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. 2016 Jun 14:515–527. [Article in German] doi: 10.1007/978-3-662-50444-4_37

Psychosoziale Situation von Patienten, Angehörigen und Behandlungsteam

Reinhard Larsen 4,
PMCID: PMC7531314

Abstract

Die Intensivmedizin ist grundsätzlich der Gefahr ausgesetzt, die körperlichen Aspekte der Behandlung ganz in den Vordergrund zu stellen und die seelischen Bedürfnisse des Patienten zu vernachlässigen oder gar zu ignorieren. Dabei kann gerade beim Intensivpatienten davon ausgegangen werden, dass seine oft lebensbedrohliche Erkrankung häufig mit psychischen Störungen einhergeht, die der besonderen Aufmerksamkeit und Zuwendung durch das Pflegepersonal und die behandelnden Ärzte bedürfen. Warum vielfach vom Personal der Intensivstation gerade die technischen Verrichtungen als bevorzugte Umgangsform mit dem Patienten gewählt werden, liegt vermutlich z. T. an der großen eigenen psychischen Belastung des Personals durch die Arbeitssituation auf der Intensivstation. Eine weitgehende Beschränkung auf technische Verrichtungen ermöglicht eine Distanzierung von den psychischen Bedürfnissen des Patienten und den teilweise als bedrohlich erlebten Behandlungssituationen der Intensivstation und bewirkt so eine gefühlsmäßige Entlastung.


Die Intensivmedizin ist grundsätzlich der Gefahr ausgesetzt, die körperlichen Aspekte der Behandlung ganz in den Vordergrund zu stellen und die seelischen Bedürfnisse des Patienten zu vernachlässigen oder gar zu ignorieren. Dabei kann gerade beim Intensivpatienten davon ausgegangen werden, dass seine oft lebensbedrohliche Erkrankung häufig mit psychischen Störungen einhergeht, die der besonderen Aufmerksamkeit und Zuwendung durch das Pflegepersonal und die behandelnden Ärzte bedürfen. Warum nicht selten vom Personal der Intensivstation gerade die technischen Verrichtungen als bevorzugte Umgangsform mit dem Patienten gewählt werden, liegt vermutlich z. T. an der großen eigenen psychischen Belastung des Personals durch die Arbeitssituation auf der Intensivstation. Eine weitgehende Beschränkung auf technische Verrichtungen ermöglicht eine Distanzierung von den psychischen Bedürfnissen des Patienten und den teilweise als bedrohlich erlebten Behandlungssituationen der Intensivstation und bewirkt so eine gefühlsmäßige Entlastung.

Arbeit am kranken Menschen ist jedoch immer auch „Gefühlsarbeit“, deren Vernachlässigung oder Verleugnung durch das Pflegepersonal und die Ärzte den Patienten zu einem bloßen Objekt erniedrigt und das Vorurteil von der „seelenlosen Apparatemedizin“ verstärkt.

Krankheitsverhalten des Intensivpatienten

Die schwere Erkrankungssituation des Intensivpatienten ist objektiv gekennzeichnet durch:

  • körperliche und seelische Beeinträchtigung bis hin zur akuten Lebensbedrohung,

  • Einschränkung der Bewegungsmöglichkeit und -fähigkeit (Immobilisation),

  • Verlust an Individualität und persönlicher Freiheit,

  • Unterbrechung der bisherigen zwischenmenschlichen Beziehungen,

  • einer fremden Umgebung und deren häufig unangenehmen oder schmerzhaften Maßnahmen ausgesetzt sein,

  • Eingriffe in die biologischen Rhythmen des Körpers.

Hinzu kommen als mehr subjektive, individuell unterschiedlich empfundene Faktoren:

  • die mit der Erkrankung bzw. Behandlung in Zusammenhang stehenden Beschwerden, Störungen des Selbstwertgefühls, Ängste über körperliche Beschädigungen, Phantasien über das Körpergeschehen bzw. die Bedeutung der Krankheit, Zukunftsängste,

  • das durch den Verlust der bisherigen zwischenmenschlichen Beziehungen ausgelöste Trennungstrauma mit dem Gefühl, abgeschnitten zu sein und soziales Ansehen zu verlieren,

  • das Gefühl der Isolierung und Vereinsamung durch sensorische Verarmung (Deprivation ) bei steriler, unpersönlicher Atmosphäre mit Mangel an Orientierungshilfen; weiterhin durch die monotone Reizüberflutung mit Licht, Lärm, Entblößung und nicht zuletzt durch die Aufhebung der Persönlichkeitsgrenzen,

  • das affektive (gefühlsmäßige) Klima der Intensivstation („Betriebsklima“) und die gefühlsmäßigen Beziehungen des Patienten zum Behandlungsteam.

Auf diese Faktoren reagiert der Intensivpatient mit einem teilweise überindividuell typischen, krankheitsabhängigen Verhalten, das jedoch von der primären Ausgangspersönlichkeit (Persönlichkeitsstruktur), der Krankheitssituation selbst und dem affektiven Klima auf der Intensivstation beeinflusst wird.

Das krankheitsabhängige, gefühlsmäßige Verhalten des Intensivpatienten ist unter dem Druck der psychischen Stressfaktoren (Frustration, Gefühl des Verletztseins und realer oder phantasierter Verlust von Objektbeziehungen) zunächst v. a. durch Angst (bis hin zur Todesangst oder dem Gefühl vernichtet zu werden) oder eine gefühlsmäßige Schockreaktion und eine tiefgreifende Erschütterung des Selbstwertgefühls gekennzeichnet. Im weiteren Verlauf entwickeln die Patienten bestimmte, krankheitsabhängige Verhaltensweisen, die darauf abzielen, die Situation der vitalen Bedrohung zu bewältigen. Hierzu gehören v. a. zwei grundlegende Mechanismen:

  • Anpassung an die Erkrankung und die Behandlungssituation,

  • Entwicklung von Abwehrmechanismen.

Anpassungsreaktionen

Diese Reaktionen sind gekennzeichnet durch gefühlsmäßige, erkenntnismäßige und motorische Aktivitäten des Patienten, mit denen er versucht, seine körperliche Unversehrtheit und sein seelisches Gleichgewicht zu erhalten oder wiederherzustellen. Das bedeutet: der Patient erkennt die vitale Bedrohung und setzt sich mit ihr realistisch auseinander.

Abwehrreaktionen

Diese sind hingegen gekennzeichnet durch teilweise oder vollständige Abwehr und Verleugnung der Wirklichkeit bzw. Bedeutung der Erkrankung für den Patienten und Rückzug auf unreife (kindliche), starre Verhaltensweisen. Dieser Rückzug wird auch als Regression bezeichnet.

Es muss beachtet werden, dass die dem Patienten häufig zugeführten Psychopharmaka (Sedativa, Opioide, Neuroleptika) sein krankheitsabhängiges Verhalten stark modifizieren können.

Außerdem gibt es noch weitere Techniken der seelischen Bewältigung bzw. Angstabwehr von Krankheit, die neben der bewussten und akzeptierten vorübergehenden Regression dazu beitragen, dass viele Patienten die Intensivbehandlung ohne wesentliche psychische Störungen und unbeschadet überstehen:

  • Verschiebung: Der Patient nimmt seine vitale Bedrohung an, verkleinert sie jedoch, indem er sie nur auf das erkrankte Organ, z. B. die Lunge, verschiebt.

  • Isolierung: Auch hier wird die Bedrohung akzeptiert, die normalerweise damit verbundenen Gefühle jedoch vor dem Erleben vorhangartig abgeschirmt.

  • Schicksalsergebenheit: Die Patienten fügen sich scheinbar ergeben in ihr Schicksal, wirken dabei vielfach tapfer, bei näherem Eingehen auf ihre Situation jedoch eher gequält.

  • Magisches Denken und Allmachtsphantasien: Die Patienten glauben, ihr Schicksal durch magisches Denken bzw. Unterwerfung beeinflussen zu können. Ihr Vertrauen in die Kunst der Ärzte und ihre Möglichkeiten ist oft nahezu grenzenlos. Das Behandlungsteam wird im Denken dieser Patienten mit einer „Allmacht“ ausgestattet, der sie sich vollständig hingeben können; auch wird die Intensivbehandlung zumeist unkritisch idealisiert.

Zeichen der zunehmenden Dekompensation der Bewältigungsmechanismen sind Projektionen (Verlagerung unerträglicher eigener Phantasien nach außen), Depressionen und massive Verleugnungen.

Der ablehnende Patient

Der ablehnende Patient fühlt sich in der Beziehung zum Behandlungsteam bedroht; selbst für die Behandlung notwendige Regressionen auf „kindliche“ Verhaltensweisen lösen Ängste aus; das Gefühl der Abhängigkeit wird heftig verleugnet bzw. abgewehrt. Der Patient ist misstrauisch und möchte das Behandlungsteam beherrschen, zeigt sich entsprechend uneinsichtig, besserwissend und stark kontrollierend.

Der ablehnende Intensivpatient erlebt das Behandlungsteam als Bedrohung.

Er ist nicht leicht zu führen und bereitet dem Behandlungsteam entsprechende Schwierigkeiten. Hierbei muss beachtet werden, dass ein bestimmendes, dominierendes und starkes Verhalten des Personals die ablehnende Haltung und den Widerstand wie auch die Ängste und das Misstrauen des Patienten eher noch verstärken.

Der überangepasste Patient

Auch dieser Patient kann seine Krankheit und die damit verbundene Patientenrolle innerlich nicht annehmen. Er reagiert jedoch mit Verleugnung von Ängsten und traurigen Gefühlen, gibt sich nach außen hin ruhig und zuversichtlich oder in sein Schicksal ergeben und entwickelt eine besondere Gefügigkeit gegenüber der Behandlungssituation und den Mitgliedern des Behandlungsteams. Er überspielt seine gefühlsmäßige Hilflosigkeit und täuscht das Behandlungsteam (zumeist leicht) über seine wirkliche innere Befindlichkeit und Not hinweg. Er schützt damit sich selbst und das Behandlungsteam vor seinen seelischen Konflikten und erweckt den falschen Eindruck eines „idealen Patienten“, zumal er die Pflegepersonen und die Ärzte mit Lob und Anerkennung bedenkt und deren eigene Unsicherheit und Ängste verdeckt.

Insgesamt verbirgt sich somit hinter der Überangepasstheit des Patienten eine geheime Ablehnung der Behandlungssituation und des Behandlungsteams, nur kann sie sich nicht offen äußern.

Der infantil regredierte Patient

Dieser Patient ist weitgehend auf infantile Verhaltensweisen zurückgefallen, von Angst überwältigt und emotional vollständig vom Behandlungsteam abhängig, das er als allmächtig erlebt. Typisch sind anklammernde Verhaltensweisen bis hin zur Verschmelzung mit dem Behandlungsteam sowie Hypochondrie und Verleugnung von Behandlungsfortschritten. Entsprechend schwierig gestaltet sich häufig die Rehabilitation sphase, da der Patient nicht bereit ist, seine infantilen Verhaltensweisen aufzugeben und sich stattdessen weiter an das Personal klammert und seine Unsicherheit und Unselbständigkeit aufrechterhält. Gerade bei diesen Patienten kann sich z. B. die Entwöhnung vom Respirator als sehr schwierig gestalten.

Die Beziehung zwischen dem Behandlungsteam und dem Patienten ist zumeist schwierig: während anfangs seine offen bekannte Bedürftigkeit und Schutzsuche vom Personal angenommen wird, lösen später seine Verhaltensweisen beim Behandlungsteam Verärgerung und das Gefühl der Unfähigkeit aus, weil er ein Abgehen von der Intensivbehandlung verweigert. Neben dieser anfänglichen Verkennung der psychischen Schwächen des Patienten wird das Verhalten noch durch Überfürsorglichkeit und übertriebene Aktivität des Pflegepersonals verstärkt. Am Schluss steht dann nicht selten ein schlagartiges gefühlsmäßiges Abwenden des Behandlungsteams. Hierdurch werden die reaktiven Störungen jedoch meist noch verstärkt.

Psychische Störungen beim Intensivpatienten

Einteilung

Psychische Störungen beim Intensivpatienten können in zwei Kategorien eingeteilt werden:

  • akute organische Psychosyndrome (veraltet: Durchgangssyndrome),

  • reaktive psychische Störungen.

Akute organische Psychosyndrome

Hierbei handelt es sich um vorübergehende präpsychotische oder psychotische Störungen, hervorgerufen durch organische Veränderungen im zentralen Nervensystem. Der Beginn ist meist akut, die Störungen fluktuieren und manifestieren sich im Bereich der geistigen Fähigkeiten, der Psychomotorik, der Affektivität und evtl. auch der Bewusstseinslage (Tab. 37.1). Akute Psychosyndrome treten besonders häufig nach operativen Eingriffen auf, v. a. bei Patienten mit zerebraler Vorschädigung (z. B. durch Hirnverletzungen), weiterhin bei Sepsis, Alkohol-, Medikamenten- und Drogenmissbrauch.

Art des organischen Psychosyndroms Leitsymptome
Delir

Akute Störungen des Bewusstseins und der Aufmerksamkeit:

– Denk- und Wahrnehmungsstörungen

– Desorientierung zu Zeit, Ort und Person

– Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus

Organische Halluzinose Halluzinationen, Stimmung unauffällig
Organische wahnhafte Störung Paranoide Symptome: z. B. Verfolgungswahn
Organische affektive Störung Depressivität, Affektlabilität
Organische Angststörung Angstsymptomatik
Chronisches hirnorganisches Psychosyndrom z. B. demenzielles Syndrom, Alzheimer-Krankheit
Delirbehandlung

10.1007/978-3-662-50444-4_44.

Reaktive psychische Störungen

Dies sind psychische Störungen, die als Reaktion auf bestimmte Belastungssituationen („Stress“) auftreten und sich in folgender Weise äußern:

  • Angst, Gefühle der Ohnmacht, Depression,

  • Störungen des Selbstwertgefühls, Abhängigkeitswünsche,

  • Infantilisierung (Verkindlichung) mit Gefühlen extremer Hilflosigkeit und Abhängigkeit, kindlich-gläubige Zuwendung zu Ärzten und Pflegenden und Abnahme der Kritikfähigkeit,

  • starke Abwehr eigener Aggressionswünsche aus Angst vor Verlust von Zuwendung durch Pflegende und Ärzte,

  • Neigung zur Selbstbeobachtung des erkrankten Körpers (Hypochondrie),

  • Verleugnung unangenehmer Gefühle und Vorstellungen im Zusammenhang mit der Schwere der Erkrankung einschließlich zugehöriger Ängste und der Abhängigkeit von Pflegenden und Ärzten.

Risikofaktoren psychischer Störungen beim Intensivpatienten

Abgesehen von der individuellen Persönlichkeitsstruktur des Intensivpatienten wird die Entstehung psychischer Störungen durch bestimmte Risikofaktoren begünstigt. Hierzu gehören v. a.:

  • die Erkrankung selbst,

  • bestimmte Behandlungsverfahren,

  • Wechselwirkungen aus den Beziehungen zwischen Patient, Pflegenden und Ärzten im Zusammenhang mit der Behandlungssituation.

Psychische Belastung durch die Erkrankung

Intensivpatienten sind, definitionsgemäß, schwer oder sogar akut lebensbedrohlich erkrankt und befinden sich somit objektiv in einer Extremsituation, die ein besonderes Abwehr- und Anpassungsverhalten erfordert. Durch die Erkrankung wird ihr körperliches Befinden beeinträchtigt oder sogar schwer gestört. Die gewohnte Verfügbarkeit über den eigenen Körper geht verloren. Die bisherigen Lebensbeziehungen und sozialen Verflechtungen werden weitgehend unterbrochen und es entwickelt sich eine weitreichende Abhängigkeit von Pflegepersonal und Ärzten.

Während zahlreiche Patienten überraschend gut mit ihrer Erkrankung „fertig werden“, treten bei anderen die oben beschriebenen, reaktiven psychischen Störungen auf, durch die der Krankheits- und Behandlungsverlauf ganz erheblich beeinträchtigt werden kann.

Belastung durch Behandlungsverfahren und -techniken

Durch Behandlungsmaßnahmen ausgelöste Störungen sind seltener, als nach dem Bild der Intensivstation in der Öffentlichkeit als einer „seelenlosen Maschinenwelt“ zu erwarten wäre. Hier besteht offensichtlich eine erhebliche Diskrepanz zwischen der Meinung Außenstehender und dem tatsächlichen Erleben der betroffenen Patienten. So haben zahlreiche Untersuchungen gezeigt, dass von vielen Intensivpatienten die Intensivbehandlung keineswegs als „seelisch krank machend“, sondern als Sicherheit und Halt gebend empfunden wurde.

Erfahrungsgemäß werden besonders folgende Faktoren als belastend angesehen:

  • Ängstigung durch Schläuche, Tuben, Beatmungsgeräte, Kabel, O2-Masken, Überwachungsgeräte usw.,

  • Unruhe und Lärm auf der Station,

  • fehlender Tag-Nacht-Rhythmus, Dauerlicht, fehlendes Tageslicht,

  • monotone Umgebung einerseits, Überstimulierung durch vielfältige Reize andererseits,

  • häufige Pflege- und Überwachungsmaßnahmen,

  • Verlust der Blasen- und Darmkontrolle,

  • Mangel an Intimsphäre,

  • Erleben der Reanimation und des Todes von Mitpatienten.

Belastung durch das Beziehungsgeflecht auf der Intensivstation

Intensivpatienten bedürfen, wie andere Kranke auch, des Gefühls der Sicherheit und Geborgenheit in ihren Beziehungen zu Pflegenden und Ärzten. Eine wichtige Rolle spielen hierbei für viele Patienten auch die Angehörigen, die gewissermaßen die einzige Verbindung zur Außenwelt innerhalb Intensivstation darstellen.

Kontaktangebote und Zuwendung durch Pflegepersonal, Ärzte und Angehörige sollen dem Patienten das Gefühl der Isoliertheit und Ohnmacht nehmen oder lindern und Sicherheit und Geborgenheit vermitteln, um auf diese Weise potenzielle psychische Störungen zu verhindern. Ständige Anwesenheit und Kontinuität der Pflegenden wirken als entlastende Faktoren für den Intensivpatienten.

Einfühlende Zuwendung, häufige Kontaktangebote und ausreichende Informationen über Pflege- und Behandlungsmaßnahmen sind der Schlüssel für eine menschenwürdige und Angst vermindernde Beziehung des Personals zum Patienten.

Verlegung des Patienten

Die Verlegung des Langzeitintensivpatienten kann ein besonderes Trennungstrauma darstellen, das zumeist durch rechtzeitige und behutsame Aufklärung verhindert oder gemildert werden kann. Abrupte Verlegungen sollten unbedingt vermieden werden. Einige Patienten reagieren auf die Verlegung mit akuten psychischen Störungen.

Depressive Störungen

Auf schwere akute körperliche Erkrankungen können Menschen mit einer depressiven Symptomatik reagieren. Grundlage der Depression ist eine angeborene Vulnerabilität (Verletzlichkeit); neurobiologisch wird ein Ungleichgewicht von Transmittersystemen angenommen; psychologisch spielen negative Lebensereignisse als Auslöser eine Rolle. Aus verhaltenstherapeutischer Sicht liegt eine kognitive Triade vor, gekennzeichnet durch negative Wahrnehmung der eigenen Person („ich bin nichts wert“), der Umwelt und der Zukunft. Stress wirkt als aktivierender Faktor dieser negativen Denkmuster.

Klinisches Bild

Apathie und vollständiger Rückzug müssen beim Intensivpatienten an ein depressives Syndrom denken lassen. Folgende Subtypen der Depression werden unterschieden:

  • gehemmte Depression: Abnahme der Aktivität und Psychomotorik,

  • agitierte Depression: ängstliche Getriebenheit, Bewegungsunruhe, hektisches Verhalten, Jammern und Klagen,

  • somatisierte Depression: funktionelle Organbeschwerden unterschiedlichster Art, vegetative Störungen,

  • psychotische Depression: depressive Wahngedanken.

Beim Intensivpatienten können sich depressive Reaktionen in folgender Weise manifestieren:

  • Äußerungen von Hoffnungslosigkeit und Vergeblichkeit der Behandlungsmaßnahmen,

  • Verweigerung aktiver Maßnahmen wie Mobilisation und Physiotherapie oder der Einnahme von Medikamenten,

  • Verweigerung jeglicher Kontaktaufnahme.

Bei stärkeren depressiven Reaktionen sollte ein Psychotherapeut oder Psychiater hinzugezogen werden.

Angststörungen

Mit Angststörungen muss bei Intensivpatienten immer gerechnet werden, da hier eine erheblich belastende, angsterzeugende Situation besteht. Folgende Angstformen werden unterschieden:

  • Panikstörungen bzw. -attacken mit ausgeprägter körperlicher Symptomatik,

  • generalisierte Angst: anhaltende Angst unterschiedlicher Stärke,

  • phobische Angst: umschriebene Angst vor bestimmten Situationen, Objekten, Tieren.

Akute Belastungsreaktion

Die Reaktion tritt innerhalb weniger Wochen nach der Belastungssituation auf, hält mindestens zwei Tage an und klingt in der Regel innerhalb von vier Wochen wieder ab. Der Patient erscheint angespannt und schreckhaft oder apathisch und völlig in sich gekehrt. Außerdem treten sog. dissoziative Symptome auf: Depersonalisation (veränderte Wahrnehmung der eigenen Person), Derealisation (veränderte Wahrnehmung der eigenen Umwelt), dissoziative Amnesie (fehlende Erinnerungen an die eigene Vergangenheit), Gefühl der emotionalen Taubheit oder des Losgelöstseins.

Professionelle psychotherapeutische Hilfe

Es hat sich gezeigt, dass die meisten Behandlungsteams, insbesondere Pflegende, intuitiv eine Art „Psychotherapie des täglichen Lebens“ beim Intensivpatienten anwenden, durch die es gelingt, dem Patienten Sicherheit, Geborgenheit und Vertrauen zu vermitteln. Dieser Vorgang spielt sich sehr häufig auf nichtverbaler Ebene ab und vollzieht sich u. a. in Gestik, Mimik, Bewegungen und Stimme sowie im körperlichen Kontakt mit dem Patienten.

Ebenso gelingt es dem Pflegepersonal – bei entsprechendem Einfühlungsvermögen – auch die seelische Befindlichkeit sowie Ängste und Abwehrreaktionen von Patienten, die nicht sprechen können, richtig einzuschätzen. Erst in späteren Phasen, wenn der Patient extubiert ist, kann auch die Sprache wieder als Kommunikationsmittel eingesetzt werden, sodass es möglich wird, tiefer gehende Konflikte, Gefühle und Befürchtungen offen durchzusprechen und hierdurch eine sog. kathartische Abfuhr, d. h. Spannungsentlastung zu erreichen. Hierzu sollte der Patient durchaus ermuntert werden, zumal seine Bereitschaft, sich Anderen mitzuteilen, in der besonderen Intensivbehandlungssituation viel größer als sonst ist.

Nur sehr selten sind die psychischen Störungen von Intensivpatienten so stark ausgeprägt, dass die Hilfe eines Psychotherapeuten in Anspruch genommen werden muss.

Öfter ergeben sich hierbei zu Anfang neue Konflikte, weil der von außen in das Behandlungsteam kommende Psychotherapeut häufig misstrauisch und kritisch geprüft wird.

Das Behandlungsteam

Das Personal der Intensivstation ist besonderen Belastungen und hohen Anforderungen ausgesetzt, die nicht selten zu Spannungen und Konflikten führen. Erwartet werden insbesondere maximale pflegerische und ärztliche Leistung, hohes Können und Kompetenz sowie unbedingte Einsatzbereitschaft – Forderungen, letztlich des „Unmöglichen“, die von keinem Mitglied des Teams auf Dauer erfüllt werden können.

Als besondere Belastungen für das Behandlungsteam gelten:

  • die ständige Konfrontation mit schwerstkranken Patienten,

  • die relativ hohe Sterblichkeitsrate trotz maximalem Einsatz, die zu Gefühlen von Schuld, Versagen, Enttäuschung und Trauer führen kann,

  • der häufige Wechsel von Patienten bei der Akutversorgung,

  • der Mangel oder das vollständige Fehlen von Kontakten bei bewusstlosen oder bewusstseinsgetrübten Patienten, die vielfach nur als Objekte wahrgenommen werden,

  • der hohe Grad von Technisierung bei der Behandlung und Überwachung,

  • die Konfrontation mit den Todesängsten des Patienten, die beim Personal oft zu Abwehrreaktionen in Form von Hyperaktivität oder Distanzierung führt und damit das emotionale Erleben des Behandlungsteams veröden lässt,

  • die Aktivierung eigener Probleme beim Umgang mit Suizidpatienten und die entsprechende Auslösung von Abwehrmechanismen,

  • der Umgang mit den häufig beunruhigten und verunsicherten Angehörigen.

Pflegepersonal

Pflegende sind aufgrund ihrer Aufgabe und der ständigen Präsenz am Patientenbett die zentralen Bezugspersonen der Patienten. Sie gelten den Psychologen als Schlüsselfiguren der Intensivbehandlung und treten, sich dieser Einschätzung häufig bewusst, mit einem gewissen elitären Anspruch auf, der ihnen zumeist von den anderen Krankenabteilungen und auch von außen zugestanden wird. Dabei wirken jedoch zahlreiche Stressfaktoren auf die Pflegenden ein, die dazu führen können, dass sie sich öfter als „hilflose Helfer“ empfinden, die selbst der Unterstützung von außen bedürfen. Hierbei entstehen die Selbstkonflikte des Pflegepersonals v. a. aus zwei Quellen:

  • Gefühle, die in den Pflegenden aus dem Umgang mit dem Patienten aktiviert werden sowie Gefühle, die von den Pflegenden auf den Patienten übertragen werden. Hierzu gehört auch das Aufrühren eigener, unbewältigter Konflikte durch die Konfrontation mit den Patienten.

  • Spannungen und Rollenkonflikte zwischen Ärzten und Pflegepersonal und innerhalb der Pflegegruppe selbst. Dies gilt insbesondere für den Elitestatus des Pflegepersonals, der einerseits Ansehen und Befriedigung schafft, andererseits aufgrund der großen Belastungen zu Gefühlen der Überforderung, Arbeitsstörungen und Verstimmungen führen kann.

Rollenkonflikt

Die Rollen zwischen Pflegenden und Ärzten sind auf Intensivstationen nicht so scharf definiert wie auf Allgemeinstationen und überschneiden sich häufig. Hieraus ergeben sich teilweise erhebliche Spannungen zwischen den verschiedenen Berufsgruppen. Als Ursache von Spannungen zwischen Pflegepersonal und Ärzten werden vom Pflegepersonal meist Mangel an Anerkennung und direkter Verständigung, Kompetenzstreitigkeiten, hierarchische Führung und Arbeitsstress angegeben, von den Ärzten hingegen Kompetenzüberschreitungen von Pflegenden sowie Fehlverhalten anderer Ärzte. Konflikte innerhalb der Pflegegruppe ergeben sich im Wesentlichen aus folgenden Faktoren:

  • ungenügende Absprachen oder Kooperation,

  • dominierendes Verhalten einzelner Teammitglieder,

  • hierarchischer Führungsstil,

  • Konkurrenzdenken,

  • mangelnde Solidarität,

  • Rivalität,

  • ungenügende gegenseitige Anerkennung.

Emotionale Reaktionen und Bewältigungsstrategien des Pflegepersonals

Die Grundreaktion des Pflegepersonals auf die Hilflosigkeit und totale Abhängigkeit des Patienten besteht zunächst in einer Art „Bemutterung“ mit den entsprechenden Gefühlen. Während diese Reaktionen wegen ihrer positiven Auswirkungen erwünscht sind, muss eine zu enge, verschmelzende (symbiotische) Beziehung zum Patienten unbedingt vermieden werden. Eine zu enge Verwicklung mit dem Patienten geht meist mit starken Gegenübertragungen einher, wobei eigene Gefühle, Wünsche und Vorstellungen in den Patienten hinein projiziert werden, obwohl sie dort gar nicht vorhanden sind. Dieser Gefahr erliegen v. a. selbstunsichere, depressive und ängstliche Pflegende.

Die emotionalen Beziehungen vom Intensivpflegepersonal zum Patienten müssen auf Einfühlung (Empathie) beruhen und beim Patienten das Gefühl von Wärme, Sicherheit und Vertrauen auslösen.

Gefühle des Personals wie Angst, Ärger, Schuld und „überwältigt sein“ stören ein empathisches Eingehen auf den Patienten und sollten nicht ausgelebt werden.

Abwehrreaktionen beim Behandlungsteam

Für die Bewältigung der verschiedenen Belastungssituationen auf der Intensivstation werden vom Behandlungsteam zahlreiche Abwehrreaktionen bzw. -mechanismen eingesetzt:

  • gesteigerte Aktivität,

  • Vermeidung,

  • Verleugnung,

  • Verschiebung und Projektion.

Gesteigerte Aktivität

Hierbei handelt es sich um ein häufiger auf Intensivstationen zu beobachtendes Geschehen, das besonders in sehr ruhigen Phasen (z. B. bei geringer Belegung) entsteht und sich in Unruhe, Unzufriedenheit, Gereiztheit und Spannungen äußert. Äußerlich werden Langeweile und Unterforderung vom Personal als Ursache des Aktivismus angegeben. Psychologen deuten dieses Verhalten jedoch als Abwehrreaktion, mit der deprimierte und traurige Stimmungen, die sich aus der Wahrnehmung eigener Konflikte und Gefühle sowie der des Patienten ergeben würden, unterdrückt werden sollen.

Vermeidung und Rückzug

Hierbei zieht sich das Pflegepersonal gefühlsmäßig vom Patienten zurück und wendet sich bevorzugt den Apparaten und Überwachungsgeräten, also den technischen Verrichtungen zu.

Verleugnung

Häufig sind insbesondere Außenstehende über den rauen, polternden, schnoddrigen Ton und burschikoses, exaltiert fröhliches oder albernes Verhalten des Pflegepersonals auf einigen Intensivstationen verblüfft oder schockiert. Dieses Verhalten muss als Abwehr einer gefühlsmäßig überwältigenden Situation gedeutet werden, das eine Verleugnung eigener Gefühle und innerer Betroffenheit zum Ziel hat.

Verschiebung und Projektion

Im übermäßigen Streben nach fachlicher und technischer Kompetenz und den damit nicht selten verbundenen Kompetenzstreitigkeiten und Konkurrenzgefühlen verbirgt sich häufig ein Mechanismus der Angstabwehr beim Pflegepersonal, ebenso bei der Schaffung von Sündenböcken im Behandlungsteam.

Gesteigerte Gruppenkontakte

Pflegende von Intensivstationen halten untereinander, auch außerhalb der Klinik, häufiger Kontakte als Angehörige der Normalpflegegruppe. Nach Ansicht einiger Psychologen bildet das Team hierbei für einige Mitglieder eine Art Familienersatz mit starken Gruppenzwängen und gefühlsmäßiger Unterstützung für das einzelne Mitglied. Viele Intensivbehandlungsteams sollen (unbewusst) nach Art einer Familie strukturiert sein, wobei der ärztliche Leiter als „Vater“ und die Stationsschwester als „Mutter“ fungieren.

Die Auswirkungen des Gruppenzusammenhalts sind nicht nur positiv zu sehen: häufig findet sich eine gemeinsame Unterdrückung und Abwehr von Trennungsängsten, Minderwertigkeits- und Versagens- sowie Schuldgefühlen, die dazu führt, dass eigene Gefühle nicht mehr wahrgenommen und erlebt werden können.

Burn-out-Syndrom

Die belastenden Arbeitsbedingungen auf der Intensivstation können beim Personal zu schwerwiegenden klinischen Symptomen, dem sog. Burn-out-Syndrom („Ausbrennen“) führen. Das Burn-out-Syndrom weist folgende Merkmale auf:

  • anfangs übersteigertes Engagement, freiwilliges Leisten unbezahlter Mehrarbeit, Einschränkung sozialer Kontakte und Freizeitaktivitäten; dadurch chronische Müdigkeit und Erschöpfung,

  • dann vermindertes Engagement, desillusionierter Rückzug aus der Arbeit und verringertes privates Engagement,

  • Depressionen, Aggressionen und Schuldzuweisungen,

  • Abnahme der kognitiven Leistungsfähigkeit, Abnahme der Motivation und Kreativität,

  • psychosomatische Beschwerdebilder,

  • Verzweiflung und Depression.

Derartige Symptome sollten ernst genommen werden und ggf. zum Aufsuchen professioneller Hilfe veranlassen.

Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)

Die posttraumatische Belastungsstörung ist als verzögerte oder verlängerte Reaktion auf eine extreme Belastung definiert. Sie kann nicht nur als Folge selbst erlittener Traumen auftreten, sondern auch bei Berufsgruppen, die häufig Extremsituationen, Leid anderer Menschen oder deren Tod ausgesetzt sind. Die Störung manifestiert sich als Symptom einer erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung, die vor der Belastung nicht vorhanden waren:

  • Ein- und Durchschlafstörungen mit sich aufdrängenden Erinnerungen oder Alpträumen; wiederholtes, blitzartiges Erleben des Traumas („flash back“),

  • Reizbarkeit und Wutausbrüche, emotionaler und sozialer Rückzug, Verlust der Lebensfreude,

  • Konzentrationsstörungen,

  • Überwachheit,

  • erhöhte Schreckhaftigkeit.

In der Regel treten diese Symptome innerhalb von sechs Monaten nach dem belastenden Ereignis oder einer Belastungsphase auf und halten mindestens einen Monat an. Sie können zu Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch und Suizidalität führen.

Ärzte

Die Ärzte sind im Wesentlichen den gleichen Belastungssituationen ausgesetzt wie das Pflegepersonal, jedoch gibt es einige spezifische Faktoren, die eng an ihre Rolle geknüpft sind und teilweise auch mit ihrer medizinischen Ausbildung zusammenhängen.

Ärzte werden traditionell so ausgebildet, dass sich ihr Denken auf die körperliche Seite einer Erkrankung zentriert; psychische Faktoren werden sehr häufig distanzierend beiseitegeschoben. Ebenso haben viele Ärzte nicht gelernt, mit eigenen Gefühlen und seelischen Konflikten und denen von Patienten, Pflegekräften und Angehörigen angemessen umzugehen. Insbesondere sind die meisten Ärzte nicht in der Lage, die Rollenerwartung des Pflegepersonals als Leitfigur (sog. „mütterlicher Vater“) des Behandlungsteams zu erfüllen. Hieraus ergeben sich sehr leicht Spannungen und Konflikte, die zu einer Belastung der Behandlungssituation führen und letztlich auf den Patienten rückwirken können.

Umgang mit Sterben und Tod

Wenig vorbereitet sind die Ärzte auch auf den Umgang mit dem sterbenden Patienten. Gewohnt, ihre anerzogene Rolle als Lebensretter zu spielen und zu erleben, verzichten sie häufig darauf, dem Patienten ein menschenwürdiges Sterben zu ermöglichen und sind stattdessen eher geneigt, auch in völlig aussichtslosen Situationen das ganze Repertoire des intensivmedizinisch Machbaren einzusetzen, ja, sich ihm teilweise zu unterwerfen, weil sie ihre Rolle als Helfer beim Sterben des todkranken Patienten nicht akzeptieren können oder wollen und sich auch scheuen, eine klare persönliche Position zu beziehen, es vielmehr vorziehen, sich hinter formal-juristischen Argumenten zu verstecken.

Intensität der Belastung

Insgesamt scheint die seelische Belastung von Ärzten auf Intensivstationen geringer zu sein als die des Pflegepersonals, u. a. weil ihre Beziehungen sich auf viele Patienten erstrecken, der Kontakt nicht so eng und anhaltend ist, sie sich leichter aus der Behandlungssituation zurückziehen können, ihre Anwesenheit auf der Intensivstation zumeist von eng begrenzter Dauer ist und ihnen vielfach die Möglichkeit gegeben ist, sich durch andere Aufgaben „abzureagieren“.

Kritik des Pflegepersonals

Nach Meinung vieler Pflegender sind die meisten Ärzte nicht in der Lage, die emotionalen Belastungen des Pflegepersonals wahrzunehmen, weil es ihnen an Intuition und Einfühlungsvermögen mangele und sie gefühlsmäßig verkümmert seien. Auch seien viele Ärzte aufgrund ihrer traditionell verstandesbetonten Sicht nicht imstande, das seelische Befinden des Patienten wahrzunehmen, geschweige denn ausreichend einzuschätzen.

Mögen diese Vorwürfe vielleicht ein wenig übertrieben sein, den Kern der Sache treffen sie doch, besonders, wenn man die Konfliktbewältigungsstrategien von Ärzten analysiert.

Distanzierung

Ärzte auf Intensivstationen neigen dazu, ihre emotionale Beteiligung am Behandlungsgeschehen durch den Mechanismus der Distanzierung zu verdecken oder einzudämmen, um sich vor einer als bedrohlich empfundenen Gefühlsüberschwemmung zu schützen. Distanzierung manifestiert sich als betont vernünftige Sicht der Dinge, Hervorhebung der Kompetenz und geschäftsmäßig-routinierter Umgang mit dem Patienten.

Weiterleitung von Aufgaben

Viele Ärzte neigen dazu, neben zahlreichen körperlichen (auch eigentlich ärztlichen) Maßnahmen gerade die gefühlsmäßige Versorgung („Bemutterung“) der Patienten dem Pflegepersonal zu übertragen und sich ihrer Aufgabe zu entziehen, obwohl sie deren Bedeutung für das Wohl des Patienten meist durchaus anerkennen.

Projektion

Insbesondere jüngere und unerfahrene Ärzte auf Intensivstationen fühlen sich unsicher und leiden unter Versagensängsten, die sie sich nicht eingestehen wollen. Ein häufig eingesetzter Abwehrmechanismus ist hierbei die Projektion, d. h. das Ausstatten von Personen der Außenwelt, hier des Pflegepersonals, mit Wünschen, Gefühlen und Eigenschaften, die man bei sich selbst nicht wahrnehmen will und zur Entlastung in andere Personen hineinprojiziert. Hieraus ergeben sich oft vielfältige Spannungen und Konflikte im Behandlungsteam und die Zuweisung von Schuld in unbewältigten Krisensituationen („Auswählen eines Sündenbocks“).

Angehörige

Die Angehörigen des Patienten können eine Belastung oder aber eine Hilfe in der Behandlungssituation sein. Insgesamt überwiegt die positive Beurteilung der Angehörigenbeziehung, sodass zumindest auf fortschrittlich eingestellten Intensivstationen großzügige Besuchsregelungen gewährt werden.

Angehörige als Belastung

Gerade in der Anfangsphase der Intensivbehandlung können die Kontakte der Angehörigen für den Patienten und auch das Pflegepersonal eher belastend als hilfreich sein. Umgekehrt stellt natürlich die Erkrankung des Patienten und die Umwelt der Intensivstation für die meisten Angehörigen ebenfalls eine oft hochgradige Belastung dar, mit der sie zunächst einmal umzugehen lernen müssen. Hierzu ist die Unterstützung des Pflegepersonals und der Ärzte in Form von Beruhigung, Aufklärung und Durchsprechen der Unsicherheiten und Ängste erforderlich. Gerade diese unterstützende Funktion wird vom Behandlungsteam jedoch oft als besondere Belastung erlebt und nicht selten abgewehrt. Hierdurch wird den Angehörigen leicht das Gefühl vermittelt, unerwünscht zu sein oder gar zu stören.

Belastend sind die Angehörigenkontakte für den Patienten dann, wenn sie ihn verunsichern und ängstigen statt Sicherheit, Trost, Ermutigung und wohltuende Nähe hervorzurufen. Ursachen für ungünstige Angehörigenkontakte sind, z. B., vorbestehende Konflikte und Spannungen zwischen Patient und Angehörigen, übermäßige Ängste der Angehörigen sowie Unsicherheit.

Angehörige als Hilfe

Die Einbeziehung der Angehörigen in das Behandlungskonzept kann eine große Hilfe für den Patienten, aber auch für die Pflegekräfte und Ärzte sein. Im günstigen Fall erfährt der Patient Stützung und Ermutigung sowie eine Abschwächung seiner Trennungsängste, während das Behandlungsteam durch Gespräche mit den Angehörigen Informationen über die Persönlichkeit des Patienten erlangt, die in das Behandlungskonzept integriert werden können.

Da die individuelle Reaktion des Patienten auf Angehörigenkontakte nicht pauschal eingeschätzt werden kann, ist jeweils eine am Patienten orientierte Entscheidung über Art, Umfang und Dauer der Kontakte erforderlich. Eine für alle Patienten gleiche Regelung kann den individuellen Erfordernissen nicht gerecht werden. Grundsätzlich ist es wünschenswert, dass die Betreuung der Angehörigen und ihre Aufklärung über den klinischen Zustand des Patienten durch den Arzt erfolgt (möglichst immer durch denselben, um einander widersprechende Aussagen zu vermeiden). Dennoch werden die Pflegekräfte zwangsläufig am Krankenbett in die Problematik der Angehörigenkontakte einbezogen, weil sie entsprechenden Fragen, Ängsten und Befürchtungen der Angehörigen nicht ausweichen können.

Umgang mit dem Intensivpatienten

Der korrekte Umgang mit dem Intensivpatienten kann in vier Grundregeln zusammengefasst werden:

1. Die Würde des Patienten erhalten und fördern

  • Respektvoller Umgang: sich selbst mit Namen vorstellen, eigene Funktion benennen, den erwachsenen Patienten mit seinem Familiennamen ansprechen, Jugendliche meist mit Vornamen,

  • Privatsphäre soweit wie möglich erhalten: eigenes Vorgehen ankündigen (durch Ansprechen und/oder Berühren); Körper weitgehend bedeckt halten, besonders den Intimbereich; wenn nötig Vorhänge oder spanische Wände einsetzen,

  • den Patienten immer über bevorstehende Maßnahmen informieren,

  • Gespräche über den Kopf des Patienten hinweg vermeiden, besonders bei Visiten.

2. Gefühle der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins vermeiden

  • Wünsche und Bedürfnisse des Patienten erfassen und soweit wie möglich erfüllen,

  • Autonomiebestreben des Patienten unterstützen: Selbstständigkeit durch Beteiligung an Maßnahmen der Pflege und Therapie fördern, Eigenkontrolle fördern, kleine Erfolge und Fortschritte durch Lob verstärken, den Patienten mit in die Tagesplanung einbeziehen.

3. Schädliche Umgebungseinflüsse minimieren

  • Unnötige und belästigende Geräusche vermeiden, Alarme leiser stellen, ausgelöste Alarme umgehend abschalten (Aktivierung nicht vergessen),

  • Beeinträchtigung durch Geräte, Schläuche usw. soweit wie möglich vermeiden,

  • für möglichst ungestörten Schlaf sorgen (Tag-Nacht-Rhythmus erhalten).

4. Emotionale Belastungen („Stress“) so gering wie möglich halten

  • Verlässlich sein und gegebene Versprechen einhalten; bewusstseinseingeschränkte Patienten mit einfachen und verständlichen Worten ansprechen, keine langen Sätze, keine weitschweifigen Erklärungen, wenn nötig geduldig wiederholen; hierbei immer Blick- und Körperkontakt halten,

  • körperliche Berührungen großzügig einsetzen, hierbei behutsam und einfühlend vorgehen, nicht grob und gefühllos; Körpergrenzen erfahren lassen (10.1007/978-3-662-50444-4_39),

  • Angehörigenkontakte unterstützen und fördern; Angehörige bei der Kontaktaufnahme anleiten (Sitzmöglichkeiten anbieten, Bettgitter herunterlassen, Ansprechen und Berühren zulassen und fördern; beruhigende, stützende Gespräche mit den Angehörigen führen, ihre Sorgen und Befürchtungen anhören, Informationsbedürfnisse umfassend und geduldig erfüllen,

  • Gefühle des Patienten zulassen; sein Verhalten und seine Gefühlsausbrüche nicht moralisch bewerten; gezielt nach Schmerzen, Unwohlsein, Niedergeschlagenheit, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Depressionen und Angst fragen,

  • bei gestörter Kommunikation: Hilfsmittel anwenden; Rückmeldungen des Patienten zulassen,

  • Verlegungen von der Station rechtzeitig ankündigen und positiv, d. h. als Zeichen der Besserung bewerten; dabei eigenes Vertrauen in die neue Station signalisieren (z. B.: „Sie sind dort sehr gut aufgehoben!“ oder „Sie werden dort ebenfalls sehr gut betreut!“). Angehörige ebenfalls rechtzeitig über die Verlegung und deren Gründe informieren.

Prophylaxe psychischer Störungen

Die Intensivbehandlung selbst ist, entgegen einer weit verbreiteten Ansicht, kein Risikofaktor für psychische Störungen. Sie kann vielmehr – bei entsprechender Organisation und konzeptueller Gestaltung – dem durch die Krankheit stark verunsicherten oder sich bedroht fühlenden Patienten Halt und Sicherheit geben. Ursache psychischer Störungen beim Intensivpatienten sind unspezifische und spezifische Einflüsse durch die Erkrankung, weiterhin die Aktivierung früherer traumatischer Erfahrungen. Durch prophylaktische Maßnahmen kann die Häufigkeit psychischer Störungen des Intensivpatienten vermindert werden.

Grundlage der Prophylaxe psychischer Störungen beim schwer kranken Intensivpatienten ist der Aufbau einer umfassend unterstützenden Beziehung, verbunden mit einer sorgfältigen Information über geplante Eingriffe, Funktion von Geräten, geplante Verlegung auf die Intensivstation, aber auch Rückverlegung auf die Normalstation.

Im Einzelnen sollte sich die Prophylaxe psychischer Störungen auf folgende Prinzipien stützen:

  • Angebot einer kontinuierlichen, Halt und Sicherheit vermittelnden Beziehung, die auch nicht durch krankheitsbedingte negative Affekte des Patienten beeinträchtigt werden darf.

  • Stützung der Ich-Funktionen des Patienten: gezielte Orientierungshilfen bei Bewusstseinsgetrübten, Erfüllung der Informationswünsche des Patienten; Korrektur unzutreffender Vorstellungen und Theorien des Patienten über die Erkrankung und ihre Behandlung, Berücksichtigung patientenspezifischer Bewältigungs- und Anpassungsstrategien und deren Anerkennung als psychische Leistungen.

  • Unterstützung des Selbstgefühls: Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse nach Unabhängigkeit (Autonomie), Kompetenz und Verbundenheit. Hierfür sollte der Patient so viel Restautonomie wie möglich erleben, z. B. durch Mitwirkung bei therapeutischen und pflegerischen Maßnahmen. Die verbleibende Kompetenz sollte anerkannt und bestärkt werden.

  • Unterstützung der Selbstbewertung: Oft wird eine große Kluft zwischen dem akuten Zustand des Selbstgefühls und dem ursprünglichen Ideal-Selbst erlebt, die zu depressiven Episoden führen kann. Hilfreich sind in diesen Fällen angemessene Informationen über die weitere Entwicklung sowie die Korrektur falscher Vorstellungen und Befürchtungen.

Umgang mit dem sterbenden Intensivpatienten

Schlussstück

Der Tod ist groß.

Wir sind die Seinen

lachenden Munds.

Wenn wir uns mitten im Leben meinen,

wagt er zu weinen

mitten in uns.

(Rainer Maria Rilke)

Die Bundesärztekammer hat Grundsätze zur Sterbebegleitung herausgegeben, die kurz zusammengefasst lauten:

Sterbenden, d. h. Kranken oder Verletzten mit irreversiblem Versagen einer oder mehrerer vitaler Funktionen, deren Tod innerhalb kurzer Zeit zu erwarten ist, muss so geholfen werden, dass sie in Würde sterben können. Hierzu gehört eine Basisbetreuung, bestehend aus folgenden Maßnahmen:

  • menschenwürdige Unterbringung,

  • Zuwendung,

  • Körperpflege,

  • Linderung von Schmerzen, Atemnot und Übelkeit,

  • Stillen von Hunger und Durst.

Art und Ausmaß der Behandlung sind vom Arzt zu verantworten. Er muss dabei den Willen des Patienten beachten; auch sollte er bei seiner Entscheidungsfindung Konsens mit den ärztlichen und pflegenden Mitarbeitern suchen.

Lebensverlängernde Maßnahmen dürfen, in Übereinstimmung mit dem Willen des Patienten, unterlassen oder nicht weitergeführt werden, wenn diese nur den Todeseintritt verzögern und die Krankheit in ihrem Verlauf nicht mehr aufgehalten werden kann. Eine unvermeidbare Lebensverkürzung des Sterbenden kann hingenommen werden, wenn die Linderung des Leidens im Vordergrund stehen muss.

Die Unterrichtung des Sterbenden über seinen Zustand und mögliche Maßnahmen muss wahrheitsgemäß sein. Sie soll sich aber an der Situation des Sterbenden orientieren und vorhandene Ängste berücksichtigen.

Auswirkungen auf das Pflegepersonal

Durch die intensive Pflege und Betreuung, v. a. wenn sie über einen längeren Zeitraum erfolgte, entwickelt sich oft eine emotionale Beziehung zum Patienten, die das Abschiednehmen erheblich erschwert. Das Erleben des Todes kann bei den Helfern starke Gefühle der Ohnmacht und des Versagens auslösen. Nicht selten werden auch eigene Ängste vor dem Sterben aktiviert. Andere Helfer schützen sich vor ihren eigenen Gefühlen, indem sie eine große Distanz zwischen sich und dem Patienten aufbauen, ihn nicht in seiner Gesamtheit wahrnehmen, sondern nur auf die Symptome oder auf den Ablauf achten. Für einen reifen Umgang mit dem Sterbenden ist ein schwieriges Gleichgewicht zwischen Distanz und Identifikation erforderlich: Betroffenheit und Trauer sollten zugelassen werden, aber nicht zu eigenem Leiden oder gar dazu führen, dass die beruflichen Aufgaben nicht mehr professionell ausgeübt werden können. Hilfreich sind hierbei Gespräche mit eigenen Angehörigen, aber auch mit Kollegen, z. B. in einer Balint- oder Supervisionsgruppe.

Grundregeln für den Umgang mit dem Sterben
  • Eigene Gefühle zulassen und akzeptieren; sich über die eigenen Abwehrmechanismen Klarheit verschaffen (z. B. Abblocken bei Fragen des Patienten, nicht aktiv zuhören, das Thema Krankheit und Tod vermeiden usw.)

  • Gefühle des Patienten respektieren und auf sie eingehen, nicht moralisch werten oder verurteilen, stattdessen Wertschätzung vermitteln

  • Sich der Trauer des Patienten nicht verschließen; seinem Wunsch nachkommen, wenn er über das Sterben und den Tod reden will, ihm dabei Halt geben und in seinen Gefühlen beistehen; kein vorschnelles Trösten beim Weinen des Patienten, sondern Tränen zulassen!

  • Angehörigen die Sterbebegleitung am Krankenbett ermöglichen

  • Das Sterben des Patienten aushalten und selbst von ihm Abschied nehmen

  • Die Teamarbeit verbessern

Umgang mit den Angehörigen gestorbener Intensivpatienten

Sterben und Tod gehören zu den großen Tabus unserer Gesellschaft, dabei können wir dem Tod nicht entrinnen, sind vielmehr mitten im Leben von ihm umfangen. Schon der Gedanke an den Tod ist unangenehm und löst Angst aus. Über Tod und Sterben spricht man nicht, Tod betrifft die anderen, nicht mich. Der Umgang mit dem Tod ist durch Verleugnung und Verdrängung gekennzeichnet; der Tod passt nicht in unsere Gesellschaft, er ist etwas Störendes und gehört abgeschafft. Wir lernen nicht, wie man trauert, die Trauer annimmt und durchlebt, und erhalten meist nur eine kurze Frist, unseren Schmerz und unseren Zorn über den Verlust auszusprechen. Diese Verleugnung des Todes ist allgemein verbreitet und findet sich auch bei den Personen wieder, die am häufigsten damit konfrontiert werden: den Ärzten und Pflegenden auf der Intensivstation. Nicht einmal die Techniken der Gesprächsführung, die Übermittlung der Todesnachricht und der Umgang mit Trauernden werden in dieser Berufsgruppe ausreichend gelehrt und vermittelt. Dabei ist es für den angemessenen Umgang mit den Hinterbliebenen des Intensivpatienten erforderlich, den psychischen Hintergrund und den Verlauf der Trauer zu kennen und sein Verhalten danach auszurichten.

Der Tod eines geliebten Menschen löst bei den Angehörigen Trauer aus. Trauer ist eine normale, in allen Kulturen vorkommende Reaktion auf den Verlust. Trauer ist keine einmalige, kurze Reaktion auf den Tod, sondern ein Prozess, der meist in Phasen verläuft, die durch typische affektive, kognitive, verhaltensbezogene und körperliche Reaktionen gekennzeichnet sind:

  • Phase des Nicht-wahrhaben-Wollens: Schock und Verleugnung,

  • Phase der Traurigkeit und Verzweiflung,

  • Phase der langsamen Neuorientierung oder Auflösung,

  • neues inneres Gleichgewicht.

Diese Phasen sind nicht scharf voneinander abgegrenzt, sondern überschneiden sich. Pflegende erleben die Angehörigen meist in der Phase des Nicht-wahrhaben-Wollens.

Schock und Verleugnung

Die Nachricht des Todes, v. a. wenn er plötzlich und unerwartet eintrat, führt bei den Angehörigen zu Schock und Erstarrung oder einem heftigen Gefühlsausbruch. Diese erste Phase dauert Stunden bis Tage, mitunter auch Monate und ist gekennzeichnet durch Verleugnung (Nicht-Wahrhaben-Wollen, Gefühle der Betäubung, der Unwirklichkeit des Ereignisses, der Desorganisation und der Hilflosigkeit). Heftige Emotionen, wie Angst und Wut, Weinen oder rastlos suchende Aktivität mit dem Ziel, den verlorenen Angehörigen zurückzugewinnen, treten auf. Typisch sind weiterhin Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, Unruhe, Engegefühl im Hals, Seufzeratmung.

Die Phase des Schocks und der Verleugnung beginnt unmittelbar nach Erhalt der Todesnachricht und dauert mehrere Tage, mitunter auch mehrere Monate.

Traurigkeit und Verzweiflung

Innerhalb von etwa zwei Wochen nach dem Tod des Angehörigen wird die Endgültigkeit des Verlustes allmählich erkannt und es kommt zum Durchbruch von Gefühlen der tiefen Verzweiflung, Angst, Hilflosigkeit, Einsamkeit, Schuld, aber auch Wut auf sich und den Toten. Weinen tritt in Wellen auf, die Welt erscheint leer, das Interesse an alltäglichen Dingen ist erheblich eingeschränkt oder nicht mehr vorhanden. Nicht selten wird der Tote als anwesend erlebt und mit ihm ein phantasiertes Zwiegespräch geführt. Körperliche Begleiterscheinungen können sein: Unruhe, Appetitlosigkeit oder Essanfälle, Verstopfung oder Durchfälle, Schlaflosigkeit, Gedächtnisstörungen, Konzentrationsstörungen. Die Phase kann 1–2 Jahre anhalten, manchmal auch länger, bis der Betroffene den Verlust akzeptieren kann.

Umgang mit den Angehörigen in der Schockphase

Beim erwarteten Tod nach längerer Krankheit können sich die Helfer und auch die Angehörigen auf die Situation vorbereiten. Anders hingegen beim plötzlichen, unvorhersehbaren Tod, z. B. durch Unfälle, Herzinfarkt, Suizid, Komplikationen im Behandlungsverlauf usw. Hier bleibt dem Personal oft keine Zeit, eigene Gefühle, insbesondere des Versagens, zu verarbeiten; vielmehr müssen die Angehörigen akut auf den nahenden oder bereits eingetretenen Tod vorbereitet werden.

Praktische Grundregeln
  • Der die Todesnachricht Übermittelnde – auf der Intensivstation in der Regel der Arzt – sollte sich mutig und entschlossen auf die Gesprächssituation vorbereiten.

  • Die Aufklärung der Angehörigen über den Tod sollte ungestört in einem speziellen Raum, z. B. dem Arztzimmer oder im „Trauerraum“, erfolgen. Hier sollten die Angehörigen ungehindert und ohne Störung von außen ihre Gefühle der Trauer, Verzweiflung und Wut äußern dürfen. Bei der Sitzordnung sollte darauf geachtet werden, die Stühle zur psychologischen Rückendeckung an der Wand zu positionieren. Zwischen den Angehörigen und dem Aufklärenden sollte sich kein unnötige Distanz schaffender Schreibtisch befinden. Ein direktes Gegenübersitzen sollte ebenfalls vermieden werden, damit die Angehörigen – je nach Wunsch – vor sich hinblicken oder Augenkontakt mit dem Aufklärenden suchen können. Eine seitliche Sitzposition bietet sich hierfür an.

  • Die Übermittlung der Todesnachricht sollte ohne lange und umständliche Erklärungen erfolgen, da die Angehörigen den Toten meist umgehend sehen wollen und sich ohnehin im Zustand äußerster innerer Anspannung und emotionalen Aufruhrs befinden. Auch sollte der Aufklärende die erforderliche Ruhe ausstrahlen und sich nicht von der Aufgeregtheit der Angehörigen anstecken lassen. Er sollte Empathie ausstrahlen, nicht distanzierte Geschäftigkeit und keine Floskeln verwenden wie „Kopf hoch, wird schon wieder“ oder „Zeit heilt alle Wunden“.

  • Bei der Begrüßung der Angehörigen sollte sich der Aufklärende mit Namen und Funktion vorstellen und sich außerdem vergewissern, dass er mit den richtigen Angehörigen spricht. Nach der Begrüßung sollten Stühle angeboten und die Übermittlung der Todesnachricht an die sitzenden Angehörigen erfolgen.

  • Auf dem Weg zum Verstorbenen sollten die Angehörigen, wenn erforderlich, auf dessen Anblick vorbereitet werden. Hierdurch können Erschrecken und Entsetzen im günstigen Fall gemildert werden.

  • Befindet sich der Patient im Zustand des Sterbens bzw. ist seine Prognose aussichtslos, dürfen bei den Angehörigen keine falschen Hoffnungen mehr geweckt werden; vielmehr muss unmissverständlich klargestellt werden, dass keine Hoffnung mehr besteht und mit dem baldigen Tod zu rechnen ist. Diese Botschaft sollte so früh wie vermittelt werden, damit der Angehörige sich besser auf den herannahenden Verlust einstellen und so der Schock etwas gemindert werden kann.

  • Nach Übermittlung der Todesnachricht und dem Hinweis, dass alles medizinisch nur Mögliche getan worden sei, um den Tod abzuwenden, sollten die Angehörigen Gelegenheit haben, sich von dem Toten zu verabschieden. Sie müssen sich selbst davon überzeugen können, dass es sich wirklich um ihren Angehörigen handelt. Wird den Angehörigen dieser letzte Anblick verweigert, bleibt häufig das Gefühl der unglaublichen Leere und Unwirklichkeit zurück. Bei schwerst entstellten Patienten sollte die Konfrontation aber nicht erzwungen werden.

  • Eine Reaktionslosigkeit mancher Angehöriger auf die Todesnachricht darf nicht falsch interpretiert werden. Oft handelt es sich um einen Rückzug oder Trancezustand, der zum eigenen Schutz aufgebaut und meist innerhalb der nächsten Stunden aufgelöst wird.

  • Schuldgefühle gegenüber dem Verstorbenen bis hin zu dem Gedanken, an seinem Tod schuld zu sein, gehören zu den häufigsten Trauerreaktionen. Diese zumeist irrationalen Gefühle müssen ernst genommen werden, lassen sich aber in der Akutsituation meist nur sehr schwer auflösen.

  • Bei einigen Angehörigen muss in der Akutsituation mit heftigen körperlichen Reaktionen gerechnet werden, z. B. Zittern, heftiges Atmen, Schluchzen, Schreien oder Toben, aber auch Erstarrung. Auch diese Reaktionen sind normal und sollten den Arzt nicht zur Verabreichung von Beruhigungsmitteln veranlassen.

Contributor Information

Collaborators: Tobias Fink and Tilmann Müller-Wolff

Nachschlagen und Weiterlesen

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Internet

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  • [8].DIVI Medizinische Versorgung Sterbender und von Patienten mit infauster Prognose auf Intensivstationen. www.divi-org.de

Articles from Anästhesie und Intensivmedizin für die Fachpflege are provided here courtesy of Nature Publishing Group

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