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. 2021 Jun 7;93(3):309–312. [Article in German] doi: 10.1007/s00115-021-01142-9

Künftige Aufgaben der psychiatrischen Begutachtung bei „Long-COVID“

Future issues in “long COVID” psychiatric assessment

H Dreßing 1,, A Meyer-Lindenberg 1
PMCID: PMC8182364  PMID: 34097088

Hintergrund

Das Ausmaß der gesellschaftlichen, ökonomischen und gesundheitspolitischen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie zeichnet sich bislang erst in Ansätzen ab. Nach Schätzungen einer aktuellen Studie kostete die Pandemie bislang 20,6 Mio. Lebensjahre, wobei Menschen mittleren Alters und im frühen Rentenalter im weltweiten Vergleich den größten Anteil an insgesamt verlorenen Lebensjahren aufweisen. Die Lebenserwartung der Bevölkerung fiel in den USA um ein ganzes Jahr [16]. Gerade das psychiatrische Fachgebiet muss sich mit mittelbaren und unmittelbaren Folgen der Pandemie befassen. Die Pandemie bedingt Ängste um die eigene Gesundheit und die Gesundheit anderer Menschen. Darüber hinaus bergen die zur Eindämmung der Pandemie notwendig gewordenen Maßnahmen des „social distancing“ und des „Lockdowns“ Gefährdungsaspekte für die psychische Gesundheit. Schließlich kann die Infektion selber zu einem Befall des Gehirns und zu neuropsychiatrischen Folgen führen. Eine systematische Literaturanalyse ergab Hinweise für eine gesteigerte ängstliche, depressive und posttraumatische Belastungssymptomatik während der SARS-CoV-2-Pandemie [7]. In der bundesweiten NAKO-Gesundheitsstudie berichteten im Mai 2020 deutlich mehr Probanden depressive und Angstsymptome [15]. Eine retrospektive Kohortenstudie fand, dass COVID-19-Patienten im Folgezeitraum gegenüber Patienten mit anderen Akuterkrankungen im deutlich erhöhten Risiko standen, eine psychiatrische Diagnose zu erhalten [17]. In einer repräsentativen Zufallsstichprobe der Mannheimer Bevölkerung, in der das aktuelle psychische Befinden (WHO‑5, Patient Health Questionnaire [PHQ-D]) im Zeitraum vom 24.04. bis 23.05.2020 erhoben und mit Ergebnissen aus einer Befragung aus dem Jahr 2018 verglichen wurde, ergaben sich zwar bezüglich der Mittelwerte des WHO-Summenwerts und der quantitativen Syndromkriterien im PHQ‑D keine signifikanten Unterschiede. Eine differenzierte Analyse zeigte jedoch, dass das psychische Befinden bei jüngeren Personen schlechter war und den persönlichen Resilienzfaktoren eine große Bedeutung zukommt [12]. Neben diesen die Versorgungssysteme schon jetzt belastenden akuten Folgeerscheinungen der Pandemie werden zunehmend auch kognitive Defizite als Kurz- und Langzeitfolgen der COVID-19-Infektion beschrieben. Nachuntersuchungen von COVID-19-Patienten zeigten kognitive Defizite im Verlauf von zwei bis vier Monaten nach Symptombeginn. Im Vordergrund fanden sich dabei Gedächtnisstörungen, Konzentrationsstörungen und andere kognitive Defizite [6]. Spezifische Defizite im Rahmen einer ausführlichen neuropsychologischen Testung wurden kürzlich im Bereich der Aufmerksamkeits- und Merkfähigkeitsstörungen sowie Störungen der exekutiven Funktionen bei Patienten mit nachgewiesener COVID-19-Infektion ca. einen Monat nach der Infektion beschrieben [1].

Neben kognitiven Symptomen wird in der Literatur auch eine ausgeprägte Fatigue-Symptomatik beschrieben [4]. Ohne dass bisher der zeitliche Verlauf und die qualitative Ausprägung der Symptomatik genau festgelegt sind, wird ein Syndrom, das sich noch Wochen bis Monate nach der Infektion zeigt als „Long-COVID“ oder „Chronic-COVID-19“ bezeichnet [2].

Es ist davon auszugehen, dass diese langfristigen gesundheitlichen Konsequenzen der Pandemie u. a. auch die Unfallversicherung, Rentenversicherung und private Versicherungen vor große Herausforderungen stellen werden. Die sozialmedizinische Begutachtungspraxis und die Rechtsprechung wird bezüglich der gesundheitlichen Langfristfolgen mit neuen Fragestellungen konfrontiert werden. Es erscheint deshalb sinnvoll, sich diesbezüglich bereits jetzt mit einigen grundsätzlichen Überlegungen zu befassen.

Neue Fragestellungen in der sozialmedizinischen Begutachtungspraxis

In der sozialmedizinischen Begutachtungspraxis werden sich im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie in unterschiedlichen Versicherungssystemen sowohl finale als auch kausale gutachtliche Fragestellungen ergeben. Einige davon werden im Folgenden kursorisch skizziert.

Im Kontext der Unfallversicherung wird es z. B. um die Anerkennung von COVID-19-Krankheitsfolgen als Berufskrankheit gehen, aber auch um die Einschätzung möglicher Folgeerkrankungen und die Höhe der dadurch verursachten MdE, wenn die Infektion als Arbeitsunfall anerkannt wurde. Diese Fragestellungen werden sich bei Personen ergeben, die infolge der Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit gegenüber der Allgemeinbevölkerung einer wesentlich erhöhten Infektionsgefahr ausgesetzt waren [14]. Dies betrifft z. B. Beschäftigte im Gesundheitswesen, für die einerseits ein deutlich erhöhtes Ansteckungsrisiko besteht [11], für die die Pandemiesituation aber auch grundsätzlich mit einer deutlichen psychischen Belastung einhergeht [3]. Seitens des psychiatrischen Fachgebiets sind bei solchen sozialmedizinischen Begutachtungen z. B. auch Fragen nach der Einschätzung einer Fatigue-Symptomatik oder kognitiver Störungen nach durchgemachter Infektion zu erwarten. Da eine COVID-19-Infektion – abhängig vom Schweregrad und Verlauf der Erkrankung und von notwendig gewordenen Behandlungsmaßnahmen – grundsätzlich auch eine lebensbedrohliche Situation darstellen kann, dürfte in einigen Fällen auch das Traumakriterium einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) erfüllt sein. Gutachtlich kann sich dann die Frage ergeben, ob das Vollbild der posttraumatischen Belastungsstörung erfüllt ist. Im Sinne der Kausalitätslehre der Unfallversicherung wäre für den Fall, dass die Infektion als Arbeitsunfall anerkannt wurde, diese als wesentliche Bedingung für die PTBS anzusehen und die PTBS-Symptomatik abhängig vom Ausprägungsgrad und die hierfür anzusetzende MdE mit einer Unfallrente zu entschädigen. Bei intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Patienten geht man derzeit davon aus, dass in Reaktion auf die lebensbedrohliche Erkrankung und die Behandlung selbst posttraumatische Belastungsstörungen zunehmen [9].

Für diese Störungsbilder sind auch finale Begutachtungsfragen zu erwarten, etwa wenn im Rahmen einer privaten Versicherung aufgrund einer ausgeprägten Fatigue-Symptomatik die Voraussetzungen einer Berufsunfähigkeit geltend gemacht werden oder im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung eine Erwerbsminderungsrente beantragt wird.

Es ist abzusehen, dass die gutachtliche Einschätzung unspezifischer und langanhaltender Post-COVID-Symptome ähnliche Probleme bereiten wird, wie dies schon z. B. bei Begutachtungen der Fibromyalgie, der „multiplen Chemikaliensensibilität“ (MCS) oder der myalgischen Enzephalomyelits/dem chronischen Fatigue-Syndrom bekannt ist. Für deren Anerkennung als schwere körperliche Erkrankungen setzen sich bereits Patientenorganisationen ein [8]. Versuche von Betroffenen, die eigene Krankheit zu definieren, bis hin zur Bezeichnung selber, gibt es auch bereits bei der „Long-COVID-Symptomatik“ [13]. Es erscheint deshalb wichtig, sich mit der Thematik bereits jetzt umfassend und in einem interdisziplinären Austausch zu befassen. An psychiatrischen Zentren sind vielerorts spezifische niederschwellige Beratungs- und Therapieangebote für die von COVID-19 betroffene Bevölkerung entstanden. Dies bietet eine gute Grundlage für die Entwicklung von Post-COVID-Ambulanzen, die über eine entsprechende wissenschaftliche und gutachtliche Expertise verfügen. Diese könnten dabei gegebenenfalls hilfreich sein, um auch Möglichkeiten der Rehabilitation frühzeitig in die Wege zu leiten.

Zumindest nach gegenwärtigem Kenntnisstand kann bei der gutachtlichen Einschätzung einer „Long-COVID-Symptomatik“ auf das auch in anderen Kontexten bewährte Vorgehen zurückgegriffen werden ([5]; Tab. 1).

Anamnese: Biografie, berufliche Entwicklung, Entwicklung der Symptomatik, bisherige Behandlungen
Verhaltensbeobachtung
Psychopathologischer Befund
Körperliche Untersuchung
Neuropsychologische Untersuchung (Leistungsdiagnostik, Beschwerdenvalidität)

Zentral ist dabei der ausführlich erhobene psychopathologische Befund (z. B. sind alle diagnostischen Kriterien einer PTBS erfüllt, wenn eine solche Symptomatik geltend gemacht wird?). Zur Abgrenzung organisch bedingter überdauernder kognitiver Störungen – als grundsätzlich mögliche Folge einer durchgemachten COVID-19-Infektion – von nur subjektiv geklagten kognitiven Störungen im Rahmen einer Fatigue-Symptomatik ist auch eine neuropsychologische Testung zu empfehlen. Zur Beurteilung von zwar nicht organisch erklärbaren, aber möglicherweise doch die Leistungsfähigkeit einschränkenden somatoformen Symptomen im Rahmen einer Fatigue-Symptomatik von einer bewussten Aggravation oder gar Simulation können auch sog. Beschwerdenvalidierungstests im Rahmen einer Gesamtbeurteilung herangezogen werden. Grundsätzlich ist zu bedenken, dass zwischen Diagnose und der beruflichen Leistungsfähigkeit kein unmittelbarer Zusammenhang besteht. Für die Beurteilung möglicher Einschränkungen der Leistungsfähigkeit oder der Teilhabemöglichkeiten ist deshalb die von der WHO herausgegebene Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit [10] heranzuziehen. Einige Konstellationen, die denkbar sind, wenn eine Post-COVID-Symptomatik auf psychiatrischem Fachgebiet hinsichtlich der Kausalität gutachtlich beurteilt werden soll, sind in Tab. 2 dargestellt.

Feststellung kognitiver Störungen: Beim Nachweis einer durchgemachten schweren COVID-Infektion und zuvor unauffälligem Befund ist die Kausalität in der Regel zu bejahen
Feststellung einer posttraumatischen Belastungsstörung: Sofern Schwere der COVID-Erkrankung und Behandlungsintensität die Traumakriterien erfüllen, ist die Kausalität in der Regel zu bejahen
Feststellung einer unspezifischen somatoformen Symptomatik („Fatigue“): Beim Nachweis einer durchgemachten COVID-Infektion ist die Beurteilung der Kausalität schwierig und erfordert eine sorgfältige Einzelfallanalyse. Konkurrierende Belastungsfaktoren müssen im Rahmen einer umfassenden Persönlichkeitsdiagnostik ventiliert werden. Im Einzelfall kann eine Kausalität gegeben sein, denkbar ist aber auch, dass die COVID-Infektion eine Gelegenheitsursache für eine davon unabhängige Fehlentwicklung darstellt. Aggravationstendenzen müssen in diesen Fällen besonders geprüft werden

Fazit für die Praxis

  • Mit zunehmender Dauer der COVID-19-Pandemie rücken auch mögliche neuropsychiatrische Langzeitfolgen in den Fokus.

  • Im Rahmen einer Infektion kann das Virus das zentrale Nervensystem befallen und neuropsychiatrische Symptome verursachen.

  • Die Spätfolgen einer durchgemachten COVID-19-Infektion sind zum Teil unspezifisch und im Hinblick auf bleibende Schäden derzeit noch nicht hinreichend zu beurteilen.

  • In der sozialmedizinischen Begutachtungspraxis werden sich in unterschiedlichen Versicherungssystemen sowohl finale als auch kausale gutachtliche Fragestellungen ergeben.

  • Zumindest nach gegenwärtigem Kenntnisstand kann bei der gutachtlichen Einschätzung einer „Long-COVID-Symptomatik“ auf das auch in anderen Kontexten bewährte Vorgehen zurückgegriffen werden.

Interessenkonflikt

H. Dreßing und A. Meyer-Lindenberg geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Literatur

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