Gerade bei komplexen Entscheidungen kann es von Vorteil sein, sich nicht nur auf die Maschinen-Logik der Künstlichen Intelligenz oder die Intuition von Mitarbeitern zu verlassen. Die systemische Unternehmenssimulation ist ein neuer methodischer Ansatz, der beide Elemente miteinander verknüpft. Er wurde nun erstmals für die Praxis getestet.
Künstliche Intelligenz (KI) macht bemerkenswerte Fortschritte im Controlling von Unternehmen aller Branchen. Schon heute bringen mit KI erstellte Analysen von Daten Informationen zum Vorschein, die dem menschlichen Auge teils verborgen bleiben. Dabei kommen technische Hilfsmittel und statistische Verfahren zum Einsatz, die mit maschineller Logik die Daten erfassen und bewerten. Allerdings ergibt sich daraus oftmals eine Dominanz der rein rationalen Wahrnehmung. Emotionale und vor allem intuitive Informationsquellen sind für die KI oftmals nicht erkennbar. Denn Intuition ist auch im Zeitalter von KI nach wie vor eine Schlüsselkompetenz des Menschen. Gerade bei Entscheidungen, die unter schwierigen und komplexen Bedingungen getroffen werden, ist Intuition aber ein integraler Bestandteil der Entscheidungsfindung (vergleiche hierzu auch Klein et al. 1992). KI und menschliche Intuition für das strategische Controlling und Management miteinander zu verknüpfen, könnte daher für Unternehmen zum Beispiel bei der Entwicklung oder Neuausrichtung von Geschäftsmodellen von großem Nutzen sein.
Systemische Unternehmenssimulation
Die systemische Unternehmenssimulation ist ein neuer methodischer Ansatz, der die rationale und emotionale Wahrnehmung und Beurteilung (Jung 1997, S. 143) im Rahmen der Entscheidungsfindung kombiniert. Dabei werden KI und die systemische Methode der Unternehmensaufstellung im Kontext des strategischen Controllings miteinander verknüpft.
Als KI bietet sich bei diesem Ansatz vor allem das teilüberwachte Maschinelle Lernen (Semi-supervised Machine Learning - SSML) an. Diese Art maschinellen Lernens kann als technische Wahrnehmungsoption das menschliche Empfinden wirkungsvoll ergänzen, vor allem wenn der Erwerb von Daten kostengünstig ist, die Bewertung und Kennzeichnungen jedoch viel Zeit, Mühe oder Geld kosten würden. Im Gegensatz zur reinen menschlichen Datenerfassung oder zum überwachten Maschinellen Lernen ergeben sich Zeit- und Kodierungsvorteile.
"Intuition ist nach wie vor eine Schlüsselkompetenz des Menschen."
Die Methode der systemischen Unternehmensaufstellung, das zweite Element der systemischen Unternehmenssimulation, ist ein holistischer Coaching-Ansatz, bei dem die Zusammenhänge zwischen einzelnen Elementen eines Systems und deren Wechselwirkungen untersucht werden. Das Coaching findet zu einer konkreten Problemstellung eines Auftraggebers statt. Die relevanten Systemelemente werden durch Repräsentanten verkörpert, ein Moderator coacht die Aufstellung. Die Aufstellung zeigt Zukunftsoptionen auf und macht sie durch verschiedene Szenarien simulierbar (Müller/Rippel 2011, S. 278). Die Fähigkeiten des Menschen, sein Umfeld wahrzunehmen, zu fühlen und zu erleben, sind bei diesem Ansatz durch den Einsatz von menschlichen Repräsentanten besonders nützlich. Die physische Gruppensimulation ermöglicht dem Auftraggeber eine dreidimensionale und erlebbare Wahrnehmung seiner Problemstellung. Im Dialog mit dem Coach werden intuitive Lösungsansätze für die Problemstellung erkennbar.
Einsatz der Methode in der Praxis
In einem KI-gestützten Forschungsprojekt der Hochschule Ansbach wurde - in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen (Fraunhofer IIS) - im Sommersemester 2019 erstmals der Forschungsansatz der systemischen Unternehmenssimulation in der Praxis erprobt. Initiator und wissenschaftliche Leitung war die Fachhochschule Ansbach, verantwortlich für die Technik zum Einsatz von SSML bei der Unternehmensaufstellung war der Dienstleistungspartner Fraunhofer IIS.
Problemstellung
Im Mittelpunkt des Forschungsprojekts stand eine Fragestellung des strategischen Controllings. Auftraggeber der systemischen Unternehmenssimulation war ein deutscher Automobil- und Reiseclub, dessen Leistungsportfolio insbesondere Schutzbriefleistungen, die solidarische Unterstützung der Mitglieder sowie umfangreiche und exklusive touristische Leistungen umfasst. In dem Coaching sollte es um die Neuausrichtung des Geschäftsmodells gehen und um potenzielle Auswirkungen auf das Leistungsportfolio beziehungsweise auf einzelne Geschäftsfelder. Ziel war, Handlungsansätze für die Entwicklung von strategischen Geschäftsfeldern, die aus Gründen der Geheimhaltung nicht im Einzelnen dargelegt werden können, zu erhalten.
Methodik und Technik
Als methodischer Ansatz wurde das Marktanteils-Marktwachstums-Portfolio (BCG-Matrix; 4-Felder-Matrix) gewählt (vergleiche Abbildung 1). In einer Art Rollenspiel, das mit einem Schachspiel vergleichbar ist, verkörpern die Repräsentanten einzelne Rollen und Konstellationen im Portfolio. Ihre physischen Reaktionen, Bewegungsimpulse und Äußerungen werden im Zeitablauf festgehalten und können dadurch später ausgewertet werden. Ausgehend von der Ist-Situation des Leistungsportfolios, interessieren die Entwicklung im Zeitablauf und der Rollenwechsel innerhalb der einzelnen Rollenbilder und Quadranten (Question Marks/Stars/Cash Cows/Poor Dogs).
Das Coaching fand am Test- und Anwendungszentrum "L.I.N.K." des Fraunhofer IIS statt. Um die Repräsentanten der systemischen Unternehmenssimulation jederzeit orten und aufnehmen zu können, kamen insgesamt 28 Kameras zum Einsatz. Referenzdaten wurden dabei millimetergenau durch ein Qualisys-Bewegungs-Tracking-System aufgenommen. Die Kameras waren an der Decke des Testbereiches montiert und deckten ein Volumen von 11.025 m3 (45 m x 35 m x 7 m) ab. Alle Kameras und Sensoren hatten permanent ein klares Sichtfeld und konnten die Bewegungen (Anzahl, Tempo, Richtungen, Verweildauer, Abstände, Positionen, Körpersprache und Wärmestrahlung) der Repräsentanten innerhalb der 4-Felder-Matrix jederzeit dokumentieren. Die Matrix selbst wurde auf den Boden der Halle projiziert und diente als physisches Spielfeld.
Ergebnisse
Der Auftraggeber konnte durch die Live-Action der Repräsentanten, die die Entwicklung von strategischen Geschäftsfeldern ihrer Firma simulierten, die Portfolioanalyse dreidimensional erleben und nachvollziehen. Eine dementsprechend wichtige Rolle spielten daher die Bewegungsabläufe und Äußerungen der Repräsentanten sowie deren Wechselwirkungen. Die von den Kameras aufgezeichneten Daten machten es möglich, einzelne Bewegungsabläufe und Veränderungen im Detail nachzuvollziehen und für die Analyse beliebig oft zu wiederholen.
Durch die Analyse der statistischen Daten und die Auswertung des Videomaterials konnte der Auftraggeber wichtige Informationen gewinnen, beispielsweise zu
den Positionen und Bewegungen in den strategischen Handlungsfeldern (Question Marks/Stars/Cash Cows/Poor Dogs),
der Reaktion der Repräsentanten auf unterschiedliche Szenarien und instrumentelle Ansätze,
der Verweildauer auf den einzelnen Positionen,
der Distanz der einzelnen Geschäftsfelder zueinander,
der Ausrichtung im Testfeld, sowie zu
der Geschwindigkeit, mit der sich die Probanden bewegen, oder zu deren Auftreten und zu ihrer Haltung.
Exemplarisch soll dies für das Geschäftsfeld "-.-. 50" dargestellt werden (vergleiche Abbildung 2). Ausgehend von der Position "Question Mark" bewegte sich der Repräsentant über das Segment "Stars" hin zum Quadranten "Cash Cows". Das KI-System erfasste mithilfe der Bewegungs- und Temperatursensoren die Bewegungen, Positionen und Verweildauern des Repräsentanten beziehungsweise des dargestellten Geschäftsfeldes "-.-.50". Das Simulationsergebnis für dieses Geschäftsfeld lässt darauf schließen, dass die angedachten Maßnahmen zu einer Neupositionierung im Zeitablauf führen werden. Letztendlich wird mit einer Endposition im "Cash Cow"-Segment gerechnet.
Neben der visuellen Auswertung erfolgte noch eine Analyse der Audio-Aufzeichnungen. Aus den Äußerungen und kreativen Impulsen der Repräsentanten, wie zum Beispiel spontane Aussagen ("Das ist eine Frechheit!" oder "Das macht mich sehr wütend (…)!"), konnte der Auftraggeber wichtige Informationen und Anregungen zur Wirkung der simulierten Maßnahmen für die Unternehmens- (Stärken/Schwächen) und Umweltanalyse (Chancen/Risiken) ziehen.
"Strategisches Controlling wurde für den Auftraggeber real nachvollziehbar und mit Leben erfüllt."
Durch die systemische Unternehmenssimulation wurde strategisches Controlling für den Auftraggeber also real nachvollziehbar und mit Leben erfüllt. Flankierend durch den Einsatz der KI konnten bei dem Coaching unzählige Daten gesammelt, aufgezeichnet und mithilfe einer maschinell unterstützten Auswertung zugänglich gemacht werden. Die methodische Symbiose aus wissenschaftlicher Forschung, Gamification, Storytelling und Systemtheorie schaffte nahezu spielerisch Erkenntnisse und Handlungsansätze. Die Erkenntnisse haben beim Auftraggeber zu einer Veränderung des Geschäftsmodells geführt. Die strategischen Schwerpunkte wurden neu ausgerichtet sowie damit verbundene Entscheidungen im Bereich der Investitions- und Desinvestitionsstrategie bei "Question Marks"- und "Stars"-Produkten unterstützt.
Fazit
Die Kombination aus maschineller Logik und menschlicher Intuition im Rahmen der systemischen Unternehmenssimulation bietet Unternehmen große Vorteile. Die intuitive Marktwitterung des Menschen, sein Erahnen des Möglichen, sein Fühlen und sein emotionales Erleben, ist durch reine Technik und rationale Innovationen bislang nicht ersetzbar. Erst aus der rationalen und emotionalen Wahrnehmung, Beurteilung und Handlung ergibt sich ein holistisches Aktionsfeld. Aus diesem Grund hilft die menschliche Seite im Veränderungs- und Gestaltungsprozess auch weiterhin, ganzheitliche Lösungen zu kreieren. Die KI-gestützte systemische Unternehmenssimulation kann dabei einen wertvollen, methodischen Ansatz liefern.
Literatur
Jung, C. G. (1997): Typologie, 5. Auflage, München.
Klein, G. A./Orasanu, J./Calderwood, R./Zsambok, C. (1992): Decision making in action: models and methods, Norwood.
Müller, J./Rippel, J. (2011): Crea Leadership, Ansbach.
Zusammenfassung.
Die intuitive Marktwitterung des Menschen, sein kreatives Erahnen des Möglichen, lässt sich durch Künstliche Intelligenz nicht ersetzen.
Über den neuen methodischen Ansatz der systemischen Unternehmenssimulation können Unternehmen gerade bei schwierigen und komplexen Entscheidungen maschinelle Logik und menschliche Intuition miteinander kombinieren.
Die Ergebnisse eines Forschungsprojekts zeigen, wie sich die neue Methode nutzbringend in der Praxis einsetzen lässt, um Fragen aus dem strategischen Controlling zu beantworten.
Handlungsempfehlungen.
Nutzen Sie sowohl die rationale als auch emotionale Wahrnehmung und Beurteilung für eine ganzheitliche und kreative Problemanalyse und Lösungssuche.
Vermeiden Sie eine einseitige Konzentration auf eine rein rational-logische Lösungsanalyse, und bleiben Sie problemoffen.
Nutzen Sie die menschliche Intuition und Emotion als holistisches Korrektiv zur KI, um komplexe Entscheidungssituationen besser zu bewältigen.
Prof. Dr. Jochem Müller
ist Professor für Controlling und Marketing an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Ansbach. E-Mail: jochem.mueller@hs-ansbach.de