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editorial
. 2021 Apr 9;22(2):3–5. [Article in German] doi: 10.1007/s15202-021-4660-3

Alkoholbezogene Störungen: Gedanken zur neuen Leitlinie

Michael Soyka 1,
PMCID: PMC8008210

Fünf Jahre nach der Erstauflage der S3-Leitlinie ist unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) und der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG-Sucht) die Neufassung der schon ursprünglich über 400 Seiten langen S3-Leitlinie zu alkoholbezogenen Störungen vorgelegt worden (AWMF-Register 076-001). Der Neuauflage sind, unter den schwierigen Rahmenbedingungen der COVID-19-Pandemie, erneut intensive Beratungen vorangegangen. Zahlreiche Kliniken und Experten waren involviert. Dazu einige persönliche Gedanken.

Den Begriff "alkoholbezogene Störungen", aus dem Englischen, muss man nicht mögen (und einem Patienten gegenüber auch nicht anwenden), aber so ist nun einmal die internationale Nomenklatur. Es ist wahrscheinlich fair zu sagen, dass die Neuauflage im Wesentlichen dem üblichen Verfallsdatum der Leitlinien geschuldet war, die nach fünf Jahren ihre Gültigkeit verlieren - der klinische Wissenszuwachs hinsichtlich diagnostischer und therapeutischer Möglichkeiten ist nicht dramatisch, aber es gibt durchaus Nuancierungen und Fortschritte.

Kriterien zielen auf Psyche, Soziales und Folgeschäden

In der Leitlinie werden umfangreiche Aussagen zum Screening und Diagnostik sowie zur Behandlung von riskantem, schädlichem und abhängigem Alkoholgebrauch getroffen. Die diagnostischen Kriterien für alkoholassoziierte Störungen haben sich in der ICD-10 und im DSM-5 nicht verändert. Kritisch mag man anmerken, dass weiterhin ein kategorialer Ansatz mit den Diagnosen "schädlicher Gebrauch" beziehungsweise "Abhängigkeit" (ICD-10 und 11) dem dimensionalen Ansatz im DSM-5 (elf Kriterien für suchtbezogene Störungen) gegenüberstehen. Die diagnostischen Kriterien beider Systeme zielen aber im Wesentlichen auf dieselben psychischen und sozialen Korrelate und Folgeschäden eines erhöhten Alkoholkonsums ab. Eine kritische Schwelle wird in keinem der Systeme explizit definiert - dies steht in gewissem Widerspruch zu den für das Alkoholismus-Screening eingesetzten Untersuchungsinstrumenten.

Riskanten Konsum erkennen

Zu Recht wird auch in der Neuauflage der AUDIT beziehungsweise die Kurzform AUDIT-C als sinnvolles Screening- und Diagnoseinstrument dargestellt. Dieser richtet sich aber erheblich auf die Trinkgewohnheiten, die als Diagnosekriterien im ICD-10 und DSM-5 gerade keine Rolle spielen. Diesen Widerspruch kann auch die S3-Leitlinie nicht auflösen.

Wichtig ist die Einführung des Begriffs "riskanter Alkoholkonsum", der hier schon bei einer Trinkmenge von 24 Gramm bei Männern und 12 Gramm bei Frauen festgelegt wird. Die Forschung, aber insbesondere auch das Therapiesystem, richten sich ganz wesentlich auf die Gruppe der schwer abhängigen Patienten, während Menschen mit zu hohem, aber nicht dauerhaft pathologischem Alkoholkonsum oft durch das therapeutische Raster fallen. Zumindest wird in der Leitlinie darauf hingewiesen, dass Kurzinterventionen hier sinnvoll sind.

Zur Diagnostik werden neben klassischen biologischen Laborparametern wie Leberwerten und natürlich der Blutalkoholkonzentration auch Carbohydrate-Deficient-Transferrin (CDT) und vor allem Ethylglucoronid empfohlen, perspektivisch auch Ethylsulfat und Phosphatidylethanol.

Den neuen Zustandsmarkern für Alkoholmissbrauch wird in Zukunft bestimmt eine größere Bedeutung in der Diagnostik zukommen.

Qualifizierte Entzugsbehandlung

Die Leitlinie hält sich fast durchgehend an die internationale Nomenklatur, mit Ausnahmen: So findet sich der mittlerweile in Deutschland eingebürgerte Begriff der "qualifizierten Entzugsbehandlung" in der Leitlinie wieder. Dieser beschreibt die Integration von psycho- und soziotherapeutischen sowie psychosozialen Interventionen zur Förderung der Abstinenzbereitschaft und der Änderungskompetenz schon in die Entzugsphase.

Richtigerweise wird darauf hingewiesen, dass eine rein somatische Entgiftung wenig Erfolg verspricht - wobei auch hier Kurzinterventionen versucht werden können. An der biologischen Therapie der Entzugsbehandlung hat sich in den letzten Jahren wenig geändert. Benzodiazepine sind weiterhin mit Abstand am besten evidenzbasiert. Zahlreiche andere Medikamente sind allenfalls als Second-Line-Medikamente diskutabel, mit Ausnahme des in Deutschland immer noch weit verbreiteten, international unüblichen Clomethiazols.

Medizinische Rehabilitation und Postakutbehandlung

Relativ weit am Ende der Leitlinie, nach Ausführungen zu Subgruppen, folgt das Kernkapitel zur medizinischen Rehabilitation und anderen Formen der "Postakutbehandlung" - ein Begriff, den man in der internationalen Forschung nicht kennt, ebenso wenig wie den Begriff der "Komplexbehandlung", der sich in der deutschen Rehabilitationsforschung - leider, aus meiner Sicht - festgesetzt hat. Auch dieser ist ins Englische unübersetzbar und beschreibt letztlich die Kombination mehrerer psychischer Interventionsformen in einem Therapieangebot - insofern wäre es besser, von integrativen Behandlungsangeboten zu sprechen. So findet man dann auch in den Ausführungen zu "Komplexbehandlungen" sehr unterschiedliche Therapieansätze, mit entsprechend niedrigem Empfehlungsgrad.

Eine Therapie sollte möglichst evidenzbasiert, aber nicht komplex sein. Zu weiteren Interventionsformen mit guter Evidenz gehören zum Beispiel motivationale Interventionsformen, Verhaltenstherapie, das in Deutschland wenig eingesetzte Kontingenzmanagement (das aber gut evidenzbasiert ist, wahrscheinlich, weil es auch gut zu operationalisieren und damit beforschbar ist), Angehörigenarbeit, Paartherapie und auch Ansätze des neurokognitiven Trainings und Cue Exposure, also Methoden zur Bearbeitung von Schlüsselreizen. Auch wenn hier wissenschaftlich das letzte Wort noch nicht gesprochen ist, können neuere internet- und computerbasierte Therapieansätze als interessant und innovativ angesehen werden.

Hinsichtlich der bei Alkoholismus möglichen Medikamente ist immerhin mit Nalmefen eine neue Substanz hinzugekommen, wobei die Evidenz noch nicht so gut ist wie bei Acamprosat und Naltrexon. Allerdings werden alle genannten Substanzen sehr wenig eingesetzt. Disulfiram wird in Deutschland überhaupt nicht mehr vertrieben.

Leitlinie als Orientierungshilfe

Insgesamt ist die Leitlinie in ihrer Kurzfassung eine gute Orientierungshilfe für die Diagnostik und Therapie von Alkoholabhängigkeit und alkoholbezogenen Störungen. In ihrer Langfassung ist sie Nachschlagewerk oder Kompendium. Man darf gespannt sein, welche der am Ende jedes Kapitels angesprochenen Aufgaben für die zukünftige Forschung beziehungsweise Perspektiven umgesetzt werden. Das deutsche Suchthilfesystem ist international hervorragend aufgestellt, neue Interventionen sind aber hoch willkommen und auch notwendig.

Die Erstellung von Leitlinien ist anstrengend, zeitaufwendig und wird wahrscheinlich immer schwieriger. Aus der eigenen Mitarbeit bei dieser und anderen Leitlinien und der Ausarbeitung und Korrektur internationaler Leitlinien lassen sich einige Probleme und Aufgaben unschwer erkennen: Settingeffekte (ambulant, stationär, teilstationär usw.) spielen in der Suchttherapie eine besondere Rolle, und es gilt als politisch korrekt, heute zu jeder Subgruppe eine eigene Therapieempfehlung zu geben, auch wenn die Evidenzbasierung hier oft noch viel schlechter ist. Trotzdem fehlt auch in der aktuellen S3-Leitlinie einiges. Zu psychisch kranken Rechtsbrechern, die wegen alkoholbezogener Störungen im Maßregelvollzug behandelt werden, erfährt man zum Beispiel wenig.

Fachwissen patientengerecht vermitteln

Wichtig wird es auch zukünftig sein, die Praxisrelevanz von Therapieleitlinien zu betonen, damit sie nicht nur für eingefleischte Spezialisten, sondern für alle Kliniker interessant und anwendbar bleiben. Und man muss immer auch an den Patienten denken. Das gilt ebenso für das Sprachliche. Die Botschaft "Sie haben Krebs, müssen operiert und dann mit Medikamenten behandelt werden" versteht jeder. Die Mitteilung "Sie haben eine alkoholbezogene Störung, brauchen eine qualifizierte Entgiftung und dann in der Postakutphase eine Komplexbehandlung" wäre korrekt, wird aber nicht sofort auf Gegenliebe stoßen. Für die Nomenklatur kann die S3-Leitlinie, die so viel Wissenswertes und Anwendbares mitteilt, nichts, aber man sollte als Arzt und Therapeut im Hinterkopf behalten, dass das Fachwissen immer auf die Ebene der klinischen Anwendbarkeit heruntergebrochen werden muss. Denn das fachliche Wissen zur Behandlung des, jetzt schreibe ich Alkoholismus, wäre vorhanden - siehe AWMF-Leitlinie.

Ihr

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