Abstract
Mit der gesetzlichen Einführung der Vorsorgeuntersuchung für Kinder (U1 bei der Geburt bis U9 im Alter von 5 Jahren) im Jahre 1971 sah sich die Kinderheilkunde vor die Aufgabe gestellt, neben der bisherigen ärztlichen Betreuung kranker Kinder auch den Entwicklungsstand eines Kindes beurteilen zu müssen. Eltern erwarten heute zu Recht, dass eine unauffällig verlaufende Entwicklung ihres Kindes kinderärztlich bestätigt, dass aber auch eine gefährdete oder bereits gestörte Entwicklung sicher erkannt wird. Die Entwicklungspädiatrie erarbeitet daher Methoden, die Kinderärztinnen und Kinderärzte befähigen, den Entwicklungsstand eines Kindes, auch unter zeitlich limitierten Praxisbedingungen zu beurteilen. An erster Stelle müssen daher für die Praxis Techniken zur Verfügung stehen, die die Aufmerksamkeit darauf lenken, und die den Schluss erlauben, die Entwicklung eines Kindes könnte bedroht sein oder es könne, von seiner Anamnese her, ein höheres Risiko für eine Entwicklungsstörung tragen.
Entwicklungspädiatrie und Entwicklungsneurologie
Nach dem Schweizer Entwicklungspädiater Remo Largo ist das „Kerngeschäft“ einer modernen Kinderheilkunde die Entwicklungsbeurteilung von Kindern in den ersten 6 Lebensjahren. Denn keine anderen Disziplinen, die sich nur um Teilaspekte der Entwicklung von Kindern kümmere (wie z. B. die Sprachwissenschaften oder die Entwicklungspsychologie oder die auf ein bestimmtes Defizit bezogenen therapeutischen Disziplinen), hätten, wie die Kinderärzte, mit der Vorsorgeuntersuchung die einmalige Chance, ein Kind in der Gesamtheit seiner physiologischen, motorischen, sprachlichen, kognitiven, sozialen und emotionalen Entwicklung, aber auch in seinem familiären, ökologisch-sozialen Umfeld, zu beurteilen. Diese Aufgabe könne nur von Kinderärztinnen und Kinderärzten in der Praxis geleistet werden. Daher hat sich heute der Begriff einer Entwicklungspädiatrie durchgesetzt.
Die Entwicklungspädiatrie soll vermitteln:
Daten und Kenntnisse über die normale Entwicklung von Kindern,
die Risiken und Symptome einer auffälligen oder bereits manifest gestörten Entwicklung,
das professionelle Wissen über notwendige therapeutische Konsequenzen, deren Verordnung und die Kontrolle ihrer Effektivität.
Die Entwicklungsneurologie hat dagegen die Aufgabe, neben den genannten Kenntnissen einer Entwicklungspädiatrie
die altersgebundene, sich rasch ändernde neurologische Symptomatik der Kinder im Säuglings- und Vorschulalter untersuchen zu können,
für manifeste Entwicklungsstörungen eine klinische Diagnose, eine klinische Entität zu finden,
Störungen der motorischen, sprachlichen, kognitiven, sozialen und emotionalen Entwicklung genauer zu beschreiben und mit Screening- oder Testverfahren zu sichern,
weiterführende neuropsychologische, neurophysiologische, neurometabolische, bildgebende und diagnostische Verfahren zu veranlassen,
humangenetische und molekulargenetische Diagnostik, wo notwendig, einzuleiten,
eine humangenetische Beratung, wenn notwendig, sicherzustellen und
therapeutische Strategien auszuwählen, zu verordnen und deren Effektivität kontinuierlich zu überprüfen und, wenn notwendig, zu korrigieren.
Die normale Entwicklung
In der kinderärztlichen Praxis erfolgt die Entwicklungsbeurteilung nach weitgehend festgelegten Entwicklungspfaden. Diese sind in den verschiedenen Entwicklungstests und Screenings im Prinzip die gleichen, wenn auch gelegentlich in unterschiedlichen Kombinationen:
Körpermotorik,
Hand- und Fingermotorik (Feinmotorik der Finger und Hände),
kognitive Entwicklung (geistige Kompetenz),
Sprachentwicklung (rezeptiv und expressiv),
sozioemotionale Entwicklung (soziale und emotionale Kompetenz),
Selbstständigkeit in der eigenen Lebensführung.
In dem hier vorgegebenen Rahmen können nur die großen Linien der frühen kindlichen Entwicklung dargestellt werden. Zwei grundsätzliche Theorien der kindlichen Entwicklung müssen jedoch diskutiert werden. Abhängig von der gewählten theoretischen Basis ergeben sich gravierende Unterschiede und Konsequenzen in der Beurteilung der individuellen kindlichen Entwicklung. Die für die praktische Entwicklungsbeurteilung verwendete theoretische Grundlage entscheidet nämlich, wie die Entwicklung eines Kindes beurteilt wird: auffällig, pathologisch oder normal.
Widersprechende Entwicklungstheorien
Hierarchisch-lineare Entwicklungstheorie
Dieses Entwicklungskonzept geht davon aus, dass die kindliche Entwicklung in streng zeitlich und hierarchisch geordneten Stufen verläuft, was nur mit einer weitgehend genetischen Steuerung der Entwicklung möglich ist. Lernen, Erfahrungen, die Umwelt eines Kindes spielen in einem solchen Kontext nur eine geringe Rolle. Bei allen Kindern in der Welt müssten dann aber konsequenterweise auch die gleichen zeitlichen und funktionellen Entwicklungsverläufe gefunden werden, da alle Menschen, biologisch gesehen, von einer Art sind. Als Beispiel sei hier die Entwicklung der Körpermotorik und der Sprache dargestellt:
Körpermotorik: Rücken- oder Bauchlage → Seitrollen → Sitzen → 4-Füßlerstand → Krabbeln → Hochziehen zum Stehen → Stehen mit Festhalten → Gehen mit Festhalten → freies Gehen.
Sprachentwicklung: Spontane Artikulation → Lippenschlusslaute → Silbenketten → Silbenverdopplung (z. B. da-da, ba-ba) → Symbolsprache (z. B. wau-wau für einen Hund, nam-nam, für Essen) → 1-Wortsprache → 2-Wortsprache → 3- bis 5-Wortsprache → Sätze mit Wortreihungen → grammatikalisch korrekte Sprache.
Um eine normal verlaufende Entwicklung zu garantieren, muss jeder Entwicklungsschritt zu einem festgelegten Zeitpunkt absolviert sein, kein Entwicklungsschritt darf ausgelassen werden, die Reihung des Ablaufs muss eingehalten werden. Entspricht die Entwicklung nicht diesem genetisch vorgegebenen Schema, muss sie in diesem Konzept als auffällig oder als pathologisch gewertet werden. Ein solches Kind benötigt dann aber auch eine Entwicklungstherapie, mit der die Entwicklungsstufen nachgeholt werden müssen, um sie wieder in die scheinbar naturgewollte Reihungen zu bringen.
Das Konzept einer hierarchisch-linear strukturierten Entwicklung geht auf den Entwicklungspädiater Arnold Gesell zurück, der es, basierend auf einer Vielzahl von Studien zur Entwicklung von Kleinkindern, in den 1930er und 1940er Jahren an der Yale-Universität in den USA entwickelt und propagiert hat. Sein Konzept ist bis heute Grundlage so gut wie aller Entwicklungstests für Kleinkinder, nicht nur in der Kinderheilkunde, auch in der Testpsychologie und in der Pädagogik. Mit einem solchen Entwicklungskonzept sollen Entwicklungsschritte, da zeitlich festgelegt, in ihrer Abfolge gut voraussagbar sein – ein scheinbar für die Praxis erheblicher Gewinn an Zeit- und Untersuchungsaufwand.
Individuell-variante Entwicklungstheorie
Das unbefangene, theoriefreie Beobachten der Entwicklung eines individuellen Kindes zeigt jedoch sehr häufig Abweichungen von einer hierarchisch-linearen Ordnung der Entwicklung (Abb. 6.1). Ein Kind antwortet in seiner Entwicklung auf seine Umweltbedingungen (z. B. Sahara oder polare Eiswelt), auf die soziale Bindungskonditionen (Kernfamilie, Familienverband) und auf die daraus entstehenden Zwänge, bestimmte motorische, kognitive und soziale Fähigkeiten zu erlernen, die in einem bestimmten kulturellen Kontext gebraucht werden. Der Entwicklungsverlauf eines Kindes reagiert darauf adaptiv und individuell; abhängig aber auch von den genetischen, angeborenen Verhaltens-, Begabungs- und Körperqualitäten, die das Kind von seinen Eltern und Ahnen als Erbe in seiner Genstruktur mitbekommen hat. Insgesamt bestimmt also ein individueller Mix von Genetik, Erfahrung und Lernen die Entwicklung eines Kindes.
Eine Entwicklungsbeurteilung in der kinderärztlichen Praxis wird dadurch zwar sehr viel komplizierter, vieldeutiger und schwieriger sein, erfasst aber dafür die Komplexität der kindlichen Entwicklung sehr viel genauer und realistischer. Variante Entwicklungsverläufe sind dann aber nicht mehr auffällig oder pathologisch, sondern gehören prinzipiell zu einer normalen Entwicklung. Die Unterschiede dieser beiden Konzepte sind evident und die Konsequenzen daraus diametral unterschiedlich. Wenn Entwicklung derartig komplex verläuft, wie soll es dann möglich sein, in der kinderärztlichen Praxis die „Normalität“ einer individuellen Entwicklung eines Kindes festzustellen? Das gelingt mit dem Prinzip der sog. Grenzsteine der Entwicklung und über die Festlegung definierter Entwicklungsziele.
Definierte Entwicklungsziele
Da ein hierarchisch-lineares Entwicklungsmodell viele Phänomene der individuellen kindlichen Entwicklung nicht zu erklären vermag, setzt sich für klinisch-pädiatrische Zwecke immer mehr ein Modell durch, das bestimmte Entwicklungsabläufe zeitlich auf ein bestimmtes Alter festlegt, bei dem 90–95% aller unauffällig sich entwickelnden Kinder einer definierten Population ein definiertes Entwicklungsziel erreicht haben. So können z. B. süddeutsche und deutsch-schweizerische, gesunde Kinder zu 95% spätestens mit dem 9. Monat sicher und frei sitzen, mit 18 Monaten haben sie das freie Gehen sicher erlernt. Dabei ist es gleichgültig auf welchen Wegen, hierarchisch oder nichthierarchisch individuell, sie dieses Entwicklungsziel erreicht haben.
Grenzsteine der Entwicklung
Die Bestimmung der Grenzsteine eines Kindes in einem bestimmten Alter ist kein Entwicklungstest und auch keine Diagnose. Grenzsteine der Entwicklung sind ausschließlich Warnsignale, ein Kind den Eltern gegenüber, aber auch kinderärztlich, nicht einfach nur als Spätentwickler zu bezeichnen. Sie sollen verhindern, dass nur zugewartet wird, mit der Hoffnung, das Kind werde schon noch in seiner Entwicklung „aufholen“.
Bei einem Kind, das mit dem Erwerb einer bestimmten Fähigkeit die vorgegebene Grenzsteinzeit überschreitet, muss intensiv nach der Ursache dieser Retardierung gesucht werden.
Diese Zeitüberschreitung kann einen schwerwiegenden Grund haben, sie kann aber auch nur vorübergehend sein, wofür dann aber Gründe gefunden werden müssen, die überzeugen. Das Prinzip der Grenzsteine ist vor allem zur Anwendung in der kinderärztlichen Praxis erarbeitet worden. Es sagt, im Gegensatz zu psychologischen Entwicklungstests, nichts über Kinder aus, die sehr früh ihre Grenzsteine erreichen. Ziel ist nur, die Aufmerksamkeit in der Praxis für mögliche Entwicklungsverzögerungen und deren Folgen zu sensibilisieren.
In der Tab. 6.1 sind Grenzsteine für die Entwicklungsschritte am Ende des 18. Monats, in der Tab. 6.2 die für das Ende des 3. und in der Tab. 6.3 die für das 5. Lebensjahr angegeben. Die Auswahl aus einer Grenzsteinliste vom 6. Lebensmonat bis zum Ende des 6. Lebensjahres ist nicht zufällig, sie erfasst Kinder in besonders bedeutsamen Entwicklungsphasen:
Mit dem Alter von 18 Monaten sollten alle Entwicklungsziele des Säuglingsalters erreicht sein.
Am Ende des 3. Lebensjahrs sollten Kinder zu einer gewissen Selbstständigkeit fähig sein und über einen bereits deutlich kompetenten Spracherwerb und über eine beginnende sozioemotionale Kompetenz verfügen; sie beginnen sich zu selbst handelnden Individuen zu mausern.
Am Ende des 5. Lebensjahrs steht die kinderärztlich relevante Frage im Raum, ob ein Kind Entwicklungsauffälligkeiten zeigt, die auf Schwierigkeiten bei der sozialen und schulischen Integration hinweisen könnten, und ob sie die schulische Leistungsfähigkeit (z. B. durch Lese- oder Rechtschreibschwächen) gefährden könnten.
Körpermotorik | Freies Gehen mit sicherer Gleichgewichtskontrolle. Treppen werden bewältigt mit Nachstellschritten, mit Festhalten am Geländer oder an der Hand Erwachsener |
Hand- und Fingermotorik | Gegenstände, vom Kind in Händen gehalten, werden auf Verlangen hergegeben oder in ein Gefäß hineingetan und wieder herausgeholt. Zeigefinger wird gezielt zum Manipulieren eingesetzt |
Sprache | Symbolsprache (z. B. wau-wau für Hund, nam-nam für Essen). „Dialogisches Reden“ mit Bindungspersonen. Korrekte und teilkorrekte 1-Wortsprache wird zur Kommunikation verwendet. |
Kognitive Entwicklung | Turm aus 2–4 Holzklötzchen wird gebaut. Genaues Betrachten von Bildern in altersentsprechenden Bilderbüchern; Zeigen auf Bekanntes in Bilderbuch und in der nahen Umwelt. Kann sich für 20–30 min selbst beschäftigen |
Sozialisation | Noch kein Zusammenspiel mit anderen Kindern, jedes Kind spielt für sich. Gerne jedoch mit anderen Kindern zusammen. Kind versteht „nein“, hält mindestens einen Augenblick inne, befolgt (meist) Verbot |
Emotionale Entwicklung | Stabile Gebundenheit an Bezugspersonen. Bezugsperson kann sich für 1–2 h vom Kind trennen, wenn es während dieser Zeit von gut bekannter Person betreut wird (Baby-Sitter, Großeltern) |
Körpermotorik | Beidseitiges Abhüpfen von einer untersten Treppenstufe, mit sicherer Gleichgewichtkontrolle. Rennen mit deutlichem Armschwung und Umsteuern von Hindernissen |
Hand- und Fingermotorik | Buch- oder Katalogseiten werden einzeln sorgfältig umgeblättert. Präziser 3-Fingerspitzgriff (Daumen, Zeige- und Mittelfinger) zur Manipulation kleiner Gegenstände |
Sprache | 3- bis 5-Wortsätze. Keine Aussprachefehler bei allen Buchstaben, Lauten und Konsonanten |
Kognitive Entwicklung | Malen und Kritzeln. Wenn auch noch wenig gestaltet, kommentiert Kind, wen oder was es gemalt hat. Konzentriertes, anhaltendes Spielen für mindestens 30 min, mit Puppen, Autos, Bausteinen, Lego, Playmobil u. ä. Ahmt Tätigkeiten Erwachsener in Rollenspielen nach |
Sozialisation | Gemeinsame Spiele für mindestens 20–30 min mit anderen Kindern. Sprechen, Austausch von Gegenständen. Kind will bei häuslichen Tätigkeiten gerne helfen, ahmt Tätigkeiten Erwachsener im Rollenspiel nach |
Emotionale Entwicklung | Kind kann für einige Stunden bei ihm bekannten Personen auch außerhalb seines Zuhauses, ohne seine Bezugsperson bleiben |
Körpermotorik | Treppen werden auf-/absteigend ohne Festhalten im Wechselschritt bewältigt. Bälle (etwa 20 cm Durchmesser) können mit Händen, Armen, Körper aufgefangen werden, wenn aus etwa 2 m Entfernung zugeworfen |
Handmotorik | Schere kann benützt werden, einfaches Basteln, Kleben möglich. Malen von Baum, Haus, Mensch mit den wichtigsten Charakteristika möglich. Einzelne Buchstaben, Zahlen, Namen können mit Großbuchstaben geschrieben werden |
Sprache | Fehlerfreie Aussprache. Erlebtes wird in logisch und zeitlich korrekter Reihenfolge berichtet; richtige, aber noch grammatikalisch einfach strukturierte Sätze. Keine Aussprachefehler |
Kognitive Entwicklung | Grundfarben werden gekannt und benannt. Kennt Oberbegriffe: Tiere, Pflanzen, Nahrungsmittel, Kleidung. Fahrzeuge können mit einem altersgemäßen Bilderbuch erfragt werden |
Sozialisation | Kooperation im Spiel mit anderen Kindern, Spielregeln werden befolgt. Kind kann Spielzeug, Süßigkeiten u. ä. zwischen sich und anderen gerecht aufteilen. Lädt Kinder zu sich ein, wird selbst eingeladen |
Emotionale Entwicklung | Keine Schwierigkeiten, sich von Bezugspersonen über Stunden oder über Nacht zu trennen, wenn Betreuung durch gut bekannte Personen garantiert ist. Kind kann auch über beschämende, frustrierende, unerfreuliche Ereignisse berichten |
Bei Kindern, die in bestimmten Entwicklungsbereichen nach dem „Grenzsteinprinzip“ ein Entwicklungsziel nicht zeitgerecht erreichen, sind diagnostische Überlegungen zu den Ursachen der Entwicklungsverzögerung notwendig. Auszuschließen sind neurodegenerative und neuromuskuläre Erkrankungen, eine sich anbahnende Behinderung und eine in der Familie weitere Kinder gefährdende genetische Konstellation.
Risikofaktoren für die kindliche Entwicklung
Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten in einer kinder- und jugendärztlichen Praxis. Sie versorgen und betreuen viele akut kranke Kleinkinder. Sie führen aber auch bei Kindern dieser Altersgruppe die Vorsorgeuntersuchungen durch. Allerdings können Sie sich jedoch nicht darauf verlassen, mit dieser auch die Kinder herauszufinden, denen Entwicklungsauffälligkeiten drohen oder die bereits manifeste Entwicklungsstörungen zeigen. Effektiver wäre es, schon von Geburt an v. a. die Kinder zu kennen, die ein höheres statistisches Risiko für eine Entwicklungsstörung oder für eine lebenslange Behinderung tragen. Effektiv wäre es für Sie außerdem, wenn Ihnen eine Liste von Symptomen zur Verfügung stünde, die Ihre Aufmerksamkeit gezielt auf drohende oder bereits manifeste Entwicklungsauffälligkeiten lenken würde. Und schließlich wäre Ihnen eine Sammlung von Fragen hilfreich, mit denen Sie gezielt die Eltern nach bestimmten Auffälligkeiten fragen könnten. Haben Sie solche Such- und Fragestrategien nicht zur Hand, wird Ihnen das Entdecken von Entwicklungsauffälligkeiten nur mit einer Art Zufallsprinzip höchst unzulänglich gelingen. Drei Strategien zur Realisierung und Sicherung von Risikofaktoren für die kindliche Entwicklung sollen daher, für die Praxis umsetzbar, dargestellt werden:
anamnestische Risikofaktoren,
symptomatische Risikofaktoren,
sozial bedingte Risikofaktoren.
Anamnestische Risikofaktoren
Mit anamnestischen Risikofaktoren belastete Kinder tragen ein statistisch höheres Risiko für Entwicklungsstörungen, gegenüber Kindern ohne ein solches. Sie sind jedoch in ihrer Entwicklung stets als unauffällig anzusehen, solange sie keine Symptome einer Entwicklungsstörung bieten. Haben solche Kinder gelernt, sich frei sicher und aufrecht zu bewegen und sind auch die Sprachentwicklung und die geistige Entwicklung bis zum Schuleintritt unauffällig, kann die anamnestische Risikoanamnese ad acta gelegt werden. Kinder mit einer Risikoanamnese sollten jedoch in den ersten 3 Lebensjahren häufiger als es die Vorsorgeuntersuchungen vorschreiben, in ihrer Entwicklung überwacht werden, je nach unauffälligen oder auffälligen Befunden in einem ¼- bis ½-jährigen Rhythmus. Anamnestische Risikofaktoren ergeben sich ganz vorwiegend aus der mütterlichen Anamnese, der Anamnese der Schwangerschaft, der Geburt und der Anamnese der 1. Lebenswochen.
Anamnestische Risikofaktoren der Schwangerschaft und Geburt
Mütter mit sozial unterprivilegiertem Status
Mütter mit Drogen-, Arzneimittel-, Alkohol- oder Nikotinabusus
Mütter mit chronischen Erkrankungen, die eine kontinuierliche Medikamenteneinnahme erfordern (z. B. Diabetes mellitus, Epilepsie, Gerinnungsstörungen)
Erhebliche Blutungen oder eine manifeste Gestose während der Schwangerschaft
Schwere Infektionskrankheiten der Mutter während der Schwangerschaft, neonatale Infektionen des Kindes
Frühgeburtlichkeit (<36 Wochen) und extreme Frühgeburtlichkeit (<30. Woche)
Hypotrophie zum Geburtstermin (Gewicht <3. Perzentile für das Gestationsalter)
Mehrlinge
Schwere natale/neonatale Asphyxie mit hypoxisch-ischämischer Enzephalopathie
Schwere natale, neonatale, postnatale Komplikationen (Atemnotsyndrom, Sepsis, maschinelle Beatmung, rezidivierende Apnoen, Operationen mit Komplikationen, Neugeborenenkrämpfe)
Bleibende pathologische sonographische und/oder magnetresonanztomographische Befunde am Gehirn
Anamnestische Risikofaktoren in den ersten Lebensjahren
Schwere Erkrankungen, mehrfache Operationen, längere Krankenhausaufenthalte, chronische Erkrankungen (angeborene Herzfehler, Mukoviszidose u. ä.)
Schwere allergische Erkrankungen
Physische und psychische Vernachlässigung, soziale Isolation
Häufig wechselnde Bezugspersonen, wechselnde Pflegschaften
Armut, sozial unterprivilegierter Status der Eltern
Risikofaktoren für Entwicklungsstörungen bedeuten keineswegs, dass die davon betroffenen Kinder auch tatsächlich entwicklungsbeeinträchtigt sein werden. Solche Kinder benötigen jedoch in den ersten Lebensjahren eine regelmäßige und sorgfältige kinderärztliche Überwachung.
Symptomatische Risikofaktoren
Bestimmte Symptome, die bei Entwicklungskontrollen eines individuellen Kindes gefunden werden, müssen ebenfalls als Hinweise auf eine gefährdete Entwicklung beachtet werden. Kinder mit Risikosymptomen sind, wie die mit anamnestischen Risikofaktoren, in ihrem Entwicklungsgang zeitlich eng und sorgfältig zu überwachen, solange bis sicher ist, dass die Entwicklung des betreffenden Kindes unauffällig verläuft oder bis sich Symptome einer auffälligen Entwicklung manifestiert haben. Solche Faktoren sind:
Symptomatische Risikofaktoren
Mikrozephalie (Kopfumfang <3. Perzentile)
Untergewicht, Minderwuchs (<3. Perzentile von Körperwicht, Körperlänge)
Dysmorphien (als Hinweis auf eine mögliche Syndromerkrankung)
Kinder mit Regulationsstörungen (exzessives Schreien, Einschlaf- und Schlafstörungen, Fütter- und Gedeihstörungen)
Trinkschwäche, Nahrungsverweigerung
Kinder mit anhaltender dysphorischer Stimmungslage
Anhaltende Schlafstörungen, nächtliche Angstanfälle, Alpträume
Neurologisch auffällige Befunde
Neurologisch auffällige Befunde
Mit einer, dem Alter angemessenen, neurologischen Untersuchung können weitere Symptome einer bedrohten motorischen und neurologischen Entwicklung gewonnen werden. Allerdings taugt die klassische neurologische Untersuchung des Erwachsenen und des älteren Kindes nicht zur Untersuchung 1- und 2-jähriger Kinder. Die Suche nach der Lokalisation einer zentralen Läsion ist in diesem Lebensalter nur selten möglich. Effektiver ist eine Neurologie, die das in diesem Alter sich rasch ändernden neurologischen Verhalten zu erfassen vermag, einer Neurologie, die daher v. a. nach Symptomen funktioneller Störungen des ZNS sucht. Eine solche Neurologie wurde von Prechtl in den 1960er und 1970er Jahren für Neugeborene entwickelt. Sie lässt sich jedoch prinzipiell und mit Änderungen auch auf die Altersgruppe der 1-und 2-Jährigen übertragen. Untersucht wird mit einer solchen Neurologie:
die Haltungskontrolle von Rumpf und Kopf in verschiedenen Positionen (Bauchlage, Rückenlage, Sitzen, schwebende Bauchlage),
die spontanen motorischen Aktivitäten,
der aktive und passive Muskeltonus der Arme, Beine, des Rumpfs und des Nackens,
Muskeleigen- und Fremdreflexe,
neonatale motorische Automatismen, wie u. a. die Moro-Reaktion, der Greifreflex der Hände und Zehen, der Galant-Reflex, der asymmetrische tonische Nackenreflex,
provozierte posturale Reaktionen (Abfangreaktionen der Arme und Hände, Landau-Reaktion, Kopf- und Rumpfkontrolle beim Hochziehen zum Sitzen aus Rückenlage),
Hirnnerven und Augenmotorik,
zerebrale Anfälle,
Seh- und Hörfähigkeit.
Zu den Details der neurologischen Untersuchung muss auf die kinderneurologische Literatur verwiesen werden. Mit der beschriebenen funktionell orientierten Neurologie lassen sich Störungen nachweisen wie:
Störungen der Kontrolle und Steuerung des Muskeltonus (Hypotonie, Hypertonie),
Veränderungen des Verhaltenszustands (Apathie, Übererregbarkeit, ruhiges Wach-Sein, Tief- und REM-Schlaf),
Störungen der spontanen Motorik (überschießend, bewegungsarm),
Asymmetrien in Haltung und Bewegung,
gestörte Haltungskontrolle,
Hyperexzitabilität und Hypoexzitabilität (erhöhte oder erniedrigte Erregbarkeitsschwelle des Zentralnervensystems),
pathologische Reflexbefunde,
persistierende neonatale motorische Automatismen über den 6. Lebensmonat hinaus,
Hirnnervenausfälle,
pathologische Bewegungsmuster,
zerebrale Anfälle,
Hör- und Sehbeeinträchtigungen.
Mögliche Ursachen
Die Ursachen einer Mikrozephalie, eines Minderwuchses und eines Untergewichts sind zu eruieren. Dysmorphe Stigmata weisen in Richtung syndromatologischer Bilder und bedürfen einer weiteren genetischen Abklärung. Bewegungsarmut, muskuläre Hypotonie und Schwäche sowie mangelhafte Rumpf-Kopf-Kontrolle sind bei neuromuskulären Erkrankungen (z. B. spinale Muskelatrophien) wegweisende Symptome. Eine Entwicklungsdynamik mit Stagnation, neu auftretenden neurologischen Zeichen und ggf. Regression weisen in die Richtung neurodegenerativer Erkrankungen. Trinkschwäche, Nahrungsverweigerung und Gedeihstörungen können organische aber auch psychisch-emotionale Ursachen haben, nach ihnen ist zu suchen. Eine muskuläre Hypertonie mit dem Nachweis weiterbestehender neonataler motorischer Automatismen und mit gesteigerten Muskeleigenreflexen könnte auf eine spastische Zerebralparese hinweisen oder auf bestimmte Formen einer seltenen neurodegenerativen Erkrankung. Zerebrale Anfälle bedürfen einer sofortigen Diagnostik und adäquaten Therapie.
Dem Verdacht einer Hör- oder Sehstörung muss ebenfalls sofort mit der Hilfe fachspezifischer Untersuchungen nachgegangen werden. Auch heute kommt es vor, dass Hör- und Sehstörungen viel zu spät erkannt werden, obwohl eine frühe Diagnose und Therapie gerade bei diesen Ausfällen für die Prognose eines betroffenen Kindes entscheidend sind.
Dem Verdacht einer familiären neurodegenerativen, neurometabolischen oder neuromuskulären Erkrankung muss sofort nachgegangen werden, nicht zuletzt wegen der Gefahr, dass nachfolgend geborene Kinder ebenfalls von einer solchen Erkrankung betroffen sein könnten (genetische Beratung der Eltern!).
Sozial bedingte Risikofaktoren
In der Vergangenheit wurden in den entsprechenden Lehrbüchern als Risikofaktoren für Entwicklungsstörungen vorwiegend perinatale Entwicklungsgefährdungen behandelt, also schwangerschafts- und geburtsbedingten Komplikationen und die der Frühgeburtlichkeit. Inzwischen existieren viele überzeugende Untersuchungen, die zeigen, wie sehr positive oder negative familiäre und soziale Bezüge mit darüber entscheiden, wie die Entwicklung eines Kindes in seinem späteren Leben verläuft. Die wichtigsten der sozial bedingten Risikofaktoren für die spätere Lebensbewältigung eines Kindes sollen hier aufgeführt werden:
Störung der frühen und/oder späteren Interaktion zwischen Kind und Mutter (Bindungsperson; Bindungsverhalten),
psychische oder chronische Erkrankungen einer der wichtigsten Bezugspersonen,
alleinerziehender Elternteil,
schwerwiegende Dauerspannungen zwischen den Partnern, Trennung der Eltern,
körperliche Misshandlungen, sexueller Missbrauch in der Familie und im engen Umkreis der Familie,
Schwierigkeiten mit der sozialen Anpassung (z. B. Kindergarten),
Fremdunterbringung,
Eltern oder Elternteil ohne Schulabschluss oder ohne Berufsausbildung.
Wie bei den bereits angesprochenen Gruppen von Risikofaktoren auch, sind die sozialen Risiken zunächst nur von statistischer Relevanz. Allein und in Kombination mit anderen Risiken sind sie jedoch durchaus in der Lage, die normale Entwicklung eines Kindes zu gefährden oder lebenslang zu beeinträchtigen. Als risikomildernde Faktoren (Resilienz) wurden dagegen in letzter Zeit eine Reihe von Konditionen beschrieben, die wiederum eine statistische Wahrscheinlichkeit besitzen, die Manifestation von Risikofaktoren zu verhindern oder zu mildern. Diese sind in Tab. 6.4 aufgeführt.
Kindbezogene Resilienzfaktoren | Familiäre und soziale Resilienzfaktoren |
---|---|
- Weibliches Geschlecht - Erstgeborenes Kind - Positives, offenes, flexibles Temperament - Positives Sozialverhalten - Positives Selbstwertgefühl - Aktives Bewältigungsverhalten - Gute bis überdurchschnittliche Intelligenz |
- Stabile emotionale Beziehung zu einer Bezugsperson - Offenes, supportives Erziehungsklima - Familiärer Zusammenhalt - Modelle erfolgreichen Bewältigungsverhaltens - Soziale Unterstützungserfahrungen - Positive Freundschaftsbeziehungen - Positive Kindergarten- bzw. Schulerfahrungen |
Frühe Lernstörungen
Definitionen und Nomenklaturen
Bei schulischen Lernstörungen bzw. bei den nach dem ICD-10 unter F81 aufgelisteten sog. „umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten“ lassen sich stets vielfältig geartete Lernschwächen schon im Vorschulalter nachweisen, wenn daran gedacht und gezielt danach gefragt und gesucht wird. Die Symptomatik, auf die schon in der kinderärztlichen Praxis geachtet werden muss, ist von anderer Qualität als die bisher vorgestellten Risikokonzepte. Kinder mit vorschulischen und schulischen Lernstörungen zeigen Schwächen der zentralen Informationsverarbeitung, die zu isolierten Leistungsverminderungen des Gehirns führen. Diese können das visuelle System (visuelle Modalität) und das Gehör (auditive Modalität) in ihren zentralen informationsverarbeitenden Prozessen beeinträchtigen, wobei die peripheren Sinnesorgane keine Funktionsdefizite aufweisen. Lernschwächen existieren aber auch in der taktil-kinästhetischen und in der vestibulären Modalität mit Auswirkungen v. a. auf die Körpermotorik und auf die Feinmotorik. Sicher gibt es auch Menschen mit Schwächen in der zentralen Informationsverarbeitung der gustatorischen und/oder olfaktorischen Modalitäten. Sie haben jedoch in unserer heutigen, westlichen Zivilisation nur eine geringe lebensnotwendige Bedeutung. Menschen mit einer gustatorischen und/oder olfaktorischen Begabung haben allerdings die Chance Meisterköche, Wein-, Tee-, Kaffee- oder Parfümexperten zu werden.
Störungen in der zentralen Informationsverarbeitung der Sinnesmodalitäten führen zu Schwierigkeiten im Erfassen und richtigem Deuten von Informationen, die aus der Umwelt und aus der eigenen somatischen und emotionalen Körperwelt kommen. Sie führen daher auch zu fehlangepassten, unangemessenen und funktionsinadäquaten oder gar zu falschen Schlüssen und Reaktionen auf die afferent eingegangenen und zentral fehlverarbeiteten, sensorischen Informationen. Lernschwächen werden in der Schule als Lese-, Rechtschreib-, Schreib-, Diktat- und Rechenstörungen manifest. Sie sind damit definitionsgemäß an spezielle Schulleistungsdefizite gekoppelt, bei normaler Gesamtintelligenz der betroffenen Kinder. Kinder mit einer kognitiven Minderbegabung bilden eine eigene, selbstständige Gruppe, die hier nicht diskutiert wird.
Über die wirklichen Ursachen von Lernschwächen ist noch wenig bekannt. Heute wird neurobiologisch davon ausgegangen, dass die afferent einlaufenden sensorischen Informationen (Bottom-up-Prozesse) nicht rasch und adäquat genug zu zentralen Bewusstseinsinhalten und zu efferenten Aktionsprogrammen (Top-down-Prozesse) umgesetzt werden können. Gründe dafür können u. a. sein:
mangelhaft ausgebildete Speicherkapazitäten (Memories),
eine zu geringe synaptische Vernetzung,
Störungen und Schwächen von Neurotransmitterfunktionen in bestimmten modalitätsverarbeitenden zentralen Systemen.
Auffällig ist, dass bestimmte Muster von zentralen Verarbeitungsschwächen in Familien gehäuft vorkommen, wenn gezielt danach gefragt wird (Geschwister des Kindes, Eltern, Großeltern, Geschwister der Eltern und deren Kinder). Auffällig ist aber auch die Knabenwendigkeit der Lernschwächen. Diese Fakten sprechen dafür, dass genetische Faktoren, aber auch andere Komponenten (z. B. Einfluss des Testosterons auf die Gehirnreifung) bei der Entstehung von Lern- und Teilleistungsstörungen eine Rolle spielen. Obwohl viele Menschen mit Lernschwächen gelernt haben, im Leben damit zurechtzukommen, kann doch die Frage gestellt werden, ob Lernstörungen überhaupt als Krankheiten im engeren Sinne zu bewerten sind oder ob sie nicht auch als der Ausdruck einer individuellen Begabungsstruktur angesehen werden können, die bei den betroffenen Menschen nicht ohne Weiteres in Einklang mit bestimmten Zivilisations- und Kulturanforderungen zu bringen sind. Auffällig ist außerdem, dass viele hochbegabte Menschen gleichzeitig bestimmte Muster von modalen Lernschwächen aufweisen, mit denen sie, trotz ihrer anderweitigen intellektuellen oder künstlerischen Hochleistungen, zu kämpfen haben.
Der Terminus „Lernstörungen“ lässt sich auch für Vorschulkinder verwenden. Er wird allerdings in der deutschen Sprache sofort mit schulischen Schwierigkeiten assoziiert. In Anlehnung an die Bezeichnung früher Lernschwächen im englischen Sprachbereich könnte auch die Bezeichnung „spezifische Lernstörungen“ verwendet werden („specific learnig disorder“), als Abgrenzung gegenüber Lernstörungen, die als Komorbidität bei anderen Störungen gefunden werden, wie z. B. bei dem sog. Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS).
Frühe Symptomatik spezifischer Lernstörungen
Lernschwächen sind, wenn danach gezielt gefragt und gesucht wird, bereits im Vorschulalter nachweisbar. Kinder bemerken selbst bei einem Vergleich mit anderen Kindern und durch die Reaktionen Erwachsener auf ihr Verhalten, dass sie in bestimmten modalitätsspezifischen Leistungsbereichen offenbar auffallen und nicht immer adäquat reagieren. In bestimmten Bereichen können sie daher auch auf die Dauer mit Gleichaltrigen nicht mithalten. Sie werden sich aus einer solchen, ihr Selbstwertgefühl verletzenden Situation mit der Zeit heraushalten und zu vermeiden versuchen, mit diesen Situationen konfrontiert zu werden. Schließlich reagieren sie mit Verhaltensauffälligkeiten oder mit Verhaltensstörungen. Wir können also zwischen primären Symptomen der Störung der zentralen Verarbeitung bestimmter Modalitäten unterscheiden und zwischen sekundären Verhaltensstörungen, die als Folgen der vom Kind negativ erlebten primären Störungen zu verstehen sind. Eine Liste von Auffälligkeiten, die auf frühe Symptome bei Kindern mit spezifischen Lernschwächen im Alter von 3–6 Jahren hinweisen, wird daher zwischen primär modalitätsspezifischen und sekundär verhaltensspezifischen Symptomen unterscheiden müssen.
Die frühen primären Symptome unimodaler und intermodaler zentraler Verarbeitungsstörungen lassen sich in der kinderärztlichen Praxis von den Eltern nach der in der Übersicht dargestellten Liste erfragen oder bei den Kindern selbst beobachten.
Frühe Symptome zentraler Verarbeitungsstörungen
- Schwächen der auditiven Modalität
- Uninteressiert, unkonzentriert und ohne Ausdauer im Zuhören, bei Vorlesen, Erklärungen, beim Hören von Kindergeschichten auf Band oder CD
- Geräusche lenken leicht ab
- Schwierigkeiten, Kinderreime, Liedtexte oder Zahlenreihen zu behalten und aufzusagen
- Ähnlich klingende Wörter können nicht leicht differenziert werden (z. B. Tanne – Kanne, Nagel – Nadel)
- Schwächen der visuellen Modalität
- Keine Ausdauer beim Beschauen von Bilderbüchern, Katalogen u. ä., nur rasches Durchblättern
- Bilder werden nur oberflächlich beschaut, schlecht in ihrer Bedeutung erkannt
- Schlechte Abschätzung von räumlicher Entfernungen bei Körper- und Handbewegungen, schlechte Raumorientierung
- Vermeiden von Basteln, Malen, Puzzeln
- Schwächen der taktilen Modalität
- Gegenstände, Spielzeug wird nur kurz und oberflächlich mit den Fingern abgetastet und rasch weggelegt
- Spielen mit Sand, Matsch, Ton wird vermieden
- Auffällig berührungsempfindlich oder -unempfindlich
- Schwächen der kinästhetischen Modalität
- Ungeschickte, wenig flüssige Bewegungsmuster
- Malstift wird verkrampft gehalten
- Sprache verwaschen, undeutlich
- Schwierigkeiten, motorische Geschicklichkeit zu erlernen, Dreirad oder Fahrrad fahren und Schwimmen zu lernen
- Schwächen der vestibulären Modalität
- Unsicher beim Begehen von Treppen, unebenem Gelände, beim Klettern und Schaukeln
- Schwächen kognitiver Strategien
- Keine oder wenig differenzierte Baustein- und Konstruktionsspiele
- Gegenstände, Spielzeug, Spielzeugtiere können nicht oder nicht sicher nach Größe, Farbe, Art sortiert werden
- Kleinere, unterschiedliche Mengen von Gegenständen können nicht oder nur unsicher voneinander unterschieden werden
Weitere Entwicklungsauffälligkeiten mit prognostischer Bedeutung sind expressive (Sprechen) und rezeptive (Verstehen) Sprachentwicklungsverzögerungen, Sprach- und Sprechstörungen, eine unsichere, vorsichtige und ungeschickte Motorik, die Verweigerung oder Unfähigkeit zu Malen, Basteln, Kleben.
Sekundäre Verhaltensauffälligkeiten
Aggressivität gegenüber Kindern und Erwachsenen
Geringe Frustrationstoleranz
Plötzliche, scheinbar grundlose Stimmungsschwankungen
Exzessives Trotzverhalten
Hyperaktivität
Verweigerung von Anforderungen oder Überangepasstheit (nie Unmut, nie Protest)
Schwierigkeiten in der Sozialisation mit anderen Kindern, Schwierigkeiten im Kontakt mit fremden und bekannten Personen
Bei jedem auffälligen Kind lässt sich ein individuelles Muster primärer und sekundärer Symptome finden, das sich aus den angeborenen Begabungs- und Verhaltensstrukturen des Kindes und aus den Lebensbedingungen des Kindes zusammensetzt. Daher ist auch nicht zu erwarten, dass alle primären und sekundären Symptome bei einem individuellen Kind nachweisbar sind. Schon ein einziges primäres oder sekundäres Symptom muss daher den Verdacht auf eine zentrale Verarbeitungsstörung entstehen lassen.
Die aufgeführten Entwicklungsauffälligkeiten sind inzwischen als Vorstufen von Lese-Rechtschreib-Störungen und Diktatschwierigkeiten anerkannt. Als prognostisch besonders wichtig haben sich expressive und rezeptive Sprachentwicklungsstörungen erwiesen und die anamnestische Angabe, dass in der Verwandtschaft 1. und 2. Grads Personen mit Lese-Rechtschreib-Störungen existieren. Kinder, die später Rechenstörungen entwickeln, fallen im Vorschulalter oft dadurch auf, dass sie nicht gerne oder nur ungeschickt malen und zeichnen, Bauen mit Bausteinen und Konstruktionsspiele vermeiden und Schwierigkeiten in der räumlichen Orientierung zeigen. Auch hier gilt wieder, dass die genannten Auffälligkeiten primär ein statistisches Risiko im Hinblick auf spätere schulische Schwierigkeiten bedeuten, daher nicht immer von einer Eins-zu-Eins-Relevanz sind.
Entwickeln sich Verhaltensauffälligkeiten oder stehen sie im Vordergrund der Symptomatik, ist zunächst gezielt nach primären Lernschwächen zu suchen, bevor die Verhaltensauffälligkeiten anderen Ursachen und Erkrankungen zugeordnet werden.
Oft wird wegen der Schwere der Verhaltensauffälligkeiten für diese eine Therapie eingeleitet, ohne die zugrundeliegende Ursache, nämlich eine frühe Lernstörung, aufgedeckt zu haben. In der kinderärztlichen Praxis ist auf solche Merkmale spezifischer Entwicklungsauffälligkeiten besonders zu achten, da sonst die Gefahr besteht, eine evtl. therapeutische, psychologische oder pädagogische Intervention noch im Vorschulalter zu versäumen, zum Nachteil der Kinder, die dann erst in der Grundschule mit ihren Lernschwächen auffallen. Dieses Versäumnis werden die Eltern, nicht zu Unrecht, dann einer wenig professionellen (kinder)ärztlichen Betreuung im Vorschulalter anlasten.
Diagnostische und therapeutische Konsequenzen
Ist der Verdacht einmal entstanden und sind eine Reihe bestimmter Symptome primärer oder sekundärer Art bei einem individuellen Kind dokumentiert worden, kann eine ergotherapeutische Beurteilung der Art der Störung und, darauf aufbauend, eine Therapie begonnen werden, wenn sich diese als notwendig erweist. Spätestens 1–1 ½ Jahre vor Schuleintritt wird eine genaue psychologische Austestung der Begabungsstruktur notwendig und zwar von Personen, die gut mit Kindern mit frühen Lernstörungen umzugehen wissen und diese zu testen verstehen. Denn Kinder mit Lernstörungen lassen sich nicht gerne testen. Sie blockieren und verweigern sich, womit sie sich bei unerfahrenen Testern ein schlechtes Testergebnis einhandeln. Die genaue Kenntnis der individuellen Begabungsstruktur eines Kindes ist jedoch unerlässlich, weil sie Grundlage für weitere Überlegungen zur Einschulung und für evtl. notwendig werdende Therapien ist.
Differenzialdiagnose
Neben leichten geistigen Behinderungen, sozialen und familiären Vernachlässigungen, peripheren Seh- und Hörstörungen und schweren Verhaltensstörungen anderer Genese, können auch neurometabolische und neurodegenerative Erkrankungen, ein Anfallsleiden oder raumverdrängende zentrale Prozesse in ihren Anfangsstadien die Symptome einer frühen Lernstörung imitieren. Ein spezielles Warnzeichen in diese Richtung ist es also, wenn Probleme neu auftreten, nicht in das bekannte Profil des Kindes passen. Prinzipiell muss vor der diagnostischen Festlegung auf eine vorschulische Lernstörung immer eine neurologische Untersuchung und eine Prüfung der Seh- und Hörfähigkeit erfolgt sein.
Therapeutische Hilfen
Als therapeutische Hilfen haben sich v. a. psychologisch-verhaltenstherapeutische Lernprogramme bei Schulkindern bewährt. Bei Vorschulkindern sind indes ergotherapeutische Lernprogramme, die dem Kind beim Spielen und Basteln kleine, überschaubare, strategische Vorgehensweisen vermitteln. Wichtig ist, das Kind therapeutisch dort abzuholen, wo seine individuellen Schwächen in der zentralen modalen Informationsverarbeitung gefunden wurden. Allen Therapieangeboten, die meinen, mit einem „globalen therapeutischen Ansatz“ und nicht mit einem individualisierten, helfen zu können, ist grundsätzlich zu misstrauen. Die Fülle alternativer Therapieangebote für alle Arten von Schwächen der zentralen modalen Informationsverarbeitung fällt auf: Hier hat sich ein kaum noch überschaubarer Markt entwickelt. Die meisten dieser Therapieansätze haben jedoch bisher, nach den Kriterien einer Qualitätssicherung, ihre Effektivität noch nicht beweisen können. Daher ist es unerlässlich, die Fortschritte in einer gewählten Therapie in halbjährigen Abständen auf ihre Effektivität zu überprüfen, ob eine Weiterführung notwendig ist oder ob eine Änderung in der therapeutischen Strategie zu erwägen ist.
Entwicklungspädiatrische Beurteilung der Schulfähigkeit
Ein gewisser Abschluss der entwicklungspädiatrischen Begleitung eines individuellen Kindes ist die Sicherstellung der Schulfähigkeit aus kinderärztlicher Sicht. Die endgültige Entscheidung, ob ein Kind in die Schule aufgenommen wird oder nicht, steht jedoch nach dem Gesetz ausschließlich der Schulleitung zu. Noch vor einigen Jahren wurde von einer Schulreife gesprochen, deren Kriterien ein Kind zur Einschulung erfüllen mussten. Der „Reifeforderungen“ werden jedoch viele Kindern nicht gerecht. Daher wird heute von einer Schulbereitschaft und von einer Schulfähigkeit gesprochen. Mit dem Begriff der Schulbereitschaft sollen die Gefühle, Motivationen und Interessen eines Kindes berücksichtigt werden, das in die Schule gehen wird. Dass von kinderärztlicher Seite die körperbezogenen Kriterien, wie Körperlänge, Gewicht, Kopfumfang und physische und psychische Gesundheit bestätigt werden, die als Voraussetzungen für die Einschulung festgelegt sind, versteht sich von selbst. Anders steht es mit den Kriterien zur Schulfähigkeit. Diese müssen kinderärztlich gezielt überprüft werden.
Kriterien der Schulfähigkeit
- Selbstständigkeit
- Ausdauer, Beharrlichkeit, Frustrationstoleranz
- Altersgemäße Sozialisationsfähigkeit und soziale Kompetenz
- Bewältigung des Schulwegs
- Packen der Schultasche
- Korrektes An- und Ausziehen, einschließlich der Schuhe
- Selbstständige Bewältigung der Toilettensituation
- Sprachliche und kognitive Voraussetzungen
- Korrekte Sprache und Aussprache
- Sicheres auditives Unterscheiden der Verschluss- und Anlaute in der eigenen Aussprache und beim Hören
- Symbole erkennen und verstehen (Buchstaben, Zahlen, Zeichen)
- Nachzeichnen einfacher Formen (Buchstaben, Zahlen, Kreis, Dreieck, Quadrat)
- Sichere Unterscheidung von links und rechts an sich selbst und an anderen
Die Schulbereitschaft zeigt ein Kind meist von selbst oder beantwortet die Fragen danach gerne, begeistert oder nur zögerlich. Es ist die Lust und der Eifer, endlich in die Schule gehen und Lesen, Rechnen, und Schreiben lernen zu dürfen. Diese Lust ist entstanden aus vorausgegangenen positiven Lernerfahrungen, bereits im Kindergarten oder mit Geschwistern oder mit Freundinnen und Freunden. Sie gründet sich auf die Erfahrung, auch mit schwierigeren Anforderungen zurechtkommen zu können. Die positiven Leistungserfahrungen und die verlässliche Unterstützung von zuhause, von der Familie und von Bezugspersonen hat das Kind dazu befähigt, Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen und Zutrauen in seine eigenen Fähigkeiten zu erwerben, ein Selbstwertgefühl, das sich als einer der wichtigsten Faktoren erweisen wird, den Anforderungen der Schule zu genügen.