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. 2021 Aug 18;26(5):366–371. [Article in German] doi: 10.1007/s00772-021-00806-9

Innovativ: geriatrische Konzepte für die Gefäßmedizin und Gefäßchirurgie

Innovative geriatric concepts for vascular medicine and vascular surgery

Björn Maassen 1,, Konstantinos Chondros 1, Leo Cornelius Bollheimer 1
PMCID: PMC8372223  PMID: 34426719

Abstract

Entwicklungen und Fortschritte in Gefäßchirurgie und Geriatrie verlaufen bis dato weitgehend unabhängig voneinander; auch im klinischen Alltag der Krankenversorgung gibt es bislang – anders als bei der Alterstraumatologie – kaum Überschneidungen und Synergismen. Dabei wären interdisziplinär umgesetzte geriatrische Konzepte bei der individualisierten Indikationsstellung, Therapiewahl und Prognoseabschätzung in der Gefäßchirurgie sicherlich hilfreich, v. a. bei hochaltrigen Patienten (85+ Jahre). Geriatrische Begrifflichkeiten wie biologisches Alter und Funktionalität sind dabei kein alleiniges Spiegelbild des Gefäßstatus, sondern schließen neben weiteren organspezifischen Komponenten (z. B. Immunologie, muskuloskelettales System etc.) v. a. auch die psychisch-neurokognitive Domäne und sozialmedizinische Kontextfaktoren ein. Eine Beschränkung auf das kalendarische Alter, den Gefäßstatus oder auch schlagwortartige geriatrische Surrogatparameter wie Frailty wird dabei der gesundheitlichen Charakterisierung von alten Menschen nicht gerecht. Im vorliegenden Artikel werden die Gedankengänge an der Schnittstelle zwischen Gefäßchirurgie und Geriatrie am Beispiel des Bauchaortenaneurysmas (BAA) und der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (pAVK) vertieft.

Schlüsselwörter: Bauchaortenaneurysma, Periphere arterielle Verschlusskrankheit, Multimorbidität, Polypharmazie, Frailty

„Der Mensch ist so alt wie seine Gefäße“ – ein Trugschluss?

Die leider noch weitgehende Parallelexistenz von Gefäßmedizin auf der einen Seite und Geriatrie auf der anderen wird in Deutschland durch das gleichlautende Akronym für beide Fachgesellschaften – DGG – konterkariert: Entsprechend findet sich der Geriater1 beim suchportalgesteuerten Internetaufruf bisweilen irrtümlicherweise bei der Deutschen Gesellschaft für Gefäßchirurgie und Gefäßmedizin (https://www.gefaesschirurgie.de) und vice versa der Gefäßchirurg bei der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (https://www.dggeriatrie.de) wieder.

Während in anderen chirurgischen Bereichen – allen voran der Alterstraumatologie („orthogeriatrics“) – das interdisziplinäre Crossover zu nachgewiesenermaßen höheren Behandlungserfolgen geführt und sich im Krankenhausalltag etabliert hat [1], wird geriatrische Gefäßmedizin als berechtigte(!) Wunschvorstellung bislang nur in Fachkongressen theoretisiert und mit Ausnahme des Trendbegriffs der Gebrechlichkeit („frailty“, s. unten) selbst im Schrifttum kaum adressiert [24].

Die fachliche Distanz zwischen Gefäßmedizin und Geriatrie ist verwunderlich, betrifft doch eine wesentliche Kernkompetenz des Gefäßmediziners die Atherosklerose und damit gerade die Menschen, welche typischerweise über lange Lebensjahre hinweg eine arteriosklerotische Beeinträchtigung von Körperfunktion und Körperstruktur akkumuliert haben [5].

Mit dem fälschlicherweise Rudolf Virchow (Zitat stammt eher von dem Pathologen Robert Rössle, 1876–1956) zugeschriebenen Aphorismus Der Mensch ist so alt wie seine Gefäße“ läuft die Gefäßmedizin Gefahr, sich überzogenen Ansprüchen im Sinne von antiaging auszusetzen. Vielmehr muss in der geriatrischen Gefäßmedizin das Motto „adding life to years“ [6] mit funktionsbegründeten Therapiemaßnahmen im Vordergrund stehen und das jeweilige Alter im Sinne eines pro-aging als unabänderliche Größe akzeptiert werden. Generell gilt nämlich, dass mit zunehmendem Lebensalter präventive und systemische Therapieansätze zunehmend in den Hintergrund treten und stattdessen symptomatische bzw. unmittelbar funktionsverbessernde Maßnahmen den Behandlungsplan bestimmen.

Der Umkehrschluss zum oben erwähnten Pseudo-Virchow-Zitat, im Sinne dass der Mensch so jung wäre wie seine Gefäße, erscheint im Hinblick auf realistische Behandlungsziele einer modernen Gefäßmedizin noch irreführender: Biologisch junge Gefäße sind weder eine pars pro toto noch ein Garant für eine sog. Diatrigerie, d. h. einem verlangsamten biologischen Altern in Relation zum kalendarischen Alter. Zu viele Faktoren müssen letztendlich für ein umfassendes biologisches Jung-Bleiben aufeinandertreffen, was letztendlich auch die große interindividuelle Streubreite der funktionalen Gesundheit im Alter erklärt. Exemplarische Prägnanztypen wären hier die rüstige und selbstständig wohnende 90-jährige Seniorin ohne jeglichen Medikamentenbedarf auf der einen Seite und der erst 70-jährige, unter Betreuung stehende Pflegeheimbewohner mit Polypharmazie (gängige Definition ≥ 5 Medikamente [7]) und Multimorbidität (gängige Definition ≥ 2 aktivitätsmindernde Erkrankungen [8]).

Diese Denkweise findet sich auch in der deutschsprachigen Konsensusdefinition zum geriatrischen Patienten wieder, nach der eine Person zwischen 70 und 79 Jahren nur bei Vorliegen einer geriatrietypischen Multimorbidität (d. h. ≥ 2 Erkrankungen mit sozialmedizinisch aktivitätsmindernden Auswirkungen) als geriatrisch gilt. Ab einem Alter von 80 Jahren kann aufgrund der alterstypisch erhöhten Vulnerabilität per definitionem zwar generell von einem geriatrischen Phänotyp ausgegangen werden, doch gibt es eben auch hier Ausnahmen (s. oben Prägnanztypen; [9]). Die interindividuelle, vom kalendarischen Alter unabhängige Heterogenität bedingt das ebenso unabhängige biologische Alter und ist Resultat einer Interaktion von multiplen Beeinträchtigungen der Körperfunktion und Körperstruktur bzw. umgekehrt ein Ausdruck der bis dahin erhaltenen oder verlorengegangenen Ressourcen. Die Einflussfaktoren des biologischen Alters betreffen dabei eben nicht nur den Fachbereich der Gefäßchirurgie, sondern in gleichem Maße und unabhängig davon multiple andere medizinische Formenkreise, wie beispielsweise neurodegenerativen Erkrankungen etc.

Synergien zwischen Gefäßmedizin und Geriatrie

Multimorbidität

Multimorbidität stellt einen besonderen Behandlungsschwerpunkt der Geriatrie dar. Die alleinige Betrachtung der im beispielsweise akuten Krankheitsfall führenden Haupterkrankung führt meist nur zu einer unzureichenden Wiederherstellung des prämorbiden Status, da häufig parallel andere chronische Erkrankungen exazerbieren können. Um die Auswirkungen der Multimorbidität auf die Alltagskompetenzen des alten Menschen zu messen, nutzt die Altersmedizin das Tool des umfassenden geriatrischen Assessments („comprehensive geriatric assessment“) als multiprofessionelle Teamarbeit [10]. Durch das Assessment können individuelle, therapierelevante Defizite aus Bereichen wie körperliche Funktionsfähigkeit, geistige Fähigkeiten, Mangel- und Fehlernährung, Aktivitäten des täglichen Lebens und der sozialen Umstände identifiziert und in der interdisziplinären Betreuung durch Ärzte, Pflege‑, Physio- und Ergotherapeuten, Psychologen, Logopäden, Diabetes- und Ernährungsteam und Sozialdienst adressiert werden [11, 12].

Polypharmazie

Aus der Multimorbidität, welche im Alter und gerade bei gefäßmedizinisch erkrankten Patienten sehr häufig das kardiovaskuläre System betrifft, resultiert in der Regel die ebenfalls schon erwähnte Polypharmazie. Mit dem korrekten Umgang dieser – insbesondere beim alten Menschen häufig aus ganz unterschiedlichen Fachrichtungen stammenden – Arzneimittel kann man sich leicht überfordert fühlen, insbesondere wenn die Verordnungen nicht den genuinen Fachbereich betreffen.

So sollte die akut notwendige Verschreibung (z. B. eines Analgetikums) beim alten Menschen immer auf eine Eignung in dieser Altersgruppe geprüft werden. Hilfestellung bieten hierbei sogenannte PIM-Listen (potenziell inadäquate Medikation im Alter) wie beispielsweise die für den deutschsprachigen Raum geeignete FORTA- („Fit fOR The Aged“; [13]) oder die PRISCUS-Liste [14], die jedoch nur als Orientierungshilfe dienen und keinesfalls eine eigenverantwortliche kritische Prüfung vor dem Hintergrund der Gesamtsituation der Patienten und deren Vorerkrankungen ersetzt. Insbesondere die FORTA-Liste ist mittlerweile schon mehr als 10 Jahre alt und berücksichtigt daher nicht in der Zwischenzeit erschienene Rote-Hand-Briefe (z. B. zu Domperidon oder zu Diclofenac). Zudem sollte stets auch ein Abgleich mit den in der Fachinformation empfohlenen Dosisanpassungen erfolgen. Die Polypharmazie im Alter mit allen daraus resultierenden Problemen wird in der Altersmedizin gezielt mit z. B. Prüfungen auf Arzneimittel ohne Indikation, Indikationen ohne Arzneimitteltherapie, Kontraindikationen, notwendige Dosisanpassungen, Interaktionen sowie unerwünschte Arzneimittelwirkungen und daraus resultierende Verschreibungskaskaden gezielt adressiert. Vor dem Hintergrund dieser speziellen gerontopharmakologischen Kompetenz gehört es zu den Kernaufgaben der Geriatrie, insbesondere hinsichtlich der Arzneimitteltherapie im perioperativen Management Hilfestellungen zu geben.

Frailty

Für die Gefäßmedizin und Gefäßchirurgie gibt es diverse neuere Studien, in denen die Auswirkungen von sog. „Gebrechlichkeit“ („frailty“) auf das Operationsrisiko und das Outcome untersucht werden. Unter Gebrechlichkeit versteht man allgemein eine Einschränkung der physiologischen Reserve und erhöhte Vulnerabilität des Patienten gegenüber auftretenden Stressfaktoren [15]. Jeder stationäre Krankenhausaufenthalt und jede Operation bedeutet solch einen Stressfaktor, im Besonderen für den alten Menschen. Leider gibt es weder eine einheitliche Definition von Frailty, ebenso wenig wie es ein einheitliches Tool gibt, um diese zu messen [16, 17]. Anhand eines „modified frailty index“ wurde für gefäßchirurgische Patienten gezeigt, dass das präoperative Screening auf Frailty eine bessere Aussage über das Mortalitätsrisiko trifft als andere etablierte Systeme zur Klassifikation des Operationsrisikos [18]. Mit einer anderen Operationalisierung von Frailty, dem sog. „clinical frailty score“ (CFS), lässt sich in der Gefäßmedizin das Risiko für eine Entlassung in eine Pflegeeinrichtung und/oder eine postoperative Mobilitätseinschränkung gut vorhersagen; zudem wurde nachgewiesen, dass für gebrechliche Patienten (CFS ≥ 5), ein 12-fach erhöhtes Risiko einer 30-Tage-Mortalität gegenüber den als nicht gebrechlich eingestuften Patienten besteht [19].

Die alleinige Nutzung der Frailty zum präoperativen Screening ist aus geriatrischer Sicht allerdings zu kurz gefasst, werden damit doch lediglich negative Punkte gesammelt, mit denen eine Intervention oder Operation unwahrscheinlicher gemacht wird. Frailty-Scores ersetzen demnach nicht den Geriater. Mit der kompetenten Nutzung des umfassenden geriatrischen Assessments (s. oben) wird der Patient in seiner Körperfunktion und Körperstruktur, Aktivität und Partizipation sowie Umweltfaktoren charakterisiert und dadurch nicht rein Defizit-, sondern auch ressourcenorientiert klassifiziert. Damit können in der individuellen Betrachtung sehr wohl Gründe gefunden werden, die eine bestimmte (gefäß)chirurgische Operation/Intervention trotz höherem Eingriffsrisiko sinnvoll erscheinen lassen.

Delir

Das postoperativ auftretende Delir ist eine typische altersmedizinische Komplikation nach chirurgischen Eingriffen. In den unterschiedlichen Ausprägungen eines hyperaktiven, gemischten und eines (viel zu häufig verkannten) hypoaktiven Delirs ist dies ein Problem insbesondere beim älteren Menschen im Krankenhaus, welches ein differenziertes Management mit konsequenter Nutzung der sensorischen Hilfsmittel wie Brille und Hörgeräte, reorientierenden Maßnahmen, Wiederherstellung des Tag-Nacht-Rhythmus, Frühmobilisierung und ggf. notwendiger neuroleptischer Medikation nach sich zieht, da die in der Vergangenheit häufig gängige Praxis der Fixierungsmaßnahmen nicht nur eine maximale Verletzung der körperlichen Integrität bedeutete, sondern auch zu einer Verzögerung des Abklingens des Delirs führen konnte. Nach gefäßchirurgischen Operationen liegt die Inzidenz eines Delir zwischen 5 und 39 % (Angabe in zwei Drittel der Studien > 20 %). Dabei stellen neben dem Alter als Hauptrisikofaktor v. a. eine vorbestehende kognitive Einschränkung bzw. Depression, Bluthochdruck und offene Aortenoperationen Risikofaktoren dar [20].

Von besonderer gefäßchirurgischer Relevanz sind Amputationsoperationen und fortgesetztes Rauchen als delirauslösende Risikofaktoren [21]. Somit kann ein präoperatives Screening des Delirrisikos helfen, Hochrisikopatienten vorab zu identifizieren und diese dann mit einem perioperativ begleitenden Delirmanagement in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit der Altersmedizin bestmöglich zu schützen. Dies kann helfen, die durch ein Delir entstehenden Komplikationen – verlängerter Aufenthalt im Krankenhaus und auf der Intensivstation, operative Komplikationen, Entlassungsnotwendigkeit in eine Heimeinrichtung und eine höhere 1‑Jahres-Mortalitätsrate – zu reduzieren [21].

Fallstricke für und Chancen durch einen besseren Synergismus

In vielen operativen Bereichen im Krankenhaus ist weder ein Screening der zur elektiven Operation anstehenden alten Patienten auf das Vorliegen einer Gebrechlichkeit und schon gar nicht ein präoperatives umfassendes geriatrisches Assessment etabliert. Eine Implementierung insbesondere der geriatrischen Mitbeurteilung in das präoperative Prozedere kann möglicherweise helfen, eine bessere Entscheidung hinsichtlich einer Intervention oder Operation im Sinne der Restitutio ad optimum zu treffen. Des Weiteren kann, wenn eine Intervention notwendig, der Patient jedoch „zu frail“ erscheint, auch eine Diskussion hinsichtlich einer präoperativen Prähabilitationsmaßnahme sinnvoll sein, um die Erfolgschancen der Intervention zu verbessern. Auch die Implementierung eines Screenings des Delirrisikos mit anschließender Durchführung eines perioperativen Delirmanagements ist mit einem höheren Personalaufwand vergesellschaftet, der vielfach gescheut wird, obwohl durch eine Reduktion der Delirhäufigkeit und -intensität das Outcome des Patienten nach der Operation bzw. Intervention verbessert werden kann und auch Behandlungskosten reduziert werden könnten.

Ein Hauptgrund der unzureichenden Synergie zwischen Gefäßmedizin und Altersmedizin ist wahrscheinlich jedoch in der fehlenden Abbildung der gemeinsamen Behandlung von alten Menschen in der DRG-Vergütung („diagnosis related groups“) zu sehen. So sucht man vergeblich nach einem DRG-Code, der eine geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung eines Patienten mit einer gefäßmedizinischen Hauptdiagnose abbildet. Hier besteht großer Nachbesserungsbedarf bei den Krankenhaus-Budgetverhandlungen im DRG-System, sofern Gefäßmedizin und Geriatrie auch von Kostenträgerseite Hand in Hand gehen sollen.

Gefäßmedizinische Entitäten im Kontext der ferneren Lebenserwartung

Das Bauchaortenaneurysma (BAA) ist eine Erkrankung, die sich zwar schon in der vierten Lebensdekade anhand lebensstilassoziierter (Kranheits)muster mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erahnen lässt, allerdings wird die morphologische Manifestation aber oft erst ab der siebten Lebensdekade sichtbar; von da an steigt die Prävalenz stetig bis in die zehnte Lebensdekade an. Der Manifestationsverlauf eines BAA geht also einher mit der Großlebensphase des Alters inklusive kalendarischer Zwischenstufungen der „young-olds“ (65–74 Jahre), „middle-olds“ (75–84 Jahre) und „old(est)-olds“ (≥ 85+ Jahre; [22]) und kann insofern als Paradigma für Perspektiven, aber auch Grenzen, eines modernen Ko-Managements zwischen Gefäßchirurgie und Geriatrie gelten. In diesem Sinne ist das BAA eine regelhaft anzutreffende geriatrische Begleiterkrankung, wobei sich der Begriff geriatrisch nicht so sehr auf das Lebensalter ≥ 70 respektive ≥ 80 Jahre, sondern definitionsgemäß die in diesem Alter interindividuell unterschiedlich anzutreffende Multimorbidität respektive Vulnerabilität unterstreicht. Dabei sind geriatrietypische Multimorbidität und Vulnerabilität schon im klinischen Alltag eng ausgelegte Fachbegriffe, die ebenso wie der schon oben eingeführte Begriff der Frailty differenziert und in definitorischer Übereinkunft verwendet werden sollten [9, 23].

Ein konsequent umgesetztes BAA-Screening bei allen Menschen ab 70 Jahren würde zu einer Detektion im Größenbereich von 1:15 beim Mann und 1:40 bei der Frau führen [24]. Bei dann strikter Einleitung weiterer Verlaufskontrollen und Behandlungsmaßnahmen kämen die zur Verfügung stehenden gefäßmedizinischen Ressourcen rasch an ihre Grenzen. Allerdings bedeutet ein (zu) früh gefälltes Behandlungsurteil für oder gegen eine engmaschige Beobachtung mit (schlussendlicher) endovaskulärer/offener Behandlung auch eine definitive Entscheidung für oder gegen den aktiven Versuch der Verhinderung einer potenziell eintretenden tödlichen Ruptur des BAA.

Tatsächlich wurden Überlegungen, ob und inwieweit die individuelle Gefahr einer tödlichen Ruptur bei diagnostiziertem BAA mit der durch das kalendarische Alter vorgegebenen, demografischen Überlebenswahrscheinlichkeit abgeglichen werden sollte, aus aktuellem Anlass angestellt [25]: So gab das American College of Surgeons vor dem Hintergrund der SARS-CoV-2-Pandemie („severe acute respiratory syndrome coronavirus 2“) die Empfehlung aus, möglichst jegliche Revision von BAA – auch bei einem Durchmesser > 6,5 cm – auf einen späteren Zeitpunkt zu verlegen [26].

Derartige statistische Modellrechnungen anhand des kalendarischen Alters und der damit verbundenen sog. ferneren Lebenserwartung können epidemiologisch-methodisch (vgl. zugrunde gelegte Periodensterbetafeln) allenfalls eine grobe Orientierung darstellen und vor dem Hintergrund der im Alter besonders heterogenen, intervenierenden Faktoren nur einer von vielen Gesichtspunkten bei der individuellen medizinischen Entscheidungsfindung sein. Wie kurz eine epidemiologisch gestützte Fokussierung allein auf das kalendarische Alter greift, kann man – pandemieunabhängig – am jährlichen Rupturrisiko von BAA darlegen, das in den AWMF-Leitlinien (Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlicher Medizinischer Fachgesellschaften) der DGG von 2018 als gepooltes Risiko ab einem Durchmesser von ≥ 5,5 cm mit 4 % aufwärts angegeben wird [24]. Gegenüber den aktuellen Periodensterbetafel-basierten Daten zum durchschnittlichen demographischen 1‑Jahres-Überleben in Deutschland wären diese „zusätzlichen“ 4 % Rupturgefahr bei einem 65-Jährigen mit 98 % 1‑Jahres-Überleben und auch bei einem 75-Jährigen mit 97 % (1-Jahres-Überleben) beträchtlich; bei einem 85-Jährigen mit einer 1‑Jahres-Überleben von 90 % erschienen sie etwas hinnehmbarer. Nichts desto weniger ergibt sich – auch und gerade beim 85-jährigen BAA-Patienten – die Notwendigkeit, den Behandlungsplan zusätzlich und personalisiert am individuellen funktionalen Gesundheitsstatus festzumachen. Funktionale Gesundheit beschreibt dabei (a.) defizitorientiert (pathogenetisch) die Interaktion von multiplen Beeinträchtigungen der Körperfunktion und Körperstruktur und ist (b.) umgekehrt ressourcenorientiert (salutogenetisch) Ausdruck der bis dahin erhaltenen oder verloren gegangen Ressourcen. Surrogatparameter für funktionale Gesundheit, wie es z. B. Scores für Multimorbidität und Frailty implizieren, werden diesem komplexen Gefüge nicht gerecht, weshalb es gerade bei so bedeutenden elektiven Entscheidungen wie der Therapie eines BAA beim alten Menschen Sinn macht, ein fachmedizinisches geriatrisches Assessment einzuholen [11, 12].

Durch die richtungsweisende getABI-Studie2 aus den 2000er-Jahren [27] wissen wir, dass in Deutschland jede(r) Fünfte über 65 Jahre einen Knöchel-Arm-Index (ABI) von < 0,9 aufweist und damit die notwendige Diagnosevoraussetzung für eine periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK) erfüllt. Mit ihrer Altersbeschränkung von ≥ 65 Jahren deckt sich die getABi-Studie dem sozialwissenschaftlich-gerontologischen Eintrittswert für die Großlebensphase des Alterns, das Durchschnittalter der getABI-Studie von 72,5 Jahren resultiert jedoch aus den > 90 % Studienteilnehmern, die entweder „young-olds“ (65–74 Jahre) oder allenfalls als „middle-olds“ (75–84 Jahre) waren [22]. Abgeglichen mit aktuellen demographischen Daten zur ferneren Lebenserwartung in Deutschland [28] ist die entsprechend getABI-Studie mit pAVK einhergehende angegebene 5‑Jahres-Sterblichkeit im Bereich von 20 % [29] für eine 72-Jährige mit einer sterbetafelbasierten 5‑Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeit von 91 % beachtlich, für einen 72-Jährigen jedoch angesichts seiner demographischen 5‑Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeit von bereits 85 % verhältnismäßig unspektakulär.

Eine komplementäre epidemiologische Studie zur neu diagnostizierten pAVK bei Männern erbrachte unter Einbezug der Hochaltrigkeit eine genauere Differenzierung in der Mortalität: Demnach verstarben rund 6 % der sog. „young-olds“ (65–74 Jahre), 9 % der „middle-old“ (75–84 Jahre) und 15 % der „old(est)-old“ (85+ Jahre) im Zeitraum von einem Jahr nach der Erstdiagnose einer pAVK [30]. Wiederum abgeglichen mit der aktuellen sterbetafelbasierten Daten zur 1‑Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeit in Deutschland [28] wäre dies bei einem 65-Jährigen (98 %) und auch bei einem 75-Jährigen (97 %) immens, bei einem 85-Jährigen angesichts seiner 1‑Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeit von 90 % jedoch eher verhältnismäßig.

Fazit für die Praxis

  • Trotz der fachlich zahlreichen Überschneidungen gibt es in der Praxis bisher nur wenig gelebte Kooperationen zwischen den Fachdisziplinen der Alters- und der Gefäßmedizin. Hier besteht ein Optimierungsbedarfs sowohl auf der Ebene der Krankenversorgung als auch bei wissenschaftlichen Studien.

  • Bisher häufig herangezogene Surrogatparameter wie das kalendarische Alter oder Frailty reichen nicht aus, um den komplexen geriatrischen Gefäßpatienten ausreichend individuell zu erfassen.

  • Daher ist komplementär zur gefäßmedizinischen Fachexpertise ein umfassendes geriatrisches Assessment wünschenswert, um sich auch bei hochaltrigen Patienten individuell besser für oder gegen eine interventionelle oder operative Therapie entscheiden zu können.

Acknowledgments

Förderung

Der Aufbau des Lehrstuhls für Altersmedizin der Uniklinik RWTH Aachen wird unterstützt von der Robert Bosch Stiftung (32.5.1140.0009.0).

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

B. Maassen, K. Chondros und L.C. Bollheimer geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.

Footnotes

1

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.

2

German Epidemiological Trial on Ankle Brachial Index.

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Articles from Gefasschirurgie are provided here courtesy of Nature Publishing Group

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