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. 2021 Feb 5;73(2):42–44. [Article in German] doi: 10.1007/s00058-020-1954-3

Zwischen Ghana und Corona - Ausnahmezustand

Ramin Ghassemi-Moghadam 1,, Jochen Sauer, 1,
PMCID: PMC7848238  PMID: 33551459

Hygiene managen Junge Pflegende durchlaufen in ihrer Ausbildung einen Prozess permanenter Widersprüche zwischen theoretisch Erforderlichem (Lehre) und praktisch Möglichem (Pflegepraxis). Dies wird während der Corona-Krise besonders deutlich. Ramin Ghassemi-Moghadam musste während eines Pflegepraktikums in Ghana erfahren, dass Abstriche in der Klinikhygiene dort an der Tagesordnung sind. Doch zurück in Deutschland erlebte er zu Beginn der Pandemie erstmals Rationierungsmaßnahmen.

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Bereits im Einführungsblock wird in den Pflegeschulen mit der Sensibilisierung angehender Pflegender für ein konsequentes Hygienemanagement begonnen. Damit wird, zumindest theoretisch, ein wesentlicher Grundstein zur Prävention von Transmissionen und Infektionen im Rahmen der Patientenversorgung gelegt. Hierzu gehören die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) propagierten "5 Momente der Händedesinfektion" sowie der zweckgemäße Umgang mit Schutzkleidung. Risikobehaftetes Verhalten beim Arbeiten, wie etwa der Griff ins Gesicht oder in die Haare, wird abtrainiert. Denjenigen, die zuvor ein Praktikum in der ambulanten oder stationären Pflege absolviert haben, schwant bereits zu diesem Zeitpunkt, dass die risikomindernden Richtlinien aus den unterschiedlichsten Gründen nicht überall 1:1 praktiziert werden. Bereits jetzt lernen Pflegeazubis die bedeutsame Rolle des inzwischen auch medizinischen Laien bekannten Robert Koch-Institutes kennen. Als Arbeitnehmer mit einem signifikanten Infektionsrisiko werden sie zudem mit Grundlagen des Infektionsschutzgesetzes vertraut gemacht. Dieses besagt im §30, dass die Träger der Einrichtungen dafür zu sorgen haben, dass das eingesetzte Personal sowie weitere gefährdete Personen den erforderlichen Impfschutz oder eine spezifische Prophylaxe erhalten. Mit Beginn des ersten praktischen Einsatzes sollte jedem die Bedeutung der Händehygiene als eine grundlegende Präventionsmaßnahme mit hoher Evidenz bekannt sein. Die sinnvolle Integration aller Hygieneempfehlungen in den beruflichen Alltag verlangt jedoch konsequente Praxisanleitung und kann sich mitunter über die Länge der gesamten Ausbildungszeit erstrecken.

Ohne Improvisation geht es nicht in Ghana

"Sechs abenteuerliche Wochen verbrachte ich in dem 'Methodist Faith Healing Hospital', einer medizinischen Einrichtung in dem kleinen Ort Ankaase im westafrikanischen Ghana." So beginnt das Reflexionsprotokoll des jungen Pflegeschülers aus Berlin. Früh wird ersichtlich, dass die in Deutschland verinnerlichten hygienischen Richtlinien offensichtlich keine weltweite Gültigkeit besitzen. Im unterfinanzierten ghanaischen Gesundheitssystem ist das "Schonen von Ressourcen" eine Königsdisziplin - nicht nur unter Pflegenden. Ein breitgefächertes Angebot an medizinischen Verbrauchsmaterialien sucht man ebenso vergeblich, wie einen bedarfsgerechten Arzneimittelvorrat. Alle Patienten werden in großen Krankensälen betreut. Eine wirkungsvolle Isolierung ist nicht möglich. Es gibt nur eine Patiententoilette für jedes Geschlecht. Ein Spülbecken auf der Veranda dient als Fäkalienspüle, als Medikamentenschrank ein alter Rollwagen. Die Betten sowie Infusionsständer scheinen Jahrzehnte alt zu sein. Bettwäsche wird nicht gestellt. Darum kümmern sich Angehörige. Einen großen Wassertank mit Ablaufschüssel nutzen die Behandler als provisorisches Waschbecken, um sich nach Patientenkontakten die Hände zu waschen. Eine Händedesinfektion erfolgt eher selten. Klinikmitarbeiter bevorzugen in einem solchen Fall ein Desinfektionsgel, welches sich anscheinend besser dosieren lässt und somit im Verbrauch sparsamer sein soll.

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Viele Life Hacks, also gutgemeinte Improvisationen, dienen im Klinikalltag, um dem permanenten Mangel entgegenzuwirken. So wird beispielsweise ein alter Sauerstoffschlauch bei Blutabnahmen als Stauschlauch verwendet, ein Pappkarton als Spritzenabwurf und eine Rolle Baumwolle dient als Quelle für selbst gerollte Tupfer. Bei einigen Pflegeveteranen werden sicherlich Erinnerungen wach. Dass dies zu Lasten der Hygiene und des Arbeitsschutzes geht, zeigen weitere Belege. Mitunter stehen einer Station lediglich vier Handschuhboxen für einen Monat zur Verfügung. Somit werden intravenöse Antibiosen oftmals ohne Handschuhe vorbereitet. Auf dem Flurboden der pädiatrischen Station lagert ein Ultraschallvernebler. Sämtliche Kinder müssen über dieselbe Atemmaske inhalieren, welche kurz vorher mit etwas Desinfektionsmittel und einen Tupfer ausgewischt wird. In der Neugeborenen-Abteilung ist das Hygienemanagement deutlich ausgeprägter. Mütter und Pflegende müssen sich stets die Hände desinfizieren, bevor man sich den Säuglingen zuwendet. Es gibt sogar Bereichskleidung und Haarnetze. Beim Verlassen der Abteilung muss ein Einmalkittel getragen werden, der allerdings aus finanziellen Gründen nur ausgewechselt wird, wenn er kaputt geht.

Trotz dieser, aus dem Blickwinkel eines Westeuropäers, offenkundigen Mängel, scheinen sich die lokalen Pflegenden keine zu großen Gedanken über Infektionskrankheiten zu machen: "Wir haben ja eine Menge Antibiotika hier", hieß es.

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Unerwarteter Ressourcenmangel in Deutschland

Nur wenige Monate nach dieser einschneidenden beruflichen Erfahrung auf dem afrikanischen Kontinent, breitete sich schnell und für viele unerwartet eine neue, zunächst regionale, Virusinfektionserkrankung bis nach Europa aus. Dies führte in den meisten ambulanten und stationären Gesundheitseinrichtungen zu erheblichen Versorgungsengpässen. Bereits am 20. März 2020 berichteten diverse deutsche Medien über Engpässe an grundlegender Schutzkleidung, die den Gesundheitsschutz insbesondere der Beschäftigten des Gesundheitssystems bei ihrer Arbeit erheblich beeinträchtigen.

Eine Gruppe Berliner Pflegeauszubildender, welcher Ramin Ghassemi-Moghadam angehörte, die gerade im Begriff war, eine Pflegeeinheit im Rahmen eines Praxisausbildungsprojektes selbstständig zu führen, bekam die Auswirkungen des Mangels unmittelbar zu spüren. So wurde jedem Pflegenden zwar ein einfacher medizinischer Mund-Nase-Schutz zur Verfügung gestellt. Dieser sollte jedoch personenbezogen für eine ganze Arbeitswoche genutzt werden. Offensichtlich wurde der Mangel auch dadurch, dass Desinfektionsspender entweder leer blieben oder aber Flaschen nachgefüllt wurden. Die aus der Not geborene Modifikation von Hygienerichtlinien führte zu Recht unter den Auszubildenden zu Verunsicherung und ernster Besorgnis, bedeutete sie doch im Umkehrschluss einen abgeflachten Arbeits- und Infektionsschutz. Die Auszubildendenstation wurde dennoch mit dem Einverständnis aller Beteiligten bis zum geplanten Ende fortgesetzt und bestmöglich fachlich betreut. Dass die Sorgen der Auszubildenden nicht unbegründet waren, zeigt die Tatsache, dass sich in Deutschland seitdem Tausende Beschäftigte aus allen Bereichen der Gesundheitsversorgung, allen voran Pflegende, mit dem Coronavirus infiziert haben. Einige wenige sind sogar an den Folgen verstorben.

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Reflexion von Extremerfahrungen

Die gemachten Erfahrungen wirken bis in den persönlichen Lebensbereich hinein nach. Die plötzliche Konfrontation mit einer vermeintlich hohen Gefahr für die eigene Gesundheit oder die anvertrauter Personen kann zu starker Verunsicherung führen. Es soll sogar junge Erwachsene geben, die sich in den Schutz ihrer Familie zurück wünschen.

Rückblickend kann bilanziert werden, dass die Ausnahmesituation in Deutschland bei weitem nie so gravierend war, wie die wahrgenommene allgemeine gesundheitliche wie wirtschaftliche Lage in Ghana. Ein Grund hierfür sind die im Vergleich nahezu grenzenlosen Möglichkeiten in Deutschland, kurzfristig Ressourcen zur Milderung der Lage zu mobilisieren. Selbstverständlich ist das deutsche Gesundheitssystem flexibler und finanziell besser aufgestellt. Die Qualität der Patientenversorgung wird in großen Teilen überwacht. Es gibt wissenschaftliche Leitlinien für die Behandler und leicht verständliche Informationen zur Gesundheitsvorsorge für medizinische Laien. Die Informationspolitik der Regierung ist transparent und der Diskurs öffentlich. Über die Medien werden die Bürger frühzeitig über Veränderungen unterrichtet und können eigenverantwortlich (re)agieren.

Das Gesundheitswesen in Ghana fußt dagegen auf zwei Hauptsäulen. Zum einen hat die traditionelle Medizin vor allem in den ländlichen Gebieten ihren Platz bis heute behalten. Daneben existiert jedoch schon seit einigen Jahrzehnten ein stärker werdendes vom Westen geprägtes staatliches Gesundheitssystem. Doch dieses ist hoffnungslos unterfinanziert und somit auf internationale Unterstützung beispielsweise der WHO, UNICEF und NGO's angewiesen. Obwohl das Niveau im Vergleich zu den Industrieländern niedrig ist, gilt Ghanas Gesundheitssektor als einer der bestentwickelten Westafrikas.

Die permanente Knappheit an Pflegemitteln fordert den ghanaischen Pflegenden ein enormes Wirtschaften ab. Immer wieder müssen ethische, rechtliche und medizinische Tabus außer Acht gelassen werden, um eine Basisbehandlung möglichst vieler Patienten zu gewährleisten. Aus Gesprächen mit Gesundheitsmitarbeitern geht hervor, dass sie sich überhaupt kein anderes Vorgehen im gewohnten beruflichen Handeln vorstellen können. Geäußerte Europäische Standards stoßen mitunter auf Erstaunen oder sogar Unglaube. Obwohl die Empfehlungen der WHO bereits den ghanaischen Pflegeschülern bekanntgemacht werden, erfahren sie früh, dass diese in vielen Bereichen nicht einhaltbar sind.

In Deutschland nehmen angehende Pflegende die unmittelbaren Auswirkungen auf Pflegebedürftige und die Arbeitsbedingungen bewusst wahr. Sie erkennen, dass sich abgespeckte Hygieneregime negativ auf den Gesundheitsschutz und das klinische Outcome auswirken können. Transparent wird aber auch, welch unterschiedlichen Ressourcen den Versorgungsbereichen, in der Pflegende wirken, von der Gesellschaft bislang zugestanden werden.

Info.

Die Pflegeschulen der Wannseeschulen e.V. in Berlin bieten ihren Auszubildenden die Möglichkeit eines Wahleinsatzes im In- oder Ausland an. Von dieser Möglichkeit haben bereits mehrere Hundert Auszubildende Gebrauch gemacht, obwohl sie den Einsatz weitestgehend selbst organisieren und finanzieren müssen.

Als Auszubildendenstation wird ein vierwöchiges Ausbildungsprojekt bezeichnet, bei dem Pflegeazubis des dritten Ausbildungsjahres eine Pflegeeinheit unter realen Bedingungen selbstständig führen. Sie übernehmen alle anfallenden Aufgaben einschließlich der Stationsleitung und werden dabei intensiv durch ein erfahrenes Pflegeteam begleitet.

wannseeschulen.de

Contributor Information

Ramin Ghassemi-Moghadam, Email: ramingh15@yahoo.de.

Jochen Sauer,, Email: jsauer@wannseeschulen.de.


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