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. 2020 Jul 29;115(6):477–485. [Article in German] doi: 10.1007/s00063-020-00708-w

Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie

Klinisch-ethische Empfehlungen der DIVI, der DGINA, der DGAI, der DGIIN, der DGNI, der DGP, der DGP und der AEM

Decisions on the allocation of intensive care resources in the context of the COVID-19 pandemic

Georg Marckmann 1, Gerald Neitzke 2, Jan Schildmann 3, Andrej Michalsen 4, Jochen Dutzmann 5, Christiane Hartog 6,7, Susanne Jöbges 8, Kathrin Knochel 9, Guido Michels 10, Martin Pin 11, Reimer Riessen 12, Annette Rogge 13, Jochen Taupitz 14, Uwe Janssens 15,
PMCID: PMC7387420  PMID: 32728769

Abstract

Angesichts der beginnenden COVID-19-Pandemie haben die deutschen Krankenhäuser ihre intensivmedizinischen Kapazitäten erhöht. Trotz optimaler Nutzung erscheint es möglich, dass die intensivmedizinischen Ressourcen nicht mehr für alle Patienten ausreichen, die ihrer bedürfen. Vor diesem Hintergrund wurden von einer multidisziplinären Autorengruppe und mit Unterstützung von acht medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften Empfehlungen zur Verteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie erarbeitet. Die Empfehlungen zu Verfahren und Kriterien für Priorisierungsentscheidungen bei Ressourcenknappheit wurden auf Grundlage der verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz, ethischer und rechtlicher Überlegungen sowie praktischer Erfahrungen erstellt. Medizinische Entscheidungen müssen sich immer am Bedarf und den Behandlungspräferenzen des einzelnen Patienten orientieren. Ergänzend zu dieser patientenzentrierten Betrachtung kommt mit der Priorisierung bei absoluter Mittelknappheit eine überindividuelle Perspektive hinzu. In dieser Situation sollte die Priorisierung anhand des Kriteriums der Erfolgsaussicht einer Behandlung erfolgen, um die Anzahl der vermeidbaren Todesfälle zu minimieren und eine Diskriminierung von Patienten aufgrund des Alters, von Behinderungen oder des sozialen Status zu vermeiden. Die Einschätzung der klinischen Erfolgsaussicht berücksichtigt den Schweregrad der aktuellen Erkrankung, das Vorliegen schwerer Komorbiditäten und den allgemeinen prämorbiden Gesundheitsstatus des Patienten.

Zusatzmaterial online

Die Onlineversion dieses Beitrags (10.1007/s00063-020-00708-w) enthält Abb. 1 „Dokumentationshilfe zur Priorisierung bei Ressourcenknappheit“ und Abb. 2 „Entscheidungsfindung bei nicht ausreichenden Intensivressourcen“ zum Herunterladen. Beitrag und Zusatzmaterial stehen Ihnen auf www.springermedizin.de zur Verfügung. Bitte geben Sie dort den Beitragstitel in die Suche ein, das Zusatzmaterial finden Sie beim Beitrag unter „Ergänzende Inhalte“.

Schlüsselwörter: Priorisierung, Triage, Ressourcenmangel, Gerechtigkeit, Intensivmedizin

Beteiligte Fachgesellschaften

  • Deutsche Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI)

  • Deutsche Gesellschaft für Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA)

  • Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI)

  • Deutsche Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN)

  • Deutsche Gesellschaft für NeuroIntensiv- und Notfallmedizin (DGNI)

  • Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP)

  • Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP)

  • Akademie für Ethik in der Medizin (AEM)

1. Hintergrund

Angesichts der drohendenden Coronavirus-Disease-2019(COVID-19)-Pandemie haben die deutschen Krankenhäuser ihre intensivmedizinischen Kapazitäten erhöht. Auch bei optimaler Nutzung erscheint es möglich, dass die intensivmedizinischen Ressourcen nicht mehr für alle Patienten ausreichen, die ihrer bedürfen [13, 19]. Der Bedarf an Handlungsorientierung für die resultierenden Konflikte veranlasste die Verfasser in Abstimmung mit den Vorständen der beteiligten Fachgesellschaften die vorliegenden Empfehlungen zur Verteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie zu erarbeiten (vgl. auch die entsprechenden Empfehlungen aus Österreich und der Schweiz, Österreichische Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI) 2020, Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) 2020; [17, 18]). Sie sollen den für die Entscheidungen verantwortlichen Akteuren durch medizinisch und ethisch begründete Kriterien und Verfahrensweisen eine Entscheidungsunterstützung bieten. An der Erstellung waren Fachvertreter aus klinischer Notfallmedizin, Intensivmedizin, Medizinethik, Recht und weiteren Disziplinen beteiligt. Die Kommentatoren sind am Ende dieser Empfehlung genannt.

Die Empfehlungen werden auf der Grundlage neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, praktischer Erfahrungen sowie weiterer relevanter Entwicklungen weiterentwickelt. Die jeweils aktuelle Fassung ist unter www.divi.de und www.awmf.org (S1-Leitlinie, Registernummer 040-013) zu finden [8]. Eine Kommentierung der Empfehlungen ist ausdrücklich erwünscht.

2. Allgemeine Grundsätze der Entscheidungsfindung

Medizinische Entscheidungen müssen sich immer am Bedarf des einzelnen Patienten orientieren (siehe 2.1). Ergänzend zu dieser patientenzentrierten Betrachtung kommt mit der Priorisierung bei Mittelknappheit zusätzlich eine überindividuelle Perspektive hinzu (siehe 2.2).

2.1 Individuelle, patientenzentrierte Entscheidungsgrundlagen

Die Indikation und der Patientenwille bilden die Grundlage für jede patientenzentrierte Entscheidung [12, 15, 16]:

  • Eine Intensivtherapie ist nicht indiziert, wenn
    • der Sterbeprozess unaufhaltsam begonnen hat,
    • die Therapie als medizinisch aussichtslos eingeschätzt wird, weil keine Besserung oder Stabilisierung erwartet wird oder
    • ein Überleben an den dauerhaften Aufenthalt auf der Intensivstation gebunden wäre.
  • Patienten, die eine Intensivtherapie ablehnen, werden nicht intensivmedizinisch behandelt. Dies kann auf der Grundlage des aktuellen, vorausverfügten (z. B. in einer Patientenverfügung), früher mündlich geäußerten oder mutmaßlichen Willens erfolgen. Der Wille kann vom Patienten selbst oder durch seinen rechtlichen Stellvertreter zur Geltung gebracht werden.

2.2 Zusätzliche Entscheidungsgrundlagen bei Ressourcenknappheit

Wenn die Ressourcen nicht ausreichen – weder im eigenen Haus noch regional oder überregional, muss unausweichlich entschieden werden, welche intensivpflichtigen Patienten intensivmedizinisch behandelt und welche nicht (oder nicht mehr) intensivmedizinisch behandelt werden sollen. Bei Ressourcenknappheit können folgende Entscheidungssituationen entstehen:

  • keine intensivmedizinischen Ressourcen, aber Ressourcen in der Notaufnahme (z. B. temporäre Beatmungstherapie bis zur Verlegung);

  • keine intensivmedizinischen Ressourcen, keine Ressourcen in der Notaufnahme, aber Ressourcen in umgebenden Kliniken (z. B. Regelung via überregionale Einsatzleitung des jeweiligen Krisenstabs);

  • keine intensivmedizinischen Ressourcen, keine Ressourcen in der Notaufnahme, keine erreichbaren weiteren Ressourcen.

Wenn nach Prüfung der genannten Situationen keinerlei Ressourcen mehr verfügbar sind, wird eine Einschränkung der sonst gebotenen patientenzentrierten Behandlungsentscheidungen erforderlich. Dies stellt eine enorme emotionale und moralische Herausforderung für das Behandlungsteam dar.

In diesem Fall muss analog der Triage in der Katastrophenmedizin über die Verteilung der begrenzt verfügbaren Ressourcen entschieden werden. Es erfordert transparente, medizinisch und ethisch gut begründete Kriterien für die dann notwendige Priorisierung [11, 14, 21, 22]. Ein solches Vorgehen kann die beteiligten Teams entlasten und das Vertrauen der Bevölkerung in das Krisenmanagement in den Krankenhäusern stärken. Die Priorisierungen erfolgen dabei ausdrücklich nicht in der Absicht, Menschen oder Menschenleben zu bewerten, sondern mit der Zielsetzung, mit den (begrenzten) Ressourcen möglichst vielen Patienten eine Teilhabe an der medizinischen Versorgung unter Krisenbedingungen zu ermöglichen.

Die Priorisierung von Patienten soll sich deshalb am Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht orientieren [18]. Dabei werden – wenn nicht anders vermeidbar – diejenigen Patienten nicht intensivmedizinisch behandelt, bei denen nur eine sehr geringe Aussicht besteht zu überleben. Vorrangig werden demgegenüber diejenigen Patienten intensivmedizinisch behandelt, die durch diese Maßnahmen eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit haben. Die Einschätzung der klinischen Erfolgsaussicht muss für jeden einzelnen Patienten so sorgfältig wie möglich erfolgen.

Die Priorisierung soll immer

  • alle Patienten einschließen, die der Intensivbehandlung bedürfen, unabhängig davon, wo sie gerade versorgt werden (Allgemeinstation, Notaufnahme/Intermediate-Care-Station oder Intensivstation).

Eine Priorisierung ist aufgrund des Gleichheitsgebots

  • nicht vertretbar nur innerhalb der Gruppe der COVID-19-Erkrankten;

  • und nicht zulässig aufgrund des kalendarischen Alters, aufgrund sozialer Merkmale oder aufgrund bestimmter Grunderkrankungen oder Behinderungen.

Hinweis.

Aus verfassungsrechtlichen Gründen dürfen Menschenleben nicht gegen Menschenleben abgewogen werden. Gleichzeitig müssen Behandlungsressourcen verantwortungsbewusst eingesetzt werden. Diese Empfehlungen beruhen auf den nach Einschätzung der Verfasser am ehesten begründbaren ethischen Grundsätzen in einer tragischen Entscheidungssituation: Sie sollen die Anzahl vermeidbarer Todesfälle durch die Ressourcenknappheit minimieren. Eine abschließende juristische Einordnung ist nicht Gegenstand dieser Empfehlungen.

3. Verfahren und Kriterien für Priorisierungsentscheidungen bei Ressourcenknappheit

Die im Folgenden beschriebenen Verfahrensweisen für Priorisierungsentscheidungen gelten nur dann, wenn die intensivmedizinischen Kapazitäten nicht für alle Patienten ausreichen.

In der klinischen Praxis können unterschieden werden:

  1. Entscheidungen, bei welchen Patienten intensivmedizinische Maßnahmen begonnen werden;

  2. Entscheidungen, bei welchen Patienten bereits eingeleitete intensivmedizinische Maßnahmen beendet werden.

Beide Entscheidungen hängen zusammen und für beide Entscheidungen gelten die genannten Kriterien und Verfahren.

Die Entscheidungen sind – ggf. in für COVID-19 adäquaten Intervallen – regelmäßig zu reevaluieren und ggf. anzupassen, insbesondere:

  1. bei klinisch relevanter Zustandsveränderung der Patienten und/oder

  2. bei verändertem Verhältnis von Bedarf und zur Verfügung stehenden Mitteln.

Es ist sicherzustellen, dass eine angemessene (Weiter‑)Behandlung für diejenigen Patienten zur Verfügung steht, die nicht oder nicht mehr intensivmedizinisch behandelt werden können, einschließlich einer ggf. erforderlichen Palliativversorgung [6].

3.1 Verfahren der Entscheidungsfindung

Ein vorab definiertes Verfahren der Entscheidungsfindung mit klar geregelten Verantwortlichkeiten ist Voraussetzung für konsistente, faire sowie medizinisch und ethisch gut begründete Priorisierungsentscheidungen. Daher sollen die Entscheidungen möglichst nach dem Mehr-Augen-Prinzip erfolgen unter Beteiligung

  • von möglichst 2 intensivmedizinisch erfahrenen Ärzten, einschließlich Primär- und Sekundärbehandler beteiligter Fachgebiete,

  • von möglichst einem erfahrenen Vertreter der Pflegenden,

  • ggf. von weiteren Fachvertretern (z. B. klinische Ethik).

Dabei sind Vertreter der Notaufnahme bzw. Aufnahmestation und der Intensivstation zu beteiligen. Nach Möglichkeit sollen die Entscheidungen im Konsens getroffen werden. Zum Umgang mit Dissens sollten die jeweiligen Kliniken angemessene Vorgehensweisen festlegen. Die Entscheidungen sollten in den berufs- und fachgruppenübergreifenden Teams getroffen, transparent gegenüber Patienten, Angehörigen (soweit möglich) und ggf. rechtlichen Stellvertretern kommuniziert und sachgerecht dokumentiert werden (Abb. 1).

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3.2 Kriterien für Priorisierungsentscheidungen

Entscheidungen über eine Priorisierung müssen auf der bestmöglich verfügbaren Informationsgrundlage getroffen werden. Hierzu gehören:

  1. Informationen zum aktuellen klinischen Zustand des Patienten;

  2. Informationen zum Patientenwillen (aktuell/vorausverfügt/zuvor mündlich geäußert/mutmaßlich);

  3. anamnestische/klinische Erfassung von Komorbiditäten;

  4. anamnestische und klinische Erfassung des Allgemeinzustands (einschl. Gebrechlichkeit, z. B. mit der Clinical Frailty Scale);

  5. Laborparameter zu 1. und 3., soweit verfügbar;

  6. prognostisch relevante Scores (z. B. „Sepsis-related Organ Failure Assessment“, SOFA-Score; [20]).

Außerdem sind aktuelle Erfahrungen und Erkenntnisse insbesondere zu Behandlungsmöglichkeiten und Erfolgsaussichten bei COVID-19 zu berücksichtigen.

Im Folgenden werden die Schritte der Entscheidungsfindung und die dabei anzuwendenden Kriterien dargestellt (Abb. 2).

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3.2.1 Entscheidungen über die Aufnahme auf die Intensivstation

Schritt 1: Abklärung der intensivmedizinischen Behandlungsnotwendigkeit.

  • Respiratorisches oder hämodynamisches Versagen

Ergebnisse:

  1. Intensivpflichtig ja Schritt 2

  2. Intensivpflichtig nein Verlegung z.B. auf Allgemeinstation

Schritt 2: Einschätzung der individuellen Erfolgsaussicht des Patienten, also der Wahrscheinlichkeit, die aktuelle Erkrankung durch Intensivtherapie zu überleben.

Die genannten Erkrankungen und Zustände stellen – im Gegensatz zu anderen Triage-Protokollen [3] – keine Ausschlusskriterien für die Behandlung dar. In einer Gesamtschau sollen vielmehr alle wesentlichen die Erfolgsaussicht beeinflussenden Faktoren (aktuelle Erkrankung, Komorbiditäten, allgemeiner Gesundheitsstatus) geprüft werden. Vorerkrankungen sind nur dann relevant, wenn sie die Überlebenswahrscheinlichkeit hinsichtlich der aktuellen Erkrankung beeinflussen. Diese Einschätzung dient auch als Grundlage für eine ggf. notwendige Priorisierung (Schritt 4).

Die folgenden Kriterien stellen – in Abhängigkeit von ihrer Ausprägung – Indikatoren für eine schlechte Erfolgsaussicht intensivmedizinischer Maßnahmen dar:

  • Aktuelle Erkrankung
    • Schweregrad der führenden Erkrankung (z. B. schweres „Acute Respiratory Distress Syndrome“ (ARDS), schweres Polytrauma, schwere Gehirnschädigung)
    • Begleitende akute Organversagen (z. B. anhand des SOFA-Scores ermittelt)
    • Prognostische Marker für COVID-19-Patienten (sobald verfügbar und entsprechend validiert)
  • Komorbiditäten

    Vorhandensein schwerer Komorbiditäten, wenn diese in ihrer Schwere oder Kombination die Überlebenswahrscheinlichkeit bei einer Intensivtherapie erheblich verringern:
    • schwere Organdysfunktion mit prognostisch eingeschränkter Lebenserwartung, z. B. fortgeschrittene Herzinsuffizienz; fortgeschrittene Lungenerkrankungen, z. B. weit fortgeschrittene „Chronic Obstructive Pulmonary Disease“ (COPD) oder beatmungspflichtige chronische respiratorische Insuffizienz; fortgeschrittene Nierenerkrankung; fortgeschrittenes Leberversagen
    • weit fortgeschrittene neurologische Erkrankung
    • weit fortgeschrittene Krebserkrankung
    • schwere und irreversible Immunschwäche
    • Multimorbidität
  • Allgemeiner (prämorbider) Gesundheitsstatus
    • Gebrechlichkeit (z. B. anhand der Clinical Frailty Scale im Rahmen eines geriatrischen Assessments)

Ergebnisse:

  1. Aussichtslosigkeit (fehlende medizinische Indikation) keine Intensivtherapie, adäquate Versorgung einschließlich palliativer Maßnahmen

  2. Erfolgsaussicht besteht Schritt 3

Schritt 3: Einwilligung in die Intensivtherapie prüfen (aktueller, vorausverfügter, zuvor mündlich geäußerter oder mutmaßlicher Patientenwille) nach Aufklärung von Patienten bzw. rechtlichem Vertreter über die Erfolgsaussicht.

Ergebnisse:

  1. Keine Einwilligung keine Intensivtherapie, adäquate Versorgung einschl. palliativer Maßnahmen

  2. Einwilligung oder Patientenwille nicht ermittelbar Schritt 4

Schritt 4: Priorisierung (nur bei nicht ausreichenden Ressourcen!)

  • nach Einschätzung der Erfolgsaussichten der möglichen Intensivtherapie,

  • im Hinblick auf ein realistisch erreichbares, patientenzentriertes Therapieziel,

  • im Vergleich zur Erfolgsaussicht der Intensivtherapie für andere Patienten,

  • unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Kapazitäten.

Ergebnisse:

  1. Vorrangige Behandlung Intensivtherapie

  2. Nachrangige Behandlung Keine Intensivtherapie, adäquate Versorgung einschl. palliativer Maßnahmen

3.2.2 Entscheidungen über Therapiezieländerung bei laufender intensivmedizinischer Behandlung (Reevaluation)

Aus Gerechtigkeitserwägungen sollten bei der Priorisierung alle intensivpflichtigen Patienten gleichermaßen berücksichtigt werden. In Deutschland mag dies bei der Beendigung intensivmedizinischer Maßnahmen im Kontext der Priorisierung an rechtliche Grenzen stoßen (vgl. die Ad-hoc-Stellungnahme des Deutschen Ethikrats zur Coronakrise; [10]). Solche Entscheidungen müssen, da es zum aktuellen Zeitpunkt keine spezifischen rechtlichen Regelungen gibt, von den Akteuren vor Ort verantwortet werden.

Eine Reevaluation sollte bei Veränderungen des Gesundheitszustands des Patienten und bei Veränderungen der Versorgungslage erfolgen und dokumentiert werden. Davon unberührt bleibt, dass die Indikationsstellung für die Fortführung einer intensivmedizinischen Therapie immer regelmäßig kritisch überprüft werden muss.

Schritt 1: patientenzentrierte Prüfung der Intensivtherapie

Ergebnis 1: Voraussetzung für eine Verlegung/Entlassung erfüllt

  • Atmung und Kreislauf sind stabilisiert, Verlegung oder Entlassung von der Intensivstation möglich

    → Verlegung des Patienten von der Intensivstation

Ergebnis 2: Voraussetzung für eine Fortsetzung der Intensivtherapie erfüllt

  • Erwartete oder eingetretene Stabilisierung bzw. Verbesserung der Organdysfunktion(en), weitere intensivmedizinische Behandlung erforderlich

  • Therapieziel erscheint weiterhin realistisch erreichbar

    → Weiter zu Schritt 2: Patient nimmt an Priorisierung teil

Ergebnis 3: Voraussetzungen für eine Beendigung der Intensivtherapie gegeben, z. B.

  • Fortsetzung der Intensivtherapie widerspricht dem (aktuellen, vorausverfügten, früher mündlich geäußerten, mutmaßlichen) Patientenwillen

  • Therapieziel ist nicht mehr realistisch erreichbar

  • Behandlungsversuch mit zuvor festgelegten Erfolgskriterien ist nach Ablauf des vereinbarten Zeitraums gescheitert

  • Fortschreitendes Multiorganversagen

    → Therapiezieländerung: Verlegung des Patienten von der Intensivstation, Weiterbehandlung außerhalb der Intensivstation und palliative Versorgung

Schritt 2: Priorisierung der intensivmedizinischen Versorgung

  • Auf Grundlage der Erfolgsaussichten der laufenden Intensivtherapie unter Berücksichtigung von u. a.

  • Organfunktion unter der Intensivtherapie

  • Verlauf der Grunderkrankung

  • Ansprechen auf die bisherige Therapie

  • Im Vergleich zu anderen Patienten mit intensivmedizinischem Bedarf

  • Unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Ressourcen

Ergebnisse:

  1. Vorrangige Behandlung Intensivtherapie fortsetzen

  2. Nachrangige Behandlung Beendigung der Intensivtherapie, adäquate Versorgung einschl. palliativer Maßnahmen

3.3 Weitere für die Priorisierung relevante Entscheidungssituationen

3.3.1 Präklinische Entscheidungen (z. B. Alten- und Pflegeheime)

Im präklinischen Bereich kommen der sorgfältigen Indikationsstellung für eine Krankenhauseinweisung mit ggf. intensivmedizinischer Behandlung und der Ermittlung des Patientenwillens eine herausragende Bedeutung zu. Eine mögliche Priorisierung von Patienten muss hingegen in den jeweiligen Krankenhäusern erfolgen, da Notarzt und Rettungsdienst nur über eingeschränkte diagnostische Möglichkeiten verfügen und die aktuell verfügbaren Intensivkapazitäten und Zuteilungskriterien nicht hinreichend genau kennen [2].

Wenn möglich sollte im Vorfeld unter Einbeziehung des Hausarztes ermittelt und verlässlich dokumentiert werden, ob eine Krankenhauseinweisung und ggf. die Verlegung auf eine Intensivstation bei einer Verschlechterung des Gesundheitszustands medizinisch indiziert und vom Betroffenen gewünscht ist [9].

3.3.2 Entscheidungen auf der Allgemeinstation

Werden COVID-19-Patienten primär auf eine Allgemeinstation aufgenommen, soll frühzeitig erfasst und dokumentiert werden, ob eine intensivmedizinische Therapie bei möglicher Verschlechterung a) ärztlich indiziert und/oder b) vom Patientenwillen gedeckt ist. Auch hier ist das Mehr-Augen-Prinzip und die Unterstützung der Behandelnden durch erfahrene fachärztliche Kollegen erforderlich, um die intensivmedizinischen Behandlungsteams prospektiv zu entlasten [15].

4. Unterstützungsangebote für alle Mitarbeitenden

Triageentscheidungen können für die beteiligten Mitarbeitenden eine große Herausforderung und Belastung darstellen. Unterstützung für den Entscheidungsprozess und die Kommunikation der Entscheidung sowie Handreichungen zur psychosozialen Unterstützung bieten die folgenden Empfehlungen medizinischer Fachgesellschaften:

Klinisch-ethische Unterstützungsangebote: Zur Rolle von Ethikkomitees und vergleichbaren Gremien im Kontext von Priorisierungsentscheidungen verweisen wir auf das entsprechende Diskussionspapier der Akademie für Ethik in der Medizin [1].

Kommunikationsstrategie: Krankenhäuser und weitere betroffene Einrichtungen sollten in Vorbereitung auf den Krisenfall eine zentrale Kommunikationsstrategie für Patienten und Angehörige entwickeln (vgl. die Formulierungshilfe zur Kommunikation mit Patienten und Angehörigen der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin aus dem Englischen übersetzt; [4]).

Psychosoziale Unterstützung: Zur psychosozialen Unterstützung der Mitarbeitenden sowie der Patienten und ihrer Zugehörigen sind Empfehlungen u. a. von der Deutschen iInterdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI; [7]) und der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin erstellt worden [5].

Infobox Hinweise zur Ausarbeitung dieser Empfehlungen

Beteiligte Expertinnen und Experten (Kommentierung)

Claudia Bausewein, Julian Bösel, Michael Bucher, Hartmut Bürkle, Hilmar Burchardi, Alena Buyx, Stefan Dinges, Christoph Dodt, Gunnar Duttge, Clemens Eickhoff, Frank Erbguth, Andreas Frewer, Georg Gahn, Steffen Grautoff, Tanja Krones, Stefan Meier, Michael Mohr, Friedemann Nauck, Wiebke Nehls, Benedikt Pannen, Stephan Prückner, Lukas Radbruch, Annette Riedel, Fred Salomon, Oliver Sakowitz, Jürgen in der Schmitten, Anna-Henrikje Seidlein, Alfred Simon, Ralf Stoecker, Herwig Stopfkuchen, Daniel Strech, Jochen Vollmann, Christian Waydhas, Eva Winkler, Bernhard Zwißler

Danksagungen

Die Autoren danken allen Beteiligten für ihre zahlreichen Rückmeldungen zur ersten Version dieser Empfehlungen. Sie wurden sorgfältig geprüft und sind in die inhaltlichen Überlegungen für die 2. Fassung eingeflossen.

Caption Electronic Supplementary Material

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

G. Marckmann, G. Neitzke, J. Schildmann, A. Michalsen, J. Dutzmann, C. Hartog, S. Jöbges, K. Knochel, G. Michels, M. Pin, R. Riessen, A. Rogge, J. Taupitz und U. Janssens geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.

Footnotes

2. überarbeitete Fassung der S1-Leitlinie vom 17.04.2020 (AWMF-Registernummer 040-013).

Der Vorstand der Akademie für Ethik in der Medizin unterstützt mit einem Mehrheitsvotum die genannten Empfehlungen.

Die Autoren G. Marckmann, G. Neitzke und J. Schildmann haben gleichermaßen zum Manuskript beigetragen.

Literatur

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