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. 2020 Aug 5;21(4):8–9. [Article in German] doi: 10.1007/s15202-020-2846-8

"Man muss das Gesamtgeschehen im Auge behalten"

Anika Aßfalg 1,
PMCID: PMC7386232

Berichte über neurologische Symptome bei einer Erkrankung mit COVID-19 mehren sich. Prof. Dr. Peter Berlit erklärt im Interview, was bisher über die neurologischen Manifestationen bei COVID-19 bekannt ist und welche Behandlungsansätze sich daraus ableiten lassen.

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In einer ersten Publikation aus Wuhan zum Auftreten neurologischer Symptome bei COVID-19 wurden bei über einem Drittel der untersuchten Patienten neurologische Manifestationen nachgewiesen. Waren Sie davon überrascht?

Prof. Dr. Peter Berlit: Ja, denn wir dachten, dass die Coronainfektion in erster Linie eine pneumologische Erkrankung ist. Es war überraschend, dass neurologische Symptome so häufig auftraten. Einige davon sind natürlich bei vielen Infekten zu beobachten, etwa Kopfschmerzen, Schwindel oder Benommenheit. Diese können durch den fieberhaften Infekt zu erklären sein und müssen nicht per se als neurologische Manifestation der Erkrankung angesehen werden. Aber es gab auch andere Manifestationen in dieser chinesischen Kohorte.

Welche Symptome sind in bisherigen Studien besonders häufig aufgetreten?

Berlit: Neben eher unspezifischen Symptomen gibt es Symptome wie Riech- und Geschmacksstörungen, psychopathologische Auffälligkeiten wie Halluzinationen und Orientierungsstörungen, auch epileptische Anfälle oder Ataxie liefern einen ziemlich direkten Hinweis darauf, dass das Nervensystem in Mitleidenschaft gezogen wird.

Ist es eine Besonderheit, dass solche neurologischen Symptome bei einer Infektionserkrankung auftreten?

Berlit: Als Begleitsymptome von Fieberinfekten kann eine Reihe der Symptome öfter beobachtet werden. Wir wissen beispielsweise, dass auch bei der Influenza Geruchs- und Geschmacksstörungen vorkommen können, aber die Häufigkeit dieser Symptome bei COVID-19 ist schon beachtlich. In einer Übersichtsarbeit einer belgischen Arbeitsgruppe wurden bei knapp 420 Patienten in über 80 % der Fälle Geruchs- und Geschmacksstörungen berichtet.

Wie lässt sich das Symptom der Riech- und Geschmacksstörung erklären?

Berlit: Der Riechnerv könnte im Rahmen der Infektion geschädigt werden. Man könnte auch annehmen, dass die Luftwege durch den Infekt verlegt sind, aber die Befunde, die von den Hals-Nasen-Ohrenärzten mitgeteilt werden, sprechen dafür, dass tatsächlich eine neurologische Manifestation vorliegt. Bei der Mehrzahl der Patienten bilden sich die Symptome innerhalb von zwei bis drei Wochen zurück. Was Patienten aber nicht selten berichten, sind Parosmien, oder Geruchshalluzinationen: In der Phase der Abheilung, nachdem sich der Geruchssinn wieder eingestellt hat, nehmen sie Gerüche wahr, die nicht vorhanden sind. Das ist ein Indiz dafür, dass das Riechhirn im Zusammenhang mit der Infektion geschädigt ist. Wir wissen bisher nur einen Teil darüber, was die Ursachen der neurologischen Symptome sind, und müssen direkte und indirekte Mechanismen unterscheiden. Wir nehmen an, dass die Riech- und Geschmacksstörung direkt durch das Virus ausgelöst wird, während andere Symptome, wie Kopfschmerzen, Schwindel oder Übelkeit, wahrscheinlich indirekte Auswirkungen des Infekts sind. Schließlich kann ein Teil der Symptome auch durch die Aktivierung des Immunsystems ausgelöst werden, im Rahmen der viralen Infektion.

Wie kann Sars-CoV-2 in das zentrale Nervensystem gelangen?

Berlit: Ein möglicher Weg verläuft über die oberen Luftwege und tangiert den Riechnerv. Über die Lamina cribrosa kann das Virus retrograd in das Riechhirn gelangen und sich von dort theoretisch auf andere Hirnregionen ausbreiten. Ein zweiter Weg geht über den Vagusnerv, über das gastroenterische System. Eine dritte Möglichkeit sind nervale Endigungen in der Lunge, wo das Virus auch auf neuralem Weg retrograd in Richtung Gehirn gelangen kann.

Sind die neurologischen Manifestationen umso stärker, je schwerer der Verlauf von COVID-19 insgesamt ist?

Berlit: Ein Teil der Manifestationen tritt eher bei schwer Betroffenen auf, aber wir lernen, dass es zu durchaus ernsten neurologischen Symptomen wie Schlaganfall auch schon in der frühen Phase der Erkrankung kommt.

Was sagen bisherige Studienergebnisse zu Schlaganfällen bei COVID-19 aus?

Berlit: Bereits in den ersten publizierten chinesischen Kohorten zählten Schlaganfälle zu den neurologischen Manifestationen. Dort erlitten eher die schwer betroffenen Patienten Schlaganfälle, und vor allem solche mit Gefäßrisikofaktoren, wie arterielle Hypertonie, Diabetes mellitus oder erhöhte Thromboseneigung. Man dachte deshalb erst, dass Patienten mit Vorschädigung der Gefäße die Schlaganfälle erleiden würden. Inzwischen wissen wir, dass auch Patienten mit keinen oder wenigen vaskulären Risikofaktoren Schlaganfälle haben können. Es spricht vieles dafür, dass es bei COVID-19 zu einer massiven Aktivierung des Gerinnungssystems kommt. Diese erhöhte Thromboseneigung begünstigt nicht nur Thrombosen in den Beinen und Lungenembolien, sondern auch Schlaganfälle.

In den USA sind Schlaganfälle als Hauptsymptom von COVID-19 bei relativ jungen Patienten aufgetreten.

Berlit: Diese Nachricht im New England Journal of Medicine hat uns überrascht. Es waren fünf relativ junge Patienten, von denen nur zwei bekannte vaskuläre Risikofaktoren hatten. Bei einem wurde im Zusammenhang mit COVID-19 die Erstdiagnose Diabetes mellitus gestellt. Aber alle hatten large vessel strokes, das heißt, es kam zu Verlegungen großer hirnversorgender Arterien. Es gibt erste Hinweise darauf, dass zusätzlich zur erhöhten Thromboseneigung ein Antiphospholipidsyndrom vorliegen könnte, dass also immunologisch bedingt eine höhere Gerinnungsneigung besteht, und dass die Schlaganfälle dadurch ausgelöst werden. Eine rezente Studie aus dem New England Journal of Medicine zeigt, dass bei einer Reihe von Patienten Lupus antikoagulans nachweisbar ist. In einer anderen Arbeit wurden auch Kardiolipinantikörper dokumentiert. Ebenso wurden schon umschriebene Wandveränderungen intrakranieller Arterien berichtet. Man kann dies auch bei anderen Viruserkrankungen beobachten, zum Beispiel beim Varizella-Zoster-Virus, bei dem es zu einer thrombotischen entzündlichen Vasopathie kommt. Man kann also diskutieren, ob eine direkte Gefäßwandschädigung durch das Virus in Einzelfällen die Schlaganfälle miterklären könnte.

Konnte bei anderen neurologischen Manifestationen ein direkter Einfluss des Sars-CoV-2 nachgewiesen werden?

Berlit: Bislang gibt es nur seltene direkte Beweise dafür, dass das Virus das Nervensystem angreifen kann. Es gibt einzelne Beispiele einer Meningoenzephalitis oder einer hämorrhagischen Enzephalopathie, bei denen man diskutieren muss, dass das Virus direkt das Nervensystem invadiert und die Entzündung ausgelöst hat. In einem Fallbeispiel aus Japan hat das Virus das Nervensystem direkt entzündet, bei einem 24-jährigem Mann. Er kam wegen einer Serie epileptischer Anfälle in die Klinik und man konnte im Liquor das Virus nachweisen. Der Abstrich im Rachenraum war zu dem Zeitpunkt negativ. Im MRT fiel eine Entzündung im limbischen System auf - der Hippocampus war betroffen, was zu den epileptischen Anfällen und den psychopathologischen Auffälligkeiten passte. Der Patient hatte auch eine Entzündung im Bereich der Nasennebenhöhlen. Die Autoren vermuten, dass das Virus über die Nasennebenhöhlen ins Gehirn gelangt ist und dort die Entzündung ausgelöst hat.

Welche weiteren neurologischen Symptome wurden berichtet?

Berlit: Neben Meningoenzephalitis, akuter hämorrhagischer nekrotisierender Enzephalopathie, Kopfschmerzen und Schwindel durch toxische oder hypoxische Enzephalopathie, Schlag- und epileptischen Anfällen kann es bei einigen Patienten zu plötzlichem akuten Atemversagen kommen, obwohl gar kein massiver Lungenbefall vorliegt. Eventuell könnte ein Befall des Hirnstamms die Ursache sein: Die Invasion könnte von der Nasenschleimhaut über den Riechnerv und olfaktorische Neuronen transsynaptisch Richtung Hirnstamm wandern und dort den Prä-Bötzinger-Komplex erreichen, wo das Atemzentrum liegt. Dazu gibt es einen interessanten Befund aus Greifswald. Es gibt offenbar so etwas wie molecular mimicry: Einige Charakteristika von SARS-CoV2 und der Neuronen in der Prä-Bötzinger-Region sind sich ganz ähnlich. Wir nehmen an, dass das Virus dort andockt und Atemstillstände verursacht. Erste Fälle des gefährlichen Guillain-Barré-Syndroms und dessen Miller-Fisher-Variante wurden auch bereits im Zusammenhang mit COVID-19 publiziert. Damit neurologische Manifestationen gesammelt werden können, hat die Deutsche Gesellschaft für Neurologie ein Register ins Leben gerufen.

Müssen neurologische Manifestationen mehr als Teil der ganzen Krankheit angesehen werden?

Berlit: Ich glaube schon. Man muss das Gesamtgeschehen im Auge behalten, immunologische und nicht immunologische Mechanismen unterscheiden. Ein Sauerstoffmangel durch Atemstillstand kann das Gehirn schädigen. Das Gerinnungssystem wird aktiviert und es entsteht eine erhöhte Thromboseneigung - was wir routinemäßig als Prävention dagegen geben, reicht bei dieser Erkrankung nicht aus. Man wird vermutlich energischer antikoagulieren müssen, um Thrombosen, Lungenembolien und Schlaganfälle zu verhindern. Daneben gibt es Hinweise, dass das Virus auch direkt ins Nervensystem gelangen und eine Enzephalitis auslösen kann. Außerdem haben wir noch die massive Aktivierung des Immunsystems, die zu einer immunogen bedingten Enzephalopathie führen kann. Wenn wir die Hochregulierung des Immunsystems betrachten, könnte es sogar sinnvoll sein, im weitesten Sinne immunmodulatorisch zu behandeln. Solange wir kein Virostatikum haben, werden wir lernen müssen, Patienten mit neurologischen Symptomen je nach Pathogenese zu differenzieren, zu erkennen, wann eine Enzephalopathie droht, zu entscheiden, was durch das Virus, eine Fehlregulation des Immunsystems oder durch eine erhöhte Thromboseneigung ausgelöst wurde, und dann gezielt gegen diese Mechanismen vorgehen.

Das Interview führte Anika Aßfalg, Springer Medizin.

SpringerMedizin.de.

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