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. 2021 Aug 12;163(14):12–17. [Article in German] doi: 10.1007/s15006-021-0096-0

Die Lehren aus der Flut

Florian Schulte 1,, Susanne Balzer 2,
PMCID: PMC8351230  PMID: 34370228

Verheerende Überschwemmungen in Westeuropa, Hitzewellen in den USA und Kanada, beides inmitten der COVID-19-Pandemie. Wie ist Deutschland auf solch apokalyptische Naturereignisse vorbereitet? Wie gehen wir damit um, dass plötzlich mehrere Katastrophen gleichzeitig auftreten? Und wie müssen wir uns konkret in der Praxis vorbereiten?

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Die Szenarien des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen (IPCC) lasen sich so schön planbar: Nur rasch reduzieren müssten wir die CO2-Emissionen, wenn wir später damit anfingen, nur eben etwas schneller. Damit könnten wir die Erderwärmung zwischen 1,5 und 2 °C begrenzen und alles könne - bis auf einige planbare Anpassungen - bleiben wie es ist [1]. Doch die Erfahrungen dieses Sommers zeigen: So einfach ist es nicht. Als am 27. Juni im - mittlerweile abgebrannten - kanadischen Lytton unter einem Hitzedom knapp 50 °C gemessen wurden, mussten selbst renommierte Klimawissenschaftler einräumen, dass auch sie nicht mit einem solchen Wetterextrem gerechnet hätten. Nur Tage später wurde Deutschland von Wassermassen getroffen. Die Fluten spülten Häuser, Brücken und Autos weg und kosteten mindestens 180 Menschen das Leben. Noch am Abend zuvor hatten die Krisenstäbe die Möglichkeit eines solchen Desasters nicht einmal in Erwägung gezogen.

Wie gehen wir als Ärztinnen und Ärzte mit diesen veränderten Umweltbedingungen um? Wie bei der Behandlung einer schweren Erkrankung braucht es auch für die Gesundheitsauswirkungen des Klimawandels zunächst eine Diagnose: Eine Bestandsaufnahme mit der Erfassung von Risikofaktoren, Prädispositionen, Komplikationsrisiken, Ressourcen. Weil wir selbst mit betroffen sind, erfordert es dabei auch den Mut, die "breaking bad news" nicht nur rational, sondern auch emotional zu erfassen. Und dann benötigen wir einen Therapieplan.

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1. Hitze und ihre Folgen - ein Szenario

Flutkatastrophen sind laut und schaffen dramatische Bilder. Hitzewellen dagegen sind etwas leiser, dafür aber tödlicher: So forderte die Hitzewelle 2003 in Europa etwa 70.000 Todesopfer [2]. Welches Extremwetterereignis als nächstes eintritt, ist im Vorhinein nicht klar. Deshalb greift eine Fokussierung auf einen besseren Hochwasserschutz zu kurz: Es geht darum, die Vorsorge für alle klimabedingten Naturkatastrophen zu verbessern.

Besonders deutlich werden die Defizite bei der Vorbereitung auf Hitzewellen. Unter dem Hitzedom in Kanada wurden rasch Kühlzentren, Wasservernebler und Stationen mit Notfallwasserversorgung eingerichtet - obwohl Kanada eine solche Hitzewelle noch nie zuvor erlebt hatte. In Deutschland dagegen gibt es dafür bisher noch nicht einmal Pläne. Angenommen, der Deutsche Wetterdienst warnt vor einer baldigen längeren Hitzeperiode mit Spitzentemperaturen von über 40 °C - was müssen wir erwarten?

Bereits nach wenigen Tagen wäre es in Innenräumen so heiß, dass ältere Menschen mit Vorerkrankungen in der Strahlungswärme ihrer eigenen vier Wände sterben würden. Bisher tauchen diese Todesfälle in der Statistik häufig als kardiovaskuläre oder renale Sterblichkeit auf [3]. In der kanadische Provinz British Columbia verdreifachten sich während der Hitzewelle im Juni 2021 die "sudden deaths" (plötzlicher Herztod) [4]. Wurden Hitzetote vielleicht oft gar nicht als solche erkannt? Einige Literaturstellen legen das nahe: Hitze ist klinisch als Todesursache nur schwer zu erkennen [5], und selbst der Pathologe muss genau wissen, wonach er sucht [6]. Auch die hitzebedingte Morbidität wird häufig verkannt: So würde eine verwirrte Patientin mit hitzebedingter Hyperthermie von 39,5 °C und konzentriertem Urin wohl eher als Liegetrauma, akutes Nierenversagen oder Urosepsis behandelt.

Im Falle einer Hitzewelle sind Therapieoptionen rar. Ventilatoren helfen nur bis etwa 35 °C, darüber kehrt sich ihre Wirkung - ähnlich wie im Umluftbackofen - um. Im ambulanten Bereich bleiben neben ausreichender Flüssigkeitszufuhr kühlende Duschen oder Bäder - doch wer soll diese mehrmals täglich mit all den gefährdeten älteren, pflegebedürftigen Menschen durchführen?

Auch der Rettungsdienst wäre betroffen. Studien zeigen, dass ab einer gewissen Temperaturgrenze die körperliche Leistungsfähigkeit mit jedem zusätz- lichen Grad massiv absinkt [7]. Selbst gut trainierte Rettungskräfte wären also wohl rasch am Limit, wenn sie bei großer Hitze massenhaft Menschen aus überhitzten Wohnungen bergen müssten - zumal auch ihnen zwischen den Einsätzen oft keine kühlen Rückzugsräume zur Verfügung stehen.

Im Krankenhaus sieht es kaum besser aus. Die meisten Kliniken haben außerhalb der Intensivstationen keine ausreichende Kühlung. Bereits in den vergangenen Jahren führten Hitzeperioden mit über 30 °C zu 3% mehr Krankenhausaufnahmen von über 65-Jährigen [8]. Hitzeextreme würden die stationäre Versorgung schnell an ihre Grenzen bringen: Personelle Ressourcen sind stark begrenzt und aufgrund der Hitze weniger leistungsfähig.

Fazit: Eine ausgeprägte Hitzewelle würde in Deutschland wohl eher einer Kastrophensituation mit einem Massenanfall von Verletzten ähneln, auf die das gesamte Gesundheitssystem - öffentlicher Gesundheitsdienst, Praxis und Klinik - nicht vorbereitet ist. Einer Katastrophe mit Ansage, wohlgemerkt.

2. Wasser- und Nahrungsmittelunsicherheit

"Wenn du mich siehst, dann weine" steht auf vielen der "Hungersteine" entlang der Elbe geschrieben, die nur bei Niedrigwasser sichtbar werden. Mittlerweile tauchen sie vielerorts jährlich auf. Im Jahr 2018 listete der Klima-Risiko-Index der Organisation Germanwatch Deutschland überraschend weltweit auf Platz 3 der vom Klimawandel gefährdeten Länder. Der Grund: Ausgeprägte Dürre.

Dass wir beim Einkauf im Supermarkt bisher noch nichts davon merken, liegt unter anderem daran, dass der globale Nahrungsmittelmarkt bisher Produktionsausfälle an einem Ort durch Überschüsse andernorts ausgleichen kann. Doch auch dieser Mechanismus droht zu kippen. Eine 2019 erschienene Studie unter Leitung der Universität Oxford beschreibt, dass der Klimawandel das Risiko von sogenannten "multi breadbasket failures" erhöht. Dabei handelt es sich um Ernteausfälle von über 75%, die in mehreren Kornkammern der Erde gleichzeitig auftreten. Die Ergebnisse der Untersuchung sind dabei erschreckend: Die Wiederholungszeit solcher globaler Ernteausfälle verkürzt sich für Mais bei einer globalen Temperaturerhöhung von 1,5 °C von derzeit 16 auf unter drei Jahre, und bei 2 °C weiter auf unter 2 Jahre [9].

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Bisher sind die gesundheitlichen Auswirkungen von Nahrungsmittelknappheit vor allem im globalen Süden spürbar: Laut der Weltagrarorganisation FAO nahm die Mangelernährung in den letzten Jahren wieder zu, mit allen damit verbundenen medizinischen Problemen. Doch die Erfahrungen aus der COVID-19-Pandemie zeigen, dass auch die Verteilung von lebenswichtigen Gütern über den Weltmarkt durchaus zum Erliegen kommen kann, wenn Regierungen Exportverbote verhängen. Daher dürften Versorgungsprobleme mit Lebensmitteln zukünftig auch Regionen erfassen, die bisher davon verschont blieben.

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3. Seelische Gesundheit

Auch die Folgen der ökologischen Krise für die seelische Gesundheit sind drastisch. Die Fachliteratur legt nahe, dass die jahrelange Dürre zwischen 2006 und 2011 den syrischen Bürgerkrieg begünstigte [10]. Kriegsleid sowie inhumane Bedingungen während der Flucht und in Lagern führten zu Traumata, die Ärztinnen und Ärzte noch heute bei ehemaligen Geflüchteten behandeln.

Spätestens die Flutkatastrophe in Westdeutschland im Juli hat dann verdeutlicht, dass die kollektive Traumaerfahrung nicht mehr nur im Außen verortet werden kann. So sagte der Bürgermeister des schwer getroffenen Städtchens Schuld unter Tränen [11]: "Diese Flut wird für die Menschen in Schuld Narben hinterlassen, die man nicht vergisst, die nicht zu bewältigen sind, denn unser Leben hat sich von einem auf den anderen Tag verändert." Damit beschreibt er einen gemeinschaftlichen Schockzustand durch die Fluten, von dem viele tausend Menschen betroffen sind.

Auch die Helfer in solchen Katastrophen - von den Nachbarn über Einsatzkräfte der Feuerwehr, Polizei oder des Technischen Hilfswerks bis hin zum medizinischen Personal - gelangen häufig an ihre Belastungsgrenzen. Es liegt auf der Hand, dass das ohnehin überlastete und unterfinanzierte psychotherapeutische Versorgungssystem in Deutschland dieses seelische Leid in der Breite nicht mehr nur mit Einzel- oder Gruppentherapiesitzungen auffangen kann.

4. Der Therapieplan

Wie kann die medizinische Gemeinschaft nun mit derartigen, nie dagewesenen Herausforderungen umgehen?

Zunächst einmal müssen wir nüchtern feststellen: Die ökologische Krise ist wohl die größte gesundheitliche Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Wir waren in der gesamten Geschichte der Menschheit noch nie mit einer solchen Situation konfrontiert. Deshalb kann uns unser bisheriges gesellschaftliches Erfahrungswissen nur begrenzt bei der Lösungsfindung helfen. Das bedeutet: Wir können jetzt noch nicht 100%ig sagen, wie konkrete Lösungen in der Praxis aussehen werden, sondern müssen gemeinsam ins Offene hinein agieren.

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In der Medizin arbeiten wir mit einem der komp- lexesten bekannten biologischen Systeme: dem kranken Menschen. Daher gibt es gerade innerhalb unseres Berufsstandes Prozesswissen, das bei dieser Herkulesaufgabe hilfreich ist. Aus der Nähe betrachtet, agieren wir in unserem Beruf täglich "ins Offene hinein": Eine einmal gestellte Diagnose oder Therapie ist nicht unbedingt bis zum Ende der Behandlung gültig. Unsere Arbeitsstrukturen tragen einer Situ-ation Rechnung, die sich ständig im Fluss befindet: regelmäßige Visiten, kollegialer Erfahrungsaustausch, regelmäßige Fortbildungsveranstaltungen, Verteilung von Verantwortlichkeiten, Zusammenarbeit mit anderen medizinischen und nicht-medizinischen Berufsgruppen, Pragmatismus. Dabei arbeiten wir fließend zwischen verschiedenen Zeitskalen: Ein Zeithorizont von Jahrzehnten, etwa bei der Behandlung eines Diabetes, schrumpft beim daraus entstandenen Herzinfarkt auf Minuten oder Sekunden zusammen.

Mediziner sollten eine Führungsrolle bei der Bewältigung von Umweltkrisen übernehmen

Ärztinnen und Ärzte sind also Spezialistinnen und Spezialisten für die Bewältigung komplexer Situationen. Daher sollten sie eine Führungsrolle bei der Bewältigung der ökologischen Krise übernehmen. Die dafür nötigen Strukturen ähneln jenen, in denen wir ausgebildet wurden: Lösungen entstehen im Gespräch untereinander, basieren auf wissenschaftlichen Daten und werden laufend der sich verändernden Situation angepasst. Bei der Umsetzung gehen wir pragmatisch vor. Der Schlüssel ist ein konti- nuierliches, regelmäßiges Engagement: beobachten, miteinander reden, evaluieren, entscheiden.

Als Rahmen für diese Arbeit bieten sich etwa Arbeitsgruppen zum Thema Klimawandel und Gesundheit in Fachgesellschaften an. Zusätzlich gibt es interaktive Fortbildungen zum Thema, die sowohl von Fachgesellschaften als auch von der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit organisiert werden (s. Infobox 1).

Der alltägliche Praxis- oder Klinikbetrieb bietet ebenfalls einen wertvollen Raum: Ob Radfahren oder eine pflanzenbasierte Ernährung - fast alle Verhaltensweisen, die gesund für den Patienten sind, sind auch gesund fürs Klima. Im Angesicht der ökologischen Krise steht daher eine Neuauflage von wirksamer Lebensstilmedizin an. Wo dafür die zeitlichen Kapazitäten fehlen, müssen sie geschaffen werden. Und nicht zuletzt steht auch der Gesundheitssektor selbst im Fokus: Ein klimaneutraler Gesundheitssektor würde nicht nur 5-7% der deutschen Emissionen einsparen, sondern auch Vorbildfunktion entfalten.

Die Handlungsmöglichkeiten sind also vielfältig. Auf sie zu verzichten, ist im Angesicht der ökologischen Lage keine ethische Option mehr. Die Zeit des Abwartens ist zu Ende. Es ist Zeit, zu handeln!

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Infobox 1 Was Ärztinnen und Ärzte tun können.

Vernetzen

Die Klimakrise stellt Ärztinnen und Ärzte vor neue Herausforderungen. Um diesen bestmöglich zu begegnen, vernetzt die "Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit" (KLUG e.V.) Forschungseinrichtungen, Universitäten, Fachgesellschaften, aber auch Arztpraxen und Krankenhäuser bundesweit und international.

Fortbilden

Am 8. September 2021 findet das Symposium "Klimaschutz in der Praxis" statt. Eine Anmeldung ist über die Website von KLUG e.V - www.klimawandel-gesundheit.de - möglich, Fortbildungspunkte wurden beantragt. KLUG e.V. entwickelte gemeinsam mit der LMU München, dem Helmholtz-Zentrum München und der AG Klimawandel und Gesundheit der DEGAM Materialien zu hitzebedingten Erkrankungen und führte ein Hitzesymposium durch. Beides ist auf www.hitze2021.de abrufbar.

Sich einbringen

Dem Klimawandel können wir nur gemeinsam wirksam begegnen. KLUG e.V. empfiehlt daher, sich in Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen beim Thema Klimaschutz und Gesundheitsschutz einzubringen. Mögliche Räume dafür bieten etwa Qualitätszirkel, Fachgesellschaften oder ärztliche Kreisverbände. Bisher existieren etwa in der DEGAM und der DGIM Arbeitsgruppen zum Thema Klimawandel und Gesundheit. Wenn Sie daran teilnehmen möchten, wenden Sie sich am besten direkt an die Fachgesellschaften. KLUG e.V. kann Gründungen von Arbeitsgruppen in weiteren Fachgesellschaften unterstützen; Kontaktmöglichkeiten finden Sie unter www.klimawandel-gesundheit.de. Zusätzlich hat das Netzwerk spezielle Angebote für Praxen entwickelt, die demnächst auf www.klima-gesund-praxen.de online gehen. Bereits jetzt ist es möglich, sich auf www.gesundheit-braucht-klimaschutz.de für einen klimaneutralen Gesundheitssektor einzusetzen.

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