Die COVID-19-Pandemie stellt uns vor große ethische Herausforderungen. Angesichts einer drohenden Überlastung intensivmedizinischer Kapazitäten wurden Empfehlungen zur Verteilung intensivmedizinischer Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin erarbeitet [1]. Die befürchtete Überlastung ist bisher im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern nicht eingetreten, da die Ressourcenbelastung des Gesundheitssystems durch ein frühzeitig geplantes und konsequent umgesetztes Maßnahmenpaket erfolgreich im Rahmen gehalten werden konnte. Es ist daher ein guter Zeitpunkt, auf ein weiteres, nicht weniger dringliches ethisches Problem hinzuweisen: der unklare Patientenwille in der Akutsituation.
In der Notfall- und Intensivmedizin ist der Wille des Patienten der Maßstab der Therapie; jedoch ist er oftmals akut nicht ermittelbar, was in vielen Fällen zur Übertherapie führt. In Deutschland erhalten immer mehr und vor allem ältere Menschen intensivmedizinische Therapie am Lebensende. 2007 erhielt jeder 5. Patient, der im Krankenhaus verstarb, intensivmedizinische Versorgung; 2015 betraf dies bereits jeden 4. Patienten [2]. Es muss bezweifelt werden, dass dies in allen Fällen dem Willen des Patienten entspricht. Die Wahrnehmung von Übertherapie ist weit verbreitet. In einer europäischen Stichtagsumfrage mit fast 2000 Ärzten und Pflegekräften berichtete jeder Vierte über unangemessene Therapie, meist im Sinne von „zu viel“ oder „zu lang“ [3]. Bei einer neueren europäischen Umfrage unter mehr als 4000 Notfall- bzw. Rettungskräften zweifelten 14 % an der Angemessenheit der durchgeführten kardiopulmonalen Wiederbelebung und 8 % hielten sie für Übertherapie [4]. Auch Laien erkennen Übertherapie. Jeder 6. Angehörige von Sepsispatienten empfand nach 3 Monaten, dass zu lang oder zu viel intensivmedizinisch behandelt worden war [5].
Angesichts der aktuellen Pandemie wurde mehr als nur deutlich, dass der Patientenwille in einer solchen Situation eine zentrale Bedeutung besitzt. Unsicherheit über den Patientenwillen und Übertherapie binden nicht nur Ressourcen, die anders sinnvoller eingesetzt würden. Bei erhöhter Nachfrage in der Pandemiesituation verschärft der zusätzliche Stress, wenn über Therapiezieländerungen in der Akutsituation entschieden werden muss, die bereits durch das erhöhte Risiko und die Angst vor Ansteckung erheblichen Belastungen für Ärzte und Pflegekräfte [6]. Dies gefährdet indirekt die Versorgung aller Patienten.
Es müssen deshalb mehr Anstrengungen unternommen werden, um eine Klärung des Patientenwillens für eine eventuelle Akutsituation zu erreichen und zwar bestenfalls, bevor eine solche eintritt [7]. Herkömmliche Patientenverfügungen haben sich in der Akutsituation nicht bewährt [8]. Eine neue Form der schriftlichen Vorausverfügung stellt das in Deutschland noch wenig bekannte Konzept des „Advance Care Planning“ (ACP) dar. Die Zentrale Ethikkommission der Bundesärztekammer hat Ende 2019 eine Stellungnahme zu ACP veröffentlicht [9]. ACP soll „Menschen dabei unterstützen, Wünsche und Vorstellungen für zukünftige medizinische Situationen zu bilden, auf dieser Basis wohlüberlegte Entscheidungen zu treffen und diese so zu dokumentieren, dass Behandlungen auch dann verlässlich gemäß dem eigenen wohlerwogenen Willen durchgeführt werden, wenn dieser nicht mehr geäußert werden kann“ [9]. Im deutschsprachigen Raum gibt es eine Vielzahl von Entwicklungen; gemeinsam ist ihnen eine strukturierte Beratung durch qualifiziertes Gesundheitsfachpersonal mit dem Ziel der Erstellung von ACP-Dokumenten für bestimmte medizinische Situationen. Es gibt Konzepte für das ambulante Setting in Senioreneinrichtungen und Pflegeheimen (z. B. „beizeiten begleiten“ bzw. https://www.div-bvp.de/) oder für die regionale Notfallversorgung (z. B. Berliner Notfallverfügung, https://www.berlin.de/sen/pflege/pflege-und-rehabilitation/coronavirus/aktuelles/). In der deutschsprachigen Schweiz wird ACP auch im Krankenhaus bei Patienten eingesetzt; das Schweizer Modell wurde bereits im Rahmen einer kontrolliert-randomisierten Pilotstudie erfolgreich evaluiert [10].
ACP-Gespräche haben typischerweise eine bestimmte Struktur [9]. Zunächst wird die Einstellung zu Leben, schwerer Krankheit und Sterben ermittelt. Dabei werden die „roten Linien“ verdeutlicht bzw. mögliche Behandlungsergebnisse, die für einen Menschen nicht mehr erstrebenswert sind. Diese allgemeinen Einstellungen können später behandelnden Ärzten und Patientenvertretern dazu dienen, den Patientenwillen in einer Krise zu ermitteln. Darauf aufbauend entwickeln Gesprächsbegleiter zusammen mit den Menschen Therapieziele für typische Entscheidungssituationen, die in der Realität eintreten und aufeinander folgen können, wobei sich das persönliche Therapieziel entsprechend ändern kann. Dazu gehören die Behandlung im Notfall, die akutstationäre Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung mit anhaltender Einwilligungsunfähigkeit von unklarer Dauer, z. B. in der Folge einer notfallmäßigen oder elektiven Intervention, und die Behandlung bei dauerhafter Einwilligungsunfähigkeit. Für jede dieser Entscheidungssituationen kann festgelegt werden, welche Zielsetzung (Lebensverlängerung, eingeschränkte Lebensverlängerung oder palliative Therapie) verfolgt werden soll [9].
Die COVID-19-Krise sollte für Intensivmediziner und klinische Ethiker Anlass sein, ACP-Konzepte auch im stationären Bereich zu entwickeln und umzusetzen. Gelegenheit für ACP besteht (1) im Rahmen der Prämedikation, wo vulnerable Patienten und ihre Angehörigen vor geplanten Eingriffen beraten werden können, (2) auf der Intensivstation, wo bei Fehlen von aussagekräftigen Vorausverfügungen eine Beratung mit Patientenvertretern durchgeführt werden kann, um im Rahmen einer „Vertreterdokumentation“ den mutmaßlichen Patientenwillen strukturiert zu ermitteln, und (3) im Rahmen der Beratung und Nachsorge von Patienten mit Postintensivstationssyndrom, um ggf. geänderte Therapieziele mit Patienten und Angehörigen zu klären. Zukünftig gilt es hier auch mit den niedergelassenen Haus- und Fachärzten ein geeignetes Modell zu erarbeiten, um die spezifisch intensivmedizinische Beratungsexpertise auch sektorenübergreifend anbieten zu können. Die dafür notwendigen Ressourcen, insbesondere für die Ausbildung und den Einsatz von ACP-Spezialisten und die Mittel für Begleitforschung sollten gerade jetzt in Pandemiezeiten bereitgestellt werden.
Interessenkonflikt
C.S. Hartog, C.D. Spies, S. Michl und U. Janssens geben keine Interessenkonflikte im Rahmen des besprochenen Themas an.
Literatur
- 1.Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin e. V. (DIVI) (2020) Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie – Klinisch-ethische Empfehlungen. S1 Leitlinie. AWMF-Registernummer 040-013. Verfügbar unter https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/040-013.html
- 2.Fleischmann-Struzek C, Mikolajetz A, Reinhart K, et al. Hospitalization and intensive therapy at the end of life. Dtsch Arztebl Int. 2019;116(39):653–660. doi: 10.3238/arztebl.2019.0653. [DOI] [PMC free article] [PubMed] [Google Scholar]
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- 9.Stellungnahme der Zentralen Kommission bei der Bundesärztekammer „Advance Care Planning (ACP)“ (2019) Deutsches Ärzteblatt. DOI: 103238/arztebl2019zeko_sn_acp_01. https://www.zentrale-ethikkommission.de/ACP2019
- 10.Krones T, Budilivschi A, Karzig I, et al. Advance care planning for the severely ill in the hospital: a randomized trial. BMJ Support Palliat Care. 2019 doi: 10.1136/bmjspcare-2017-001489. [DOI] [PMC free article] [PubMed] [Google Scholar]