Bei vielen onkologischen Patienten führt die COVID-19-Pandemie über das übliche Maß hinaus zu starker Verunsicherung und Belastung [4]. Für Familien mit einem krebserkrankten Elternteil und minderjährigen Kindern sind etablierte innerfamiliäre Alltagsabläufe sowohl durch die Erkrankung des Elternteils als auch durch die Pandemie kompromittiert, relevante Versorgungs- und Unterstützungsstrukturen sind nicht mehr oder nur eingeschränkt verfügbar. Für die betroffenen Familien stellt sich mit zunehmender Dringlichkeit die Frage, welche zusätzlichen Risiken einer möglichen COVID-19-Infektion für den erkrankten Elternteil aus einem Besuch der Kinder von Kitas und Schulen resultieren.
Etwa 14 % aller Krebspatienten haben minderjährige Kinder [5]. Jährlich erkranken Expertenschätzungen zufolge in Deutschland rund 37.000 Eltern minderjähriger Kinder neu an Krebs, betroffen sind damit ca. 50.000 Kinder [9]. Eine elterliche Krebserkrankung ist in emotionaler wie auch organisatorischer Hinsicht grundsätzlich eine große Herausforderung [2]. Die Folgen der Erkrankung betreffen die gesamte Familie [3]. Das Risiko für die Entwicklung psychischer Probleme und affektiver Symptome ist bei den Kindern und dem gesunden Elternteil im weiteren Verlauf deutlich erhöht [7, 8]. Gerade das Aufrechterhalten von sicherheitsspendenden Alltagsabläufen ist neben einer möglichst offenen Kommunikation ein bekannter protektiver Faktor [1].
Das vom Centrum für Integrierte Onkologie Aachen (CIOA) initiierte multizentrische Forschungs- und Versorgungsprojekt „Familien-SCOUT“ hat es sich zur Aufgabe gemacht, alle Familienmitglieder eines an Krebs erkrankten Elternteils auf organisatorischer, emotionaler und kommunikativer Ebene zu unterstützen und eine daraus resultierende etwaige Belastungsreduktion systematisch zu evaluieren.
Die Fragestellung, inwieweit während der COVID-19-Pandemie gewohnte Alltagsstrukturen weiterbestehen und Betreuungsangebote in Anspruch genommen werden können, ist für Eltern, Kinder und auch für behandelnde Onkologen ein höchst relevantes Thema. Dazu gehört auch und in besonderem Maße der Besuch von Kitas bzw. Schulen durch die Kinder der Betroffenen.
Befragung von onkologischen Experten
Wer kann diese Entscheidung für die Kinder der Betroffenen treffen? Welche Kriterien sind bei der Risikoeinschätzung zu berücksichtigen, und existieren allgemeine Empfehlungen?
Da mangels vorhandener Daten keine belastbare Evidenz für eine solche Empfehlung existiert, wurden im Sommer 2020 noch vor Beginn des zweiten Lockdowns die Mitglieder des Lenkungskreises des deutschen Netzwerks Onkologischer Spitzenzentren der Deutschen Krebshilfe (DKH), dem die Direktoren von 18 Onkologischen Spitzenzentren angehören, anhand eines eigens entwickelten Fragebogens um ihre Expertenmeinung gebeten.
Der Fragebogen beinhaltet Fragen
zur Häufigkeit und zur Relevanz der Fragestellung im klinischen Alltag,
zu den der Entscheidung zugrunde liegenden Kriterien und ihrer Gewichtung,
zur Verantwortung für die Entscheidungsfindung und
zu einer möglichen allgemeinen Empfehlung.
Insgesamt nahmen 15 Zentren an der Befragung teil, 17 unabhängige Expertenmeinungen sind in die Auswertung eingeflossen. Die Mehrheit der Befragten gab an, der Frage besorgter Eltern nach dem Besuch ihrer Kinder von Kitas und Schulen und dem Risiko einer möglichen COVID-19-Infektion für sie als Patienten im klinischen Setting ca. einmal pro Woche zu begegnen. Die Frage ist laut 14 Experten entsprechend von Relevanz.
Auf die Frage, wer die Entscheidung zum Kita- und Schulbesuch der Kinder fällen soll, geben die Befragten in gleicher Anzahl die Eltern/Familie und behandelnde Onkologen als am besten geeignete Entscheidungsträger an. Präferenziell wird eine partizipative Entscheidungsfindung (Mehrfachnennung) zwischen Onkologen und Familien empfohlen (Abb. 1).
Risikokriterien, die bei der Entscheidungsfindung vorrangig berücksichtigt werden sollten, sind die Art/Ausdehnung der Erkrankung und die Art der Therapie bzw. der daraus resultierende Immunstatus der Betroffenen. Auch das regionale Infektionsgeschehen wird als relevantes Kriterium gewertet (Abb. 2).
Keiner der Befragten sprach sich dafür aus, dass die Kinder Schule und Kita generell nicht mehr besuchen sollen, wenn anhand der oben genannten Kriterien keine deutlich erhöhte Gefährdung für den betroffenen Elternteil besteht. Allgemein empfahl die Mehrheit der Befragten, dass Kinder von an Krebs erkrankten Eltern Kitas und Schulen unter strengerer Einhaltung der Hygieneregeln besuchen und allenfalls in krisenhaften Situationen temporär den Schulbesuch aussetzen (Abb. 3).
Implikationen für die Praxis
Eine allgemeingültige Empfehlung für alle betroffenen Familien war aufgrund der mangelnden Evidenz und der diversen individuellen onkologischen, psychosozialen und regionalen Situationen nicht möglich. Nach Ansicht des Expertengremiums der Onkologischen Spitzenzentren soll Kindern von an Krebs erkrankten Eltern der Schulbesuch jedoch grundsätzlich ermöglicht werden. Im begründeten Einzelfall einer zumindest transient deutlich erhöhten Gefährdung für den betroffenen Elternteil kann der Schulbesuch unter Umständen kurzfristig ausgesetzt werden. Zum Zeitpunkt der Erhebung war die diesbezügliche wissenschaftlich fundierte Datenlage bestenfalls spärlich. Aktuell zeigen prospektive Auswertungen Hinweise auf mögliche spezifische Risikogruppen, z. B. hämatologisch-onkologische Systemerkrankungen mit Beeinträchtigung des Immunsystems und/oder Therapieformen, die die Immunabwehr im Hinblick auf eine adäquate Reaktion gegen eine mögliche Virusinfektion wie auch perspektivisch die Immunreaktion auf einen potenziell verfügbaren Impfstoff direkt beinträchtigen [6]. Neben den medizinischen Aspekten gilt es zudem, das regionale und aktuelle Infektionsgeschehen zu berücksichtigen, um eine Abwägung, wann ein erhöhtes Risiko besteht, zu vervollständigen.
Aufgrund der stetig neuen Erkenntnislage und Komplexität der klinischen Bewertung sowie der Schwierigkeit, daraus ein individuelles Risiko abzuleiten, sollten betroffene Eltern die Entscheidung unter Berücksichtigung ihrer onkologischen Gesamtsituation gemeinsam mit den behandelnden Onkologen treffen und im Falle einer geänderten Faktenlage auch kurzfristig anpassen können. Eltern und Onkologen wird damit eine gemeinsame Verantwortung zugesprochen. Die Entscheidung soll partizipativ getroffen werden, unter Umständen auch in Abstimmung mit dem Hausarzt und der Schule. Betroffenen Familien kann das insofern Entlastung verschaffen, als die Entscheidung unter Berücksichtigung der individuellen medizinischen Situation nicht allein getroffen werden muss und sie und ihre Kinder sich für etwaige Konsequenzen, wie eine im Verlauf möglicherweise auftretende COVID-19-Infektion, nicht schuldig fühlen müssen. Da mehrheitlich als Entscheidungskriterium die Art/Ausdehnung der Erkrankung und die Art der Therapie sowie der daraus resultierende Immunstatus des Betroffenen benannt wurden, erscheint hier die Befähigung betroffener Eltern zu einer informierten Entscheidungsfindung im Austausch mit den behandelnden Onkologen und durch fundierte Empfehlungen essenziell. Die behandelnden Onkologen sind in ihrer Rolle als medizinische Experten maßgeblich daran beteiligt, Familien notwendiges Fachwissen zu vermitteln und Auskunft über onkologische und behandlungsspezifische Faktoren sowie ihre potenzielle Auswirkung auf das Risiko einer COVID-19-Infektion zu geben.
Supplementary Information
Acknowledgments
Danksagung
Ein herzlicher Dank gilt allen weiteren Mitwirkenden: Prof. Dr. med. Peter Albers, Prof. Dr. med. Hana Algül, Prof. Dr. med. Ralf Bargou, Prof. Dr. med. Carsten Bokemeyer, Prof. Dr. med. Martin Bornhäuser, Prof. Dr. med. Christian H. Brandts, Prof. Dr. med. Peter Brossart, Prof. Dr. med. Stefan Fröhling, Prof. Dr. med. Michael Hallek, Prof. Dr. med. Volker Heinemann, Prof. Dr. med. Ulrich Keilholz, Prof. Dr. med. Thomas Kindler, Prof. Dr. med. Florian Lordick, Prof. Dr. med. Christoph Peters, Prof. Dr. med. Daniel Zips, Prof. Dr. med. Olaf Ortmann, Gerd Nettekoven
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
R. Bremen, A. Petermann-Meyer, N. Ernstmann, E. Jost, J. Panse und T.H. Brümmendorf geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Footnotes
Die Autoren R. Bremen und A. Petermann-Meyer teilen sich die Erstautorschaft.
Literatur
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