Der aufsichtsrechtliche Rahmen für Europas Geldhäuser hat seine Wurzeln in der Finanzkrise von 2007 bis 2009 sowie in der Staatsschuldenkrise des Jahres 2011. Die derzeitige Corona-Lage bringt neue Herausforderungen für das Banksystem.
Die in der Europäischen Union (EU) geltenden Regelungen und Institutionen zielen vor allem darauf ab, Kreditinstitute widerstandsfähig gegen Krisensituationen zu machen. Im schlimmsten Fall sollen in Schieflage geratene Geldhäuser ohne Schaden für das gesamte Finanzsystem einzeln abwickelbar sein. Auf diese mikroprudenzielle Art soll der Bankensektor als Ganzes gestärkt werden. Ergänzend dazu wurden makroprudenzielle Mechanismen wie das European Systemic Risk Board (ESRB) und auf nationaler Ebene der Ausschuss für Finanzstabilität (AFS) geschaffen, die das System insgesamt in den Blick nehmen und durch eine marktweite sowie institutsübergreifende Betrachtung stabilisieren sollen.
Doch vor dem Hintergrund der Corona-Krise sind diese Regelwerke erneut zu hinterfragen. Es gilt zu überprüfen, wie die Institutionen und Mechanismen in der EU mittlerweile wirken. Denn zwischen den beiden vergangenen Krisen 2007 bis 2009 sowie 2011 und der Virus-Pandemie mit ihren gesellschaftlichen, wirtschaftlichen sowie systemischen Folgen bestehen Unterschiede. Gemeinsam ist den Krisen einschließlich der aktuellen Corona-Lage, dass sie zunächst Turbulenzen an den Kapitalmärkten und eine Verknappung der Liquidität auf dem Interbankenmarkt erzeugen. Überdies führt jedoch der deutliche Konjunktureinbruch zu Schwierigkeiten in den Kreditbüchern der Geldhäuser. Der große Unterschied zwischen den beiden historischen Krisen und der aktuellen besteht darin, dass die beiden Ersteren ihre Wurzeln in den Banken- und Finanzmärkten selbst haben, während die aktuelle Situation ihren Ursprung in der Virus-Pandemie mit weitreichenden konjunkturellen Folgen hat.
Dieser Unterschied ist fundamental, weil er diametral entgegengesetzte Antworten zur Krisenbewältigung erfordert. Vereinfacht ausgedrückt besteht im ersten Fall die Antwort darin, die Banken zur Akkumulation von Liquiditäts- und Kapitalreserven zu zwingen. Diese Anforderungen sind gerade bei besonders risikoreichen Geschäften besonders hoch zu setzen, damit neue Krisen entweder gar nicht erst entstehen oder zumindest eingedämmt werden können, ohne den Finanzsektor als Ganzen zu gefährden. Im zweiten Fall geht es darum, dass die Finanzinstitute ihre Kapital- und Liquiditätsreserven nutzen und teilweise aufbrauchen, um über zusätzliche Kreditvergabe der realwirtschaftlichen Krise entgegenzuwirken.
In Krisenzeiten können Institute Kapitalpuffer abbauen
Das seit 2009 entstandene EU-Regelwerk enthält zahlreiche Mechanismen, um Banken zu einer risikosensitiven Akkumulation von Liquidität und Kapital zu zwingen. Insbesondere dem mikroprudenziellen Regelwerk fehlt es an einem Mechanismus zur Freisetzung dieser Mittel in einer realwirtschaftlich ausgelösten Krise. Und damit nicht genug: Diverse Vorgaben zum Marktpreisrisiko und zur Prudent Valuation führen gerade zu Beginn einer Krise zu einem Anstieg des Kapitalbedarfs bei den Instituten, die daraufhin die Darlehensvergabe einschränken. Die Effekte auf die Kreditrisiken treten in der Covid-19-Krise zwar erwartungsgemäß verzögert ein, werden aber wegen der anhaltenden Corona-Lage zu einer weiteren Erhöhung des Eigenkapitalbedarfs führen.
Der einzige Mechanismus, den die geltenden Regeln zur Freisetzung von Liquidität derzeit vorsehen, betrifft die Kapitalpuffer, die in Krisenzeiten abgebaut werden dürfen. Problematisch daran ist, dass nur einer dieser Puffer, namentlich der antizyklische Kapitalpuffer, auch Countercyclical Buffer (CCyB) genannt, explizit dafür vorgesehen ist. Die anderen Puffer sind eher struktureller Natur. Der CCyB macht jedoch nur einen aufgrund seiner Winzigkeit kaum sichtbaren Teil der gesamten Kapitalpuffer aus (siehe Grafik Seite 36). Daher ist er für die Lösung der als Folge der Corona-Krise anstehenden Herausforderung nicht geeignet.
Die Europäische Zentralbank (EZB) hat die von ihr beaufsichtigten Finanzinstitute ermutigt, auch andere Puffer, insbesondere die so genannte Pillar-2-Guidance (P2G), abzubauen. Empirisch zeigt sich aber bis zum Ende des zweiten Quartals 2020, dass diese Aufforderung gemessen an der Kapitalquote der Banken weitgehend wirkungslos geblieben ist. Und die Common-Equity-Tier-1 (CET-1)-Quote ist im Gegenteil sogar im Schnitt noch leicht gestiegen, was sicher auch durch die Ansage der EZB an die Geldhäuser befördert wurde, keine Dividenden auszuzahlen. Die Gründe für die geringe Nutzung der Puffer sind vielfältig und wurden in den vergangenen Monaten vielfach diskutiert, darunter:
die empirisch nachvollziehbare Befürchtung der Institute, bei sinkenden Kapitalquoten mit schlechteren Ratings und höheren Refinanzierungskosten bestraft zu werden oder zu bestimmten Marktsegmenten keinen Zugang mehr zu bekommen,
die Sorge, zu dicht an die Ausschüttungsgrenze zu kommen mit entsprechenden Konsequenzen für die Möglichkeiten von Additional-Tier-1 (AT1)-Emissionen,
die Sorge vor der Notwendigkeit eines schnellen Wiederauffüllens der Kapitalpuffer aufgrund nicht kalkulierbarer aufsichtlicher Anforderungen bei gleichzeitiger Ertragsschwäche und damit sehr eingeschränkten Möglichkeiten des Kapitalaufbaus durch Thesaurierung,
daraus resultierend die Sorge vor einer weiteren Bestrafung durch den Kapitalmarkt in Form eines Verfalls des Aktienkurses oder Anstiegs der Credit Spreads aufgrund geringerer Ausschüttungserwartungen der Aktionäre,
die Gefahr, dass nicht die Kapitalquote, sondern die ausschließlich von Bilanzkennzahlen bestimmte Leverage-Ratio zur limitierenden Kenngröße wird, und
die Effekte der vorgezogenen Risikovorsorge durch den internationalen Rechnungslegungsstandard IFRS 9. Dies könnte bereits zu Beginn einer Krise zu Belastungen in der Gewinn-und-Verlust-Rechnung (GuV) führen.
Im Ergebnis zeigt sich, dass das derzeitige regulatorische Regelwerk für den Fall einer realwirtschaftlich begründeten Krise über keine ausreichenden Mechanismen zur Freisetzung von Kapital verfügt.
Stellt aber diese Erkenntnis überhaupt ein Problem dar? Und sollte das prudenzielle Regelwerk überhaupt über solche Mechanismen verfügen? Eine naheliegende Antwort auf diese Fragen lautet, dass die effektiveren Mittel der Krisenbekämpfung eher in der expansiven Fiskal- und Geldpolitik liegen. Staatliche Maßnahmen wie die Corona-Hilfsprogramme haben dazu geführt, dass die Geldhäuser die steigende Kreditnachfrage ihrer Firmenkunden in der Krise bedienen konnten, ohne ihre CET-1-Quoten zu reduzieren.
Dieser Schluss könnte jedoch voreilig sein, da die Folgen der Corona-Pandemie noch nicht vollständig in den Kreditbüchern angekommen sind. Insbesondere die höheren regulatorischen Kapitalanforderungen, die durch eine sinkende Qualität der Aktiva entstehen, sind zum großen Teil noch nicht eingeschlagen. Daher ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht klar, ob die Geldhäuser hierzulande, insbesondere nach dem Auslaufen des Gesetzes zur Änderung des Covid-19-Insolvenzaussetzungsgesetzes, ihre Rolle im Rahmen der Transmission der fiskalischen und zentralbankseitigen Impulse in die Realwirtschaft weiter wie gewünscht spielen. Die regulatorische Diskussion um die Nutzung von Kapitalpuffern deutet darauf hin, dass die Neutralität der prudenziellen Regeln gegenüber einer realwirtschaftlichen Krisensituation noch nicht ausreichend gegeben ist. Und so ist weiterhin fraglich, wie das Regelwerk und die aufsichtlichen Mechanismen so gestaltet werden können, dass sie zu einer effektiven Bekämpfung einer Krise außerhalb des Finanzsektors geeignet wären.
Dabei reicht die Fokussierung allein auf die Überarbeitung des Puffer-Regimes nicht aus. Vielmehr muss am Anfang der Überlegungen die Erkenntnis stehen, dass beim Design des derzeit gültigen prudenziellen Regelwerks die Frage der Reaktion auf eine realwirtschaftlich ausgelöste Krise noch nicht ausreichend beantwortet wurde. Gesucht ist ein wirksamer Mechanismus, mit dem in Zeiten der Krise, die nicht von der Bankenbranche ausgelöst wurde, Kapital und Liquidität aus dem System freigegeben werden können, um höhere Kreditvergaben zu ermöglichen. Vielversprechend könnte sein, den Kapitalbedarf auf der mikroprudenziellen Ebene zu senken. Dazu müssten die Formeln für die Umrechnung von risikogewichteten Aktiva in Kapital seitens der Aufsicht durch Anpassung eines oder weniger Parameter in Zeiten der Krise so verändert werden, dass ein geringerer Kapitalbedarf ausgewiesen würde. Dies könnte nach festen Regeln und damit vorhersehbar erfolgen. Dadurch könnte die notwendige Differenzierung zwischen riskanten und weniger riskanten Positionen beibehalten werden. Und gleichzeitig blieben die nominellen Kapitalquoten, an die sich der Markt als Orientierungsgrößen gewöhnt hat, unverändert. Dies hätte den Charme, dass nicht nur die makroprudenzielle Aufsicht allein über dezidierte Mechanismen zur Freisetzung von Kapitalreserven verfügen könnte, sondern diese auch gemäß ihrer Konstruktion in die Systematik der mikroprudenziellen Aufsicht eingebaut würden.
Über neuen Berechnungsfaktor den Kapitalabzug reduzieren
Ein Beispiel aus der derzeitigen Corona-Krise für eine solche Änderung von Parametern in Berechnungsformeln ist der Diversifikationsfaktor bei der Berechnung des Kapitalabzugs für Additional Valuation Adjustments (AVAs). Der Faktor wurde angesichts der aufgrund zunehmender Marktvolatilität explodierenden AVAs zu Beginn der Krise von der EZB angepasst, woraus eine deutliche Reduzierung des Kapitalabzugs resultierte. Die Öffentlichkeit hat von dieser Maßnahme kaum oder gar nicht Kenntnis genommen. Sie bewertet die Kapitalquoten vielmehr unbeeinflusst von dieser Anpassung, obwohl streng genommen eine Überleitungsrechnung zur Situation vor der Anpassung dieses Parameters nötig wäre.
Marktreaktionen müssen einkalkuliert werden
Welchen Weg die Regulierer in der EU auch gehen, beim Design eines Mechanismus zur Freisetzung von Kapital- und Liquiditätsreserven in Krisenzeiten sollten sie insbesondere die Marktreaktionen einkalkulieren. Dies ist eine erste Erkenntnis aus der Corona-Krise, die sich die EZB bereits zu eigen gemacht hat.
Doch es besteht weiterer dringender Handlungsbedarf. Denn die Auswirkungen der Virus-Pandemie sowie des Konjunktureinbruchs auf die Kreditbücher der Geldhäuser stehen weitgehend aus. Und die Mittel sind begrenzt, weil das Potenzial fiskalischer Maßnahmen schon stark genutzt wurde. Die makro- und mikroprudenziellen Regeln sollten so weiterentwickelt werden, dass sie nicht nur geeignet sind, eine im Finanzsektor selbst entstehende Krise zu bewältigen. Sie sollten auch eine realwirtschaftlich begründete Situation bewältigen können. Wichtig ist demnach ein Perspektivwechsel, wonach das Aufsichtsrecht nicht als ein exogener Rahmen für ein Bankensystem zu betrachten ist, sondern als integraler Bestandteil des Systems selbst. Denn in Krisenzeiten kommt es auf die Widerstandsfähigkeit des gesamten Systems aus Banken und prudenziellen Regeln an.
Kompakt.
Die geltenden Finanzegeln erschweren eine krisenbedingt notwendige zusätzliche Kreditvergabe.
Der Abbau von Kapitalpuffern reicht nicht aus.
Die makro- und mikroprudenziellen Regeln müssen überarbeitet werden.
Biographies
Matthias Mayer
ist Partner im Bereich Financial Services (FS) von KMPG. Überdies ist er FS Chief Solution Officer und Chief Markets Officer.
Daniel Sommer
ist Partner bei KPMG in Deutschland im Bereich Financial Services und verantwortet die Betreuung führender deutscher Banken. 

