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editorial
. 2021 Jun 29;169(7):603–605. [Article in German] doi: 10.1007/s00112-021-01185-x

Pädiatrische Psychosomatik

Pediatric psychology

J M Fegert 1,, F Zepp 2,, R Kerbl 3,
PMCID: PMC8239322  PMID: 34219811

Das Ihnen vorliegende Themenheft der Monatsschrift Kinderheilkunde beschäftigt sich mit verschiedenen Aspekten der „pädiatrischen Psychosomatik“. Allein diese Begrifflichkeit ist im deutschsprachigen Raum eine Besonderheit. International wird generell eher von „pediatric psychology“ gesprochen, wenn es darum geht, die psychischen Belastungen durch (chronische) körperliche Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter zu erforschen und zu behandeln, oder wenn es sich um die Behandlung psychischer Erkrankungen mit primär körperlicher Symptomatik handelt. Im Bereich des Kinderschutzes und des Umgangs mit Belastungsfolgen früher Kindheitsereignisse sind erst in den letzten Jahren interdisziplinär zwischen den Fächern der Kinder- und Jugendmedizin sowie der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Fortschritte erzielt worden. Auch der Einbezug der Rechtsmedizin ist hier relevant. Allerdings hat die Fixierung auf sichtbare körperliche Befunde auch zu einer teilweise zu geringen Beachtung der nach Repräsentativbefragungen sogar zunehmenden, emotionalen Vernachlässigung und emotionalen Misshandlung geführt. Kurzfristige, mittelfristige und Langzeitfolgen sind eher die Domäne der kinder- und jugendpsychiatrischen, -psychotherapeutischen und später der erwachsenenpsychiatrischen und psychotherapeutischen Verlaufsforschung.

Unser Themenheft spiegelt diese Vielfalt des interdisziplinären Einsatzes für Kinder mit Belastungen, sei es, dass diese primär von einer körperlichen Problematik ausgehen, sei es, dass diese durch externe Faktoren zunächst psychische Folgen auslösen, die sich dann aber, wie die Verlaufsforschung zeigt, somatisch manifestieren können. Der klassische deutsche medizinische Begriff der „Psychosomatik“, nicht in seiner eingegrenzten Bedeutung, sondern in der ursprünglichen wertvollen Darstellung eines aufeinander bezogenen Dualismus, der letztendlich unauflöslich ist, ist hier jenseits der akademischen Fächergrenzen und Zuständigkeit gemeint. Denn im Gegensatz zum Erwachsenenalter gibt es keinen spezifischen Facharzttitel für Kinder- und Jugendpsychosomatik, sondern diese Fragestellungen werden kooperativ von den sich für Kinder und Jugendgesundheit engagierenden Fächern bearbeitet. Im vorliegenden Themenheft nehmen 2 der 4 Beiträge ihren Ausgang von somatischen Erkrankungen; eine Arbeit ist auf Belastungen im Lebensumfeld von aufwachsenden Kindern und Jugendlichen bezogen (psychische Misshandlungen); eine weitere widmet sich den Chancen der Digitalisierung, die häufig nur als Noxe und mögliche schädliche Umweltbedingung thematisiert wird.

Der Dualismus „pädiatrische Psychosomatik“ löst akademische Fächergrenzen und Zuständigkeit auf

Niemitz et al. aus Ulm und Aachen befassen sich in ihrem Manuskript mit dem psychosozialen Unterstützungsbedarf in Familien mit „herzkranken“ Kindern. Angeborene Herzfehler betreffen etwa 1 % aller Neugeborenen, und je nach Art und Schwere ergeben sich nicht nur somatische, sondern auch psychosoziale Belastungen. Diese können die gesundheitsbezogene Lebensqualität (gLQ) signifikant beeinträchtigen. Neben Entwicklungsverzögerung, kognitiven Defiziten, funktionellen Beeinträchtigungen, Schulproblemen, emotionalen Störungen u. a. m. können Ängste und Depressionen auftreten. Die Autoren betonen die Wichtigkeit der Früherkennung derartiger Probleme und Störungen, auch um dadurch Folgeprobleme und Folgekosten zu minimieren. Es gilt daher, krankheitsbedingte Symptome, funktionalen Gesundheitsstaus und Zufriedenheit im Verlauf regelmäßig zu evaluieren und ggf. einer Therapie zuzuführen. Als adäquate Therapiemaßnahme nennen sie die rechtzeitige/frühzeitige Rehabilitation unter Einbeziehung der gesamten Familie. Das Erkennen eines Behandlungsbedarfs geschieht v. a. durch Selbstauskünfte der Patienten und deren Familien in Form von Patient-Reported Outcomes (PRO). Die Autoren präsentieren ein von ihnen entwickeltes elektronisches Tool auf Androidbasis, mit dem sie im Rahmen einer Studie die Effektivität einer derartigen Monitoring-App untersuchen.

Witt et al. aus Ulm berichten in ihrem Beitrag über Häufigkeit und Folgen von psychischer Misshandlung. Sie erwähnen, dass es dafür zwar keine einheitliche Definition gibt, laut American Professional Society on the Abuse of Children aber die Nichterfüllung der psychologischen Grundbedürfnisse (z. B. Sicherheit, Sozialisierung, emotionale und soziale Unterstützung, Respekt) als solche betrachtet wird. Die Autoren präsentieren eigene Erhebungen aus den Jahren 2010 und 2016 mit Befragungen von insgesamt 5014 Personen im Alter von 14 bis 94 Jahren. Diese wurden zu persönlichen Erfahrungen mit psychischer Misshandlung, aber auch anderen Formen der Misshandlung und Vernachlässigung befragt. Das umfangreiche Datenmaterial belegt, dass psychische Misshandlung häufiger vorkommt als sexuelle und körperliche Misshandlung, aber auch eine große Überschneidung mit anderen Misshandlungsformen besteht. Alle Formen von Misshandlung sind signifikant mit psychischen Auffälligkeiten wie Ängstlichkeit und Depressivität assoziiert. Die Autoren betonen, dass die Wahrnehmung psychischer Misshandlung bei medizinischem Personal nicht gleich gut etabliert ist wie für körperliche und sexuelle Misshandlung und fordern erhöhte Aufmerksamkeit und Schulung. Prävention zur Vermeidung psychischer Misshandlung sei ebenso wichtig wie professionelle Intervention im Fall bereits erfolgter Misshandlung oder Vernachlässigung.

Tutus et al. aus Ulm widmen ihren Beitrag der psychischen Belastung von Eltern eines Kindes mit einer seltenen (chronischen) Erkrankung (S[C]E). Diese ist definiert als Erkrankung, die weniger als 5 von 10.000 Menschen (1:2000) betrifft. Durch die Vielzahl der SE (ca. 8000) sind 6–8 % der europäischen Gesamtbevölkerung von einer SE betroffen; die durchschnittliche Dauer bis zur Diagnosestellung beträgt 7 Jahre. Neben der somatischen Problematik liegt sehr oft eine psychosoziale Problematik vor. Angst (auch um das Leben des Kindes), Überforderung, Depressionen, aber ebenso finanzielle Probleme betreffen v. a. Alleinerzieher*innen und machen in vielen Fällen psychosoziale Unterstützung erforderlich. Letztere erfordert in der Mehrzahl der Fälle einen multidisziplinären Ansatz. Die Autor*innen beschreiben die verschiedenen interventionellen Therapieansätze für Familienangehörige, vom Screening auf Belastungsstörung über psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung bis hin zur Psychopharmakatherapie. Sie verweisen außerdem auf die Engpässe und langen Wartezeiten für psychologische und Psychotherapie und stellen als mögliche Alternative das von ihnen entwickelte webbasierte Interventionsprogramm WEP-CARE vor. In diesem Tool erhalten die Eltern über 12 Sitzungen von jeweils 45 min verteilte „Schreibaufgaben“, die sie durch Feedback seitens des „E-Therapeuten“ zunehmend zu einer positiven Einstellung hinführen sollen (u. a. durch Erlernen und Selbstentwicklung von Problemlösungsstrategien). Die Autoren schließen, dass E‑Mental Health (EMH) zu Effizienz- und Effektivitätssteigerung und dadurch zu einer Reduktion der Gesundheitskosten beitragen kann.

Die sich radikal verändernde pädiatrische Psychosomatik hält aktuell hochspezialisierte Angebote vor

A. Felnhofer und L. Fischer-Grote beschreiben in ihrem Beitrag den Einsatz „neuer Medien“ in der pädiatrischen Psychosomatik. Während sonst oft vor der von neuen Medien ausgehenden Gefahr (u. a. Cybermobbing) gewarnt wird, sehen die Autoren durchaus positives Potenzial sowohl für die Diagnostik als auch die Therapie psychosomatischer Erkrankungen. Zum Einsatz kommen u. a. Smartphones und „Virtual-reality“(VR)-Brillen. In der Diagnostik werden v. a. mit Smartphones Daten aus dem Alltag in standardisierter Form erfasst, übertragen und ausgewertet. Als Beispiele nennen die Autorinnen die Assoziation von Wetterlage und Migränebeschwerden sowie verschiedene Variablen im Rahmen von Diabetes (Blutzuckerwert, soziale Interaktionen, Stimmungslage). Auf diese Weise können „Risikosituationen“ besser objektiviert werden. In der Therapie werden 4 Gruppen von Technologien unterschieden: i) selbstadministrierte Technologien, ii) hybride Technologien, iii) computerassoziierte Interventionen, iv) computerspielbasierte Interventionen. Als Beispiel nennen die Autorinnen das mit VR kombinierte Biofeedback. Dabei wird über eine VR-Brille ein kahler Wald eingespielt, den man durch Senkung der Herzfrequenz zum Ergrünen bringen kann. Diese Methode wird z. B. zum Erlernen von Entspannungstechniken bei stressbedingten Störungen eingesetzt. Als Kontraindikationen für den Einsatz von VR gelten Migräne, Epilepsie und Psychosen. Die Autorinnen beschließen ihren Beitrag mit dem Hinweis, dass entsprechende Schulungen beim Einsatz neuer Medien in der pädiatrischen Psychosomatik unumgänglich sind.

Die Beiträge zu diesem Themenheft zeigen sehr deutlich, dass neue Medien und E‑Health auch aus dem Bereich der pädiatrischen Psychosomatik nicht mehr wegzudenken sind. Dies gilt gleichermaßen für Diagnostik, Therapie, Verlaufsbeobachtungen, aber auch wissenschaftliche Erhebungen. Insbesondere im Zeitalter der „coronavirus disease 2019“ (COVID-19) und der damit assoziierten „Fernbetreuung“ bis hin zu abrechenbaren elektronischen Distanzbehandlungen von Patienten haben elektronische Tools sprunghaft weiter an Bedeutung gewonnen. Wenn es letztendlich um das Zurechtkommen im Alltag geht, um Lebensqualität, dann hat gerade die durch das „severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2“ (SARS-CoV-2) ausgelöste Pandemie deutlich gezeigt, wie essenziell die familiären Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen sind. Mit wem man in einem Haushalt lebt, wie die Sorgeberechtigten in diesem Haushalt in der Lage sind, ggf. Homeoffice und Homeschooling miteinander zu vereinbaren, hat ganz wesentlich über die zusätzlichen Belastungen oder auch über positive Erfahrungen während der Pandemie entschieden. Die Versorgung, gerade in der „pädiatrischen Psychosomatik“, wird sich – beschleunigt durch die Coronapandemie – radikal verändern. Die Akzeptanz von hochspezialisierten Therapie- und Bewältigungsangeboten, die über das Internet angeboten werden, steigt insbesondere bei den jungen Menschen erheblich. Hierdurch sind Spezialisierungen in der psychotherapeutischen Begleitung möglich, die früher undenkbar waren. Gleichzeitig war ein häufiger Grund für Abbrüche einer Psychotherapie, z. B. nach einer belastenden onkologischen Therapie, die Tatsache, dass die jungen Menschen erst ihren Therapeuten erklären mussten, warum dies auch belastend, ggf. traumatisierend etc., sein kann. Patienten mit chronischen Erkrankungen in der pädiatrischen Psychosomatik sind Expertinnen und Experten für ihre Krankheitsbilder geworden und sind heute in der Regel ebenso, wie ihre Eltern, extrem gut aufgeklärt. Insofern haben sie auch einen Anspruch auf spezifische, themenbezogene Interventionen, die tatsächlich die Probleme aufgreifen, mit der sich die jeweilige Betroffenengruppe herumschlägt. Digitalisierung kann hier zu einer deutlich besseren Zielgenauigkeit der Interventionen führen. Die Nutzung neuer Methoden, z. B. der VR, in der Therapie eröffnet neue Chancen zum gefahrlosen, realitätsnahen Üben. Je stärker wir durch Grundlagenforschung Krankheitsmechanismen, gerade auch bei den SE, aufklären und evtl. individualisierte Therapien anbieten können, umso mehr müssen wir den Bereich des „Coping“, also des Zurechtkommens mit einer zugrunde liegenden Erkrankung und den damit verbundenen medizinischen Interventionen, im Blick behalten. Ein grundlegendes Verständnis der Krankheitsmechanismen und die weitere Erforschung der psychischen Bewältigung gehören zusammen, auch wenn in der Praxis noch häufiger der Gegensatz zwischen somatisch und psychisch gesehen wird. Gerade die gut erforschten Langzeitfolgen psychischer Misshandlung machen deutlich, dass sich frühe Kindheitsbelastungen auch in somatischen Folgeerkrankungen manifestieren können, wie es die legendäre „Adverse-Childhood-Experiences“(ACE)-Studie [1] ja wegweisend dargestellt hat.

Wir hoffen daher, dass dieses Themenheft ein wenig zu Bewusstsein und Fortbildung in diesem Spannungsfeld „Soma und Psyche“ beitragen kann und unsere Kolleg*innen dadurch mehr Sicherheit im alltäglichen Umgang gewinnen.

Wir freuen uns über jegliches Feedback – gern auch in Form von Leserzuschriften.

Ulm, Mainz, Leoben im März 2021

Univ.-Prof. Dr. Jörg M. Fegert

Univ.-Prof. Dr. Fred Zepp

Univ.-Prof. Dr. Reinhold Kerbl

Interessenkonflikt

J.M. Fegert, F. Zepp und R. Kerbl geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Contributor Information

J. M. Fegert, Email: Joerg.Fegert@uniklinik-ulm.de

F. Zepp, Email: Fred.Zepp@unimedizin-mainz.de

R. Kerbl, Email: reinhold.kerbl@kages.at

Literatur

  • 1.Felitti VJ, Anda RF, Nordenberg D, Williamson DF, Spitz AM, Edwards V, Koss MP, Marks JS. Relationship of childhood abuse and household dysfunction to many of the leading cuases of death in adults. The Adverse Childhood Experiences (ACE) Study. Am J Prev Med. 1998;14(4):245–258. doi: 10.1016/S0749-3797(98)00017-8. [DOI] [PubMed] [Google Scholar]

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