork A (2014) User guides, manuals, and technical writing. Springer, Heidelberg


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