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. 2020 Jul 2;115(6):495–497. [Article in German] doi: 10.1007/s00063-020-00705-z

Sektion Pflege zur aktuellen Situation der Intensivpflege in Deutschland

Arbeitsgruppe der Sektion Pflege der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN)

Nursing Division on the current intensive care situation in Germany

Carsten Hermes 1,, Tobias Ochmann
PMCID: PMC7329998  PMID: 32617611

Abstract

Das Jahr 2020 ist anlässlich des 200. Geburtstags von Florence Nightingale das Jahr der Pflege. Aufgrund der aktuellen Ereignisse wird man sich jedoch eher an das „Jahr von Corona“ erinnern. Positiv ist die Aufmerksamkeit und Wertschätzung für das Berufsbild der Pflege in der Bevölkerung. Dennoch begrenzen Politiker und verschiedene Berufsgruppen in der Klinik die Pflege fast ausschließlich auf die, unmittelbar für die Patientinnen und Patienten notwendigen, praktischen Verrichtungstätigkeiten. Eine deutlich spürbare Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Pflegende durch die politischen Bemühungen dieser Legislaturperiode ist bisher ebenso weitestgehend ausgeblieben wie die aktive Einbeziehung Pflegender in politische Entscheidungen und Beschlüsse, die die Berufsgruppe unmittelbar betreffen. Durch den schnellen Aufbau an Bettenkapazitäten konnten die betroffenen Patient*innen der notwendigen intensivmedizinischen Versorgung zugeführt werden. Vielerorts ist dies jedoch zu Lasten der Pflegenden und Mediziner geschehen, die zum Teil ohne die notwendige Einarbeitung, mit mangelnder Schutzausrüstung und in fremden Bereichen arbeiten mussten. Diese Problematiken bestehen auch nach Monaten der Krise weiterhin.

Die Sektion Pflege der DGIIN erklärt sich ausdrücklich bereit, in Zukunft aktiv und konstruktiv an jeglichen Prozessen mitzuarbeiten und bietet mit den folgenden 5 Punkten eine erste fachpraktische Hilfestellung, um die Situation auf deutschen Intensivstationen zu verbessern.

Schlüsselwörter: Covid-19, Arbeitsbedingungen, Gesundheitspolitik, Versorgungsqualität, Pflegekammer


Das Jahr 2020 ist anlässlich des 200. Geburtstags von Florence Nightingale das Jahr der Pflege. Aufgrund der aktuellen Ereignisse wird man sich jedoch eher an das „Jahr von Corona“ erinnern. Positiv ist die Aufmerksamkeit und Wertschätzung für das Berufsbild der Pflege in der Bevölkerung. Trotz Applaus und medialer Titulierung als systemrelevante Berufsgruppe hat sich am traditionellen Bild der Pflege in den letzten Jahren jedoch nicht viel verändert. Im Gegenteil: Meist wird Pflege von der Gesellschaft mit Tätigkeiten der Langzeitpflege, vor allem mit denen des SGB V (Sozialgesetzbuch V „Pflege auf Basis ärztlicher Verordnung“) oder der häuslichen Versorgung, in Verbindung gebracht. Zudem begrenzen Politiker und verschiedene Berufsgruppen in der Klinik die Pflege fast ausschließlich auf die, unmittelbar für die Patientinnen und Patienten notwendigen, praktischen Verrichtungstätigkeiten [1]. Eine deutlich spürbare Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Pflegende durch die politischen Bemühungen dieser Legislaturperiode ist bisher ebenso weitestgehend ausgeblieben wie die aktive Einbeziehung Pflegender in politische Entscheidungen und Beschlüsse, die die Berufsgruppe unmittelbar betreffen.

Viele aktuelle Anpassungen waren aufgrund der weltweiten Entwicklungen grundsätzlich notwendig. Dennoch führen diese zu einer Verschärfung der, vor der Pandemie schon grenzwertigen, Arbeitsbedingungen. Kritisch sind das Aussetzen des Arbeitsschutzgesetzes und der Personaluntergrenzenverordnung, der Einsatz von fachfremdem Personal und ungelernten Hilfskräften auf der Intensivstation und die Aufstockung von zusätzlichen Bettenkapazitäten, ohne die Betreuungsschlüssel anzupassen, zu sehen.

Auf die SARS-CoV-2-Pandemie konnte bisher in weiten Teilen Deutschlands gut reagiert werden. Durch den schnellen Aufbau an Bettenkapazitäten konnten die betroffenen Patient*innen der notwendigen intensivmedizinischen Versorgung zugeführt werden. Vielerorts ist dies jedoch zu Lasten der Pflegenden und Mediziner geschehen, die zum Teil ohne die notwendige Einarbeitung, mit mangelnder Schutzausrüstung und in fremden Bereichen arbeiten mussten. Diese Problematiken bestehen auch nach 2 Monaten der Krise weiterhin. Sie sind in einem reichen Land wie Deutschland mit einem der besten Gesundheitssysteme jedoch schlichtweg inakzeptabel.

Bei der Rückkehr in den Regelbetrieb müssen die Erfahrungen der letzten Monate dazu führen, dass Pflegefachpersonen in allen Bereichen der Entscheidungsfindung aktiv und sichtbar eingebunden werden. Dazu zählt die Beteiligung bei der Entwicklung von Pandemieplänen, Leitlinien, Einsatzplänen und Präventionsmaßnahmen ebenso wie die Beteiligung im Bereich Public Health. In allen Bereichen ist eine entsprechende, teilweise akademisch qualifizierte, pflegefachliche Expertise vorhanden. Zum jetzigen Zeitpunkt wünschen wir aktive Mitgestaltung bei den im Folgenden dargestellten Punkten.

Monitoring der Intensivkapazitäten unter Einbezug eines qualifizierten Betreuungsschlüssels (Skill-Grade-Mix auch von Hilfskräften)

Mit dem Beginn der Ausbreitung der SARS-CoV2-Pandemie in Deutschland errichtete die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) unter Federführung von Prof. Dr. Christian Karagiannidis ein sehr nützliches Intensivregister [2]. Dadurch besteht unter anderem die Möglichkeit, den Aufbau der, politisch geforderten, Intensiv- und Beatmungsbetten nachzuvollziehen und einen Überblick über Belegungsdaten zu erhalten. Wir begrüßen das Register ausdrücklich und wissen um die hohen Anstrengungen dahinter. Was in diesem Register leider unbeachtet bleibt, ist die personelle Ausstattung der entsprechenden Kliniken bzw. Stationen. Diesbezüglich gibt es weder für ärztliches noch für pflegerisches oder therapeutisches Personal Angaben zur Personalstärke, deren Qualifikationen oder zum Betreuungsverhältnis. Für eine realistische Einschätzung der intensivmedizinischen Behandlungskapazität sind diese Zahlen jedoch unabdingbar, da Betten und Beatmungszahlen allein keine Versorgung der Patient*innen gewährleisten.

Wir begrüßen die Idee der Vorhaltung von Intensivbetten. Hierfür müssen Pflegefachpersonen und notwendiges Aushilfspersonal ebenfalls in „Bereitschaft“ vorhanden sein. Nur so wird eine adäquate und qualitativ hochwertige Versorgung der Betroffenen im Ernstfall gewährleistet werden.

Entwicklung von Schulungsprogrammen

Schulungsprogramme, Kurzschulungen, Geräteeinweisungen, Lernposter usw. für Pflegende, die kurzfristig und temporär in der Versorgung kritisch Kranker eingesetzt werden, sollten unbedingt von Pflegefachpersonen aus dem Bereich der Intensivpflege mitentwickelt, geplant und durchgeführt werden. Eine Rekrutierung und Registrierung solcher Pflegefachpersonen, die sich als „Bereitschaft“ zur Verfügung stellen, kann z. B. über Landes- oder Bundespflegeberufekammern, Fachgesellschaften oder Bildungsträger erfolgen. Die Konzepte sollten beachten, dass Pflegefachpersonen, die länger nicht im Routinebetrieb der ITS eingesetzt waren, auch mit Kurzeinweisungen nicht sofort vollumfänglich einsetzbar sind. Eine reine Wissensauffrischung und -vermittlung kann per E‑Learning (Webinare, Onlinevorträge, WBT etc.), Literatur oder OMW realisiert werden. Wissen ist dabei nicht mit Kompetenz gleichzusetzen. Es ist lediglich die notwendige Grundlage. Für eine praktische Anwendung und Umsetzung sind Präsenzschulungen in Form von Workshops, Praxis- oder Gruppenanleitungen sowie Einarbeitungen auf Station im „Normalbetrieb“ außerhalb von Krisenzeiten notwendig. Ohne Einbinden der qualifizierten Pflegenden vom Stammpersonal ist eine adäquate Betreuung von kritisch Kranken durch kurzfristig rekrutierte Hilfskräfte dauerhaft nicht durchführbar.

Integration von Angehörigen und psychosoziale Betreuung

Im Zuge der Pandemiepläne haben Kliniken zum Schutz der Patient*innen und der Mitarbeiter*innen sowie als ressourcenschonende Maßnahme Besuche schnell stark eingeschränkt bzw. vollständig untersagt. Diese, aus infektiologischer Sicht sinnvolle, Entscheidung kann weitreichende Konsequenzen auf die Behandlung und das Outcome aller Patientinnen und Patienten haben. Fehlender Kontakt zu Bezugspersonen aus dem persönlichen Umfeld begünstigt die Entstehung von Angst, Delir, Depressionen und posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS), erschwert die Kommunikation und wirkt sich negativ auf die Findung individueller Therapieziele aus. Zudem ist es nur schwer vermittelbar, dass bundesweit TV-Teams Zugang zu Stationen hatten, Angehörige jedoch nicht.

Kliniken sollten in Vorbereitung auf vergleichbare Szenarien die Möglichkeiten des Einbezugs von Angehörigen vordenken. Kostenlose Videotelefonie inkl. WLAN-Kapazitäten sollten dringend flächendeckend bereitgestellt werden. Die Schaffung von Angehörigenhotlines und die Implementierung von Intensivtagebüchern leisten ebenfalls einen positiven Beitrag. Die seelsorgerische Betreuung der Patientinnen und Patienten sowie der Mitarbeitenden muss (inkl. der Leistungen des Aufbahrens Verstorbener) auch in Zeiten einer Pandemie gewährleistet sein.

Sonderregelungen für außergewöhnliche Lebenssituationen (Geburtshilfe, palliative und lebensbedrohliche Akutsituationen) sollen individuell getroffen werden und eignen sich nicht für allgemeingültige, pauschale Vorgaben.

Entwicklung von Hygiene- und Pandemieplänen

Durch unseren täglichen Umgang mit (potenziell) infizierten und immunsupprimierten Patientinnen und Patienten sowie mit infektiösem Material verfügen wir über eine hohe Expertise im Bereich der Hygiene in praktischen Tätigkeitsbereichen. Zudem können wir uns bei der Erstellung von Pandemieplänen mit unserer Erfahrung zielführend einbringen, da wir z. B. im Umgang mit einem Massenanfall von Verletzten (MANV) und erhöhtem Arbeitsaufkommen bei gleichzeitiger Ressourcenknappheit erfahren bzw. geschult sind. Diese Pläne müssen eine bedarfsgerechte Vorratsplanung für Schutzausrüstung beinhalten, die auch entsprechende Wechselintervalle der Materialien in einer Schicht berücksichtigen. Weiterhin verfügt unsere Berufsgruppe schon allein ausbildungsbedingt, aber auch durch Fort‑, Weiterbildungen und Berufserfahrung über infektiologische und epidemiologische Kenntnisse und Erfahrungen.

Neuregelung der Personalberechnung

Es ist zu begrüßen, dass die vermeidbaren Dokumentationen im Zusammenhang mit der Personaluntergrenzenverordnung schnell eingestellt wurden. Dass allerdings jedwede Personaluntergrenze der Pandemie weichen musste, ist nicht verständlich. Nachweislich haben die Arbeitsbedingungen der letzten Jahre zu einer Jobflucht und Personalmangel geführt.

Kritisch zu betrachten sind in diesem Zusammenhang das Einstellen jeglicher Aufgaben und Maßnahmen, die nicht der direkten Versorgung unterliegen, insbesondere die Aus- und Weiterbildung, Praxisanleitung sowie der teilweise unreflektierte Einsatz von Hilfspersonal ohne ein einheitliches Vorgehen und ohne Einbinden der Fachkrankenpflege. Es muss dringend eine Personalbemessung erfolgen, die den reellen Pflegeaufwand auf der Intensivstation abdeckt. Dabei dürfen nicht nur belegte, sondern müssen auch vorgehaltene Betten berücksichtigt werden. Eine dauerhafte Orientierung an Mindestmengen ist im Sinne einer qualitativ hochwertigen Versorgung fahrlässig. Die Untergrenzen wurden in der Vergangenheit zu schnell als Obergrenzen zweckentfremdet. Die Personalbemessung muss die Refinanzierung der wissenschaftlichen Weiterentwicklung der Pflege − in der direkten Patientenversorgung am Bett, der korrekten und zielorientierten Praxisanleitung und der Unterstützung bei der Qualifizierung von Führungspersonen in diesem Bereich beinhalten.

Eine Vorhaltung von Betten bedeutet auch eine Vorhaltung von Personal. Dieses Personal kann gewinnbringend in die bestehenden Strukturen eingebunden sein und dennoch „ad hoc“ rekrutiert werden.

Aufruf

Die Sektion Pflege der DGIIN erklärt sich ausdrücklich bereit, in Zukunft aktiv und konstruktiv an jeglichen Prozessen mitzuarbeiten. Wir fordern daher die Politik und die entsprechenden Gremien und beteiligten Berufsgruppen auf, die pflegefachliche Expertise, insbesondere in den o. g. Bereichen, umgehend personell abzubilden und aktiv einzubinden.

Für die Sektion Pflege

Carsten Hermes und Tobias Ochmann

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

C. Hermes und T. Ochmann geben an, dass keine finanziellen Konflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen. C. Hermes ist als Sprecher und T. Ochmann als stellvertretender Sprecher der Sektion Pflege in der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin tätig.

Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.

Literatur


Articles from Medizinische Klinik, Intensivmedizin Und Notfallmedizin are provided here courtesy of Nature Publishing Group

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