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. 2021 Aug 30;165:1–12. [Article in German] doi: 10.1016/j.zefq.2021.06.002

Politikberatung durch Expert*innenräte in der SARS-CoV-2-Pandemie in Deutschland: Eine Dokumentenanalyse aus Public-Health-PerspektiveInline graphic

Expert committees in German public health policymaking during the SARS-CoV-2 pandemic: a document analysis

Kerstin Sell a,b,, Lea Saringer-Hamiti a,b, Karin Geffert a,b, Brigitte Strahwald a,b, Jan M Stratil a,b, Lisa M Pfadenhauer a,b
PMCID: PMC8404986  PMID: 34474991

Abstract

Hintergrund

In der SARS-CoV-2-Pandemie muss die Politik weitreichende Entscheidungen treffen, die von wissenschaftlichen Erkenntnissen gestützt sein sollten. Angesichts der zumeist limitierten Evidenz in Krisensituationen stellt dies eine große Herausforderung dar, insbesondere in frühen Phasen der Pandemie. Entscheidungsträger*innen haben daher wissenschaftliche Expert*innen einbezogen, welche die Evidenzlage vermitteln und kontextualisieren sollten. Die Formen dieser Konsultationen variierten stark. Zum Teil wurden sogenannte Expert*innenräte mit Vertreter*innen verschiedenster Disziplinen einberufen. Die Zusammensetzung dieser Expert*innenräte hat jedoch Fragen der Repräsentation und Transparenz aufgeworfen.

Unser Forschungsvorhaben untersucht, ob und wie Expert*innenräte in Deutschland auf Bundes- und Landesebene einberufen wurden, um die Regierungen und Ministerien in der SARS-CoV-2-Pandemie zu beraten. Es wurden die disziplinäre Zusammensetzung, die Geschlechterverteilung und die Transparenz der Arbeitsabläufe analysiert.

Methoden

Wir führten eine mehrstufige Dokumentenanalyse durch. Zwischen Mai und Juli 2020 wurden Anfragen an die Regierungseinrichtungen der Länder und die Bundesministerien nach dem Informationsfreiheitsgesetz gestellt. Ergänzend zur Analyse der Antwortschreiben wurde eine Sichtung und Analyse der i) Pandemiepläne, ii) der offiziellen Pressemitteilungen und iii) der kleinen Anfragen auf Bundes- und auf Landesebene zu Expert*innenräten im SARS-CoV-2-Kontext für den Zeitraum von Januar bis Anfang Dezember 2020 durchgeführt. Die Auswertung erfolgte mittels qualitativer Inhaltsanalyse.

Ergebnisse

Zehn Bundesländer und vier Bundesministerien etablierten insgesamt 21 Expert*innenräte. Für elf Gremien waren Namen und disziplinärer Hintergrund der Mitglieder bekannt. In diesen Gremien betrug der Frauenanteil 26%. Am häufigsten waren biomedizinische Fachbereiche wie Virologie, Krankenhaushygiene, Medizin, und Biologie vertreten. Weitere Disziplinen (Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften) und nichtwissenschaftliche Expert*innen waren in sieben Bundesländern vertreten. Die zehn Räte ohne namentliche Nennung der Mitglieder waren verschiedenen Themenbereichen (Schule und Kita, Bürgerbeteiligung, Medizin und Pflege, Wirtschaft) zuzuordnen, ihre Mitglieder waren häufig Akteur*innen aus der Praxis und Betroffene.

Diskussion

Die SARS-CoV-2-Pandemie hat zu einer verstärkten Konsultation von Expert*innen durch die Politik geführt. Die entsprechenden Gremien in Deutschland sind jedoch nicht ausreichend repräsentativ, trans- und interdisziplinär zusammengesetzt, um die Politik in komplexen Pandemielagen zu beraten und unterschiedliche Perspektiven zu berücksichtigen. Die Arbeitsweise der Gremien ist unter anderem durch einen erschwerten Zugang zu Informationen nicht ausreichend transparent.

Schlussfolgerung

Aufgrund fehlender Transparenz ist unklar, ob und wie die identifizierten Expert*innenräte Einfluss auf die Politik genommen haben. Transparenz politischer Entscheidungsprozesse und die Berücksichtigung pluralistischer Perspektiven gelten jedoch als wesentlich für die Legitimation und Güte politischer Entscheidungen in einer Pandemie und sollten in Deutschland im Pandemiemanagement gestärkt werden.

Schlüsselwörter: SARS-CoV-2, Politikberatung, Experte, Gender, Wissenstranslation, Public Health

Abkürzungen: Bundesländer. BY, Bayern; BW, Baden-Württemberg; BE, Berlin; BB, Brandenburg; HB, Bremen; HE, Hessen; HH, Hamburg; MV, Mecklenburg-Vorpommern; NI, Niedersachsen; NRW, Nordrhein-Westfalen; RP, Rheinland-Pfalz; SL, Saarland; S, Sachsen; SA, Sachsen-Anhalt; SH, Schleswig-Holstein; TH, Thüringen. Bundesministerien und Behörden; AA, Auswärtiges Amt; BMF, Bundesministerium der Finanzen; BMI, Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat; BMWi, Bundesministerium für Wirtschaft und Energie; BMJV, Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz; BMVg, Bundesministerium der Verteidigung; BMAS, Bundesministerium für Arbeit und Soziales; BMEL, Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft; BMFSFJ, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend; BMG, Bundesministerium für Gesundheit; BMVI, Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur; BMU, Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit; BMBF, Bundesministerium für Bildung und Forschung; BMZ, Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung; ÖGD, Öffentlicher Gesundheitsdienst; RKI, Robert Koch-Institut

Hintergrund

Seit dem Beginn der SARS-CoV-2-Pandemie wurden in Deutschland umfangreiche politische Entscheidungen zur Prävention und Eindämmung der Virustransmission umgesetzt, um die COVID-19-assoziierte Morbidität und Mortalität zu verringern sowie die Überlastung des Gesundheitswesens abzuwenden. Diese Entscheidungen waren zunächst von starkem Zeitdruck und einer hohen Dringlichkeit geprägt. Hinzu kam, dass insbesondere zu Beginn der Pandemie wenig Evidenz über den Erreger und wirksame Eindämmungsmaßnahmen vorlag und die vorhandene wissenschaftliche Evidenz von begrenzter Validität und fraglicher Übertragbarkeit war (so z.B. Modellierungsstudien zur Wirksamkeit nicht-pharmakologischer Maßnahmen). Aufgrund dieser Faktoren haben sich eine Vielzahl von Entscheidungsträger*innen an wissenschaftliche Expert*innen gewandt, um sich zu informieren und unter Einbezug wissenschaftlicher Expertise Entscheidungen zu legitimieren oder zu rechtfertigen [1].

Die Begriffe „Expert*in“ und „Expertise“ werden je nach Disziplin sehr unterschiedlich aufgefasst [2]. Allgemein wird unter einer Expert*in eine Person verstanden, die über ein umfangreiches Wissen zu einem Thema verfügt und in der Lage ist, dieses Wissen auf eine andere Situation zu übertragen [3]. Expertise ist in der Regel relativ: sie wird einem Individuum durch ein anderes Individuum zugeschrieben [4]. Expert*innen nehmen an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik eine Vielzahl von unterschiedlichen Rollen ein, abhängig von der jeweiligen Situation [5]. So können Expert*innen beispielsweise als Vermittler*innen zwischen ihrem Feld der Expertise und der Politik fungieren und ihr Wissen zeiteffizient zur Verfügung stellen [4], [6].

Wissenschaftliche Expertise stellt eine Unterform eines übergeordneten Expertenbegriffs dar. Sie beruht auf wissenschaftlichem Wissen, welches dazu verwendet wird, ein nicht-wissenschaftliches Problem einzuschätzen und Empfehlungen für dessen Lösung abzuleiten [7]. In der SARS-CoV-2-Pandemie waren und sind Entscheidungsträger*innen weltweit mit einem Gesundheitsproblem konfrontiert. Im Sinne eines biomedizinischen Problemverständnis wurden daher zunächst primär Ärzt*innen, Virolog*innen und Epidemiolog*innen konsultiert [8]. Diese sollten Einschätzungen und Empfehlungen bezüglich der Eigenschaften des Erregers, seiner Ausbreitung sowie der Möglichkeiten zu seiner Eindämmung geben [9], [10]. Expertise und Evidenz aus den Sozial-, Verhaltens- und Kommunikationswissenschaften wurden in vergangenen Pandemien kaum berücksichtigt [10] und auch aktuell vielfach vernachlässigt, obwohl die Auswirkungen der Entscheidungen weit über die Expertise von Infektionskrankheitsspezialist*innen hinausgingen [11]. Pandemien sind von einer Unsicherheit und Komplexität geprägt, die ein „post-normales“ Wissenschaftsverständnis erfordern: Probleme mit diesen Merkmalen verlangen als adäquate Lösungsstrategie eine Pluralität von wissenschaftlichen Perspektiven in der Politikberatung sowie den Einbezug weiterer Akteure einschließlich der Zivilgesellschaft [6]. Über diese Entwicklungen hinaus hat in den vergangenen Jahren auch eine Demokratisierung des Expertenbegriffs stattgefunden. Expertise wird demnach auch Personen zugeschrieben, die aufgrund ihres Alltagserleben über Erfahrungen und Expertenwissen in bestimmten Bereichen verfügen [12].

Der Ausschluss von bestimmten Disziplinen und sozialen Perspektiven in der Pandemie kann dazu führen, dass Auswirkungen, die Entscheidungen auf bestimmte Gruppen haben können, nicht zur Genüge abgeschätzt werden können [8], [11]. Internationale Untersuchungen der politischen Beratungsgremien in der SARS-CoV-2- Pandemie zeigten beispielsweise, dass die Zusammensetzung von Expert*innengremien häufig nicht dieser pluralistischen Expertise entspricht. Eine Analyse der Zusammensetzung der Krisenstäbe und Task Forces von 87 Ländern zeigte, dass deren Mitglieder wenig repräsentativ in Bezug auf Geschlecht waren und virologische und epidemiologische Expertise dominierte [13].

Abgesehen von der Art der Expertise, die in Entscheidungsfindungsprozessen berücksichtigt werden, spielt es eine große Rolle, wie Beratungen durch Expert*innen Entscheidungen beeinflussen. Expert*innenrat kann formalisiert oder informell eingeholt werden, externe oder interne Expert*innen involvieren und in permanenten oder ad hoc berufenen Strukturen erfolgen [14]. Der operationelle und legale Kontext für diese Strukturen variiert stark und hat direkte Auswirkungen auf die Verantwortlichkeiten der beratenden Expert*innen [14]. Formate können beispielsweise ein Wissenschaftsrat (z.B. Ethikrat), akademische und professionelle Gesellschaften (z.B. Leopolodina), aber auch individuelle wissenschaftliche Beratung (z.B. chief epidemiologist) umfassen. In Deutschland erfolgt Politikberatung durch Expert*innen traditionell eher in fest institutionalisierten Beratungsgremien als durch Einzelpersonen [15], auch wenn in der aktuellen Pandemie einzelne Expert*innen stark öffentlich präsent waren. Zu den in der aktuellen Pandemie tätigen Beratungsgremien zählen innerbehördliche Krisenstäbe und sogenannte Expert*innenräte, die wir in Abgrenzung von behördlichen Krisenstäben als von der Politik einberufene, feste Beratungsgremien mehrheitlich externer Expert*innen verstehen [16].

Die Beratung durch Krisenstäbe und Expert*innenräte ist in der bisherigen Antwort auf die Pandemie auf verschiedenen Ebenen erfolgt: Die Verantwortung für die Durchführung und Umsetzung des Krisenmanagements wie der Pandemiebekämpfung liegt bei den Ländern, deren Ministerien und Behörden sich in Krisenstäben koordinieren [17] und dort unter anderem Expert*innen des öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) einbinden. Expert*innenräte wie der nationale Expertenrat Influenza, der wissenschaftliche Expertise aus medizinischen Fachgesellschaften einbindet, werden ergänzend in die Politikberatung einbezogen [18]. In der SARS-CoV-2-Pandemie haben auch verschiedene Bundesländer Expert*innenräte eingerichtet und dies teils öffentlichkeitswirksam kommuniziert (z.B. Expertenrat NRW [19]).

Expert*innenräte wurden in der SARS-CoV-2-Pandemie oftmals neu eingesetzt. Während die Besetzung behördlicher Krisenstäbe die vorbestehende disziplinäre Ausrichtung und Geschlechterverteilung von Führungskräften in Behörden reflektiert, lässt sich aus der Zusammensetzung dieser neu einberufenen Expert*innenräte ableiten, wessen Expertise in der Pandemiebekämpfung durch die Politik als relevant bewertet wurde und welche Art von „Wissen“ in politische Entscheidungsprozesse eingeflossen ist.

Unserer Kenntnis nach liegen bislang noch keine systematischen Untersuchungen der Expert*innenräte vor, die in Deutschland auf nationaler und auf Bundeslandebene in die Politikberatung in der SARS-CoV-2-Pandemie eingebunden waren. Konkret wurde daher im Rahmen dieser Studie untersucht, welche deutschen Landesregierungen und Bundesministerien in der SARS-CoV-2-Pandemie feste Expert*innenräte etabliert haben und welche Expertise in diesen Gremien vertreten ist. Von besonderem Interesse waren dabei die disziplinäre Zusammensetzung und Geschlechterverteilung der Mitglieder, die Funktionen der Gremien sowie die Transparenz der Einberufung, der Arbeitsabläufe und -ergebnisse. Darüber hinaus wurde untersucht, ob in den Pandemieplänen von Bund und Ländern das Einsetzen von Expert*innenräten vorgesehen war.

Methodik

Wir führten von Mai bis November 2020 eine systematische Dokumentenanalyse nach O’Leary durch [20]. Da für die Fragestellung vor allem die konkreten Inhalte der Dokumente relevant waren, wurde die Dokumentenanalyse gegenüber anderen methodischen Ansätzen wie der Diskursanalyse bevorzugt, welche bei der Analyse stärker den Kontext der Daten fokussiert [21]. Die eingeschlossenen Dokumente wurden mit Hilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Margrit Schreier analysiert [22]. Wir orientierten uns an den Reporting-Standards für qualitative Forschung [23].

Eingeschlossene Dokumentenarten

Um der inhaltlichen Spannbreite der Forschungsfragen gerecht zu werden, wurden vier verschiedene Dokumententypen berücksichtigt: i) die Pandemiepläne des Bundes und der Länder, ii) offizielle Pressemitteilungen der Landesregierungen und Bundesministerien, iii) Antworten auf kleine Anfragen in den Landesparlamenten und im Bundestag und iv) Antwortschreiben auf Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz durch unsere Forschungsgruppe.

  • i)

    Pandemiepläne sind öffentlich zugängliche Dokumente [24] mit Empfehlungen und Maßnahmen, die im Falle einer Pandemie umzusetzen sind. Die Pläne sollen zur Reduktion der Morbidität und Mortalität in der Gesamtbevölkerung, der Sicherstellung der Versorgung erkrankter Personen, der Aufrechterhaltung essenzieller, öffentlicher Dienstleistungen sowie einer zuverlässigen und zeitnahen Information von Entscheidungsträgern, Fachpersonal und der Öffentlichkeit beitragen [18]. Deutschland verfügt über insgesamt 17 Pandemiepläne (einer auf Bundesebene; 16 auf Landesebene)

Während Pandemiepläne ein idealisiertes Vorgehen im Pandemieausbruch aufzeigen, bilden kleine Anfragen und offizielle Pressemitteilungen reale Prozesse während des Infektionsgeschehens ab:

  • ii)

    Offizielle Pressemitteilungen der Landesregierungen und Bundesministerien stellen eine Möglichkeit der Regierungspartei(en) dar, ihre Entscheidungen und Handlungen der Öffentlichkeit darzulegen.

  • iii)

    Kleine Anfragen sind im Gegensatz dazu ein Werkzeug der Oppositionsparteien. Parlamentsabgeordnete können dabei Fragen an die Regierung stellen, die innerhalb eines vorgesehenen Zeitraums schriftlich beantwortet werden müssen [25].

  • iv)

    Darüber hinaus haben natürliche und juristische Personen das Recht, nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) Zugang zu Informationen von deutschen Ämtern und Behörden zu erhalten [26]. Die Antwortschreiben auf unsere Anfragen nach dem IFG stellten die vierte Dokumentenart in unserer Analyse dar.

Identifikation der Dokumente und Analysezeitraum

Die Pandemiepläne aller 16 Bundesländer wurden im Oktober 2020 über die Homepage des Robert Koch-Instituts (RKI) identifiziert [24] und mit dem Pandemieplan des Bundes in die Analyse einbezogen [18], [27]. Zur Identifikation von Pressemitteilungen und kleinen Anfragen durchsuchten wir zunächst die digitalen Archive der Landesregierungen. Abhängig vom Aufbau der jeweiligen Webseiten wurden verschiedene Suchoptionen verwendet. Als Suchbegriffe wurden Schlagwörter wie “Corona”, “Covid-19”, “SARS-CoV-2” oder Begriffskombinationen gewählt. Die Suchen wurden erstmalig im Frühjahr 2020 durchgeführt und im November 2020 wiederholt und um die bis einschließlich 07.12.2020 hinzugekommenen Dokumente ergänzt. Im November 2020 wurden die Suchen nach Pressemitteilungen und kleinen Anfragen auf Bundesebene durchgeführt.

Unter Bezugnahme auf das Informationsfreiheitsgesetz kontaktierten wir im Mai 2020 die Staatskanzleien, Staatsministerien oder Senatskanzleien der 16 Länder sowie die 14 Bundesministerien und das Bundeskanzleramt mit offiziellen Anfragen. Der Inhalt der Anfragen entsprach unseren initialen Forschungsfragen (Textbox 1). Alle bis Juni 2021 eingegangenen Antwortschreiben der Behörden wurden eingeschlossen.

Textbox 1: Forschungsfragen, abgeleitete Fragestellungen der offiziellen Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz

Leitfrage: Wird das Bundesministerium XY / die Landesregierung XY in Fragen rund um COVID-19 von einem Expert*innengremium beraten?

  • Falls ja (= Sub-Forschungsfragen):
    • Aus welchen Personen setzt sich dieses Expert*innengremium zusammen?
    • Nach welchen Kriterien und/oder welchem Verfahren wurden diese Expert*innen ausgewählt?
    • Welche Funktion hat dieses Expert*innengremium?
    • Zu welchen Fragestellungen soll bzw. hat das Expert*innengremium beraten?
    • Zu welchem Zeitpunkt soll bzw. wurde die Regierung von diesem Expert*innengremium beraten?
    • Sind Unterlagen zu den Expert*innengremien in Form von z.B. Protokollen, Berichten oder Stellungnahmen öffentlich verfügbar?

Sichtung, Ein- und Ausschlusskriterien

Die im Rahmen der Onlinesuche identifizierten Pressemitteilungen und kleinen Anfragen auf Landes- und Bundesebene wurden durch mindestens eine Autorin gescreent (LSH, KG, LMP, KS). Dokumente, die die Einschlusskriterien nicht klar erfüllten, wurden mit einer zweiten Autorin oder im gesamten Team diskutiert. Wir schlossen Dokumente ein, welche die Politikberatung durch Expert*innenräte wie folgt beschrieben:

  • Einberufung des Expert*innenrats durch Regierung bzw. Ministerium

  • Fest eingebundene Mitglieder

  • Expert*innenwissen der Mitglieder: Wissenschaftliche Expertise oder besondere Kenntnisse und Erfahrungen durch den (Berufs-)alltag, einem breiten, pluralistischen Verständnis von Expertise und Wissen entsprechend

  • Wiederkehrende Beratungstätigkeiten

  • Anlass der Einberufung und der Beratungen ist die Bewältigung der SARS-CoV-2- Pandemie und ihrer Folgen

Ausgeschlossen wurden Dokumente, die obengenannte Kriterien nicht erfüllten, die nur limitierte Informationen bezüglich der Einschlusskriterien enthielten und solche, die in ihrer Formulierung zu vage und uneindeutig blieben. Letzteres galt beispielsweise für Dokumente, in denen berichtet wurde, dass Politiker*innen sich in ihrem Handeln an den Empfehlungen von Wissenschaftler*innen orientierten, jedoch unerwähnt blieb, ob dies anhand von persönlichen Beratungen oder anderweitig, z.B. durch die Konsultation wissenschaftlicher Fachliteratur, erfolgte.

Neben den eingeschlossenen Dokumenten wurde im Screeningprozess entschieden, weitere Dokumente zu sammeln, die Beratungen außerhalb eines festen Expert*innenrats zu SARS-CoV-2 beschrieben, z.B. Beratungen mit Einzelpersonen oder informellere Beratungen. Da es sich hierbei nicht um Expert*innenräte nach unserer Definition, sondern um anderweitige Formen der Politikberatung handelte, wurden diese Dokumente als ergänzende Dokumente festgehalten, mit deren Hilfe Beratungen außerhalb fester Gremien exploriert werden sollten.

Qualitative Inhaltsanalyse der Dokumente

Die eingeschlossenen Dokumente wurden heruntergeladen, nach Bundesland oder Ministerium organisiert und mithilfe der inhaltlich strukturierenden Inhaltsanalyse nach Margrit Schreier untersucht [22]. Hierfür wurde ein Kodiersystem entwickelt, in dem wir aus unseren Sub-Forschungsfragen (Textbox 1) die initialen Kategorien der Datenextraktion und Analyse ableiteten. Diese beinhalten die Zusammensetzung der Gremien nach Disziplin und Geschlecht, Namen der Mitglieder, Informationen zu Arbeitsweise, zu Beratungszeitpunkten und -inhalten sowie dokumentierende Unterlagen zu den Beratungsvorgängen oder den Ergebnissen. Die Pilotierung des Kategoriensystems erfolgte anhand einer Teilmenge der eingeschlossenen Dokumente (n=33) durch eine Autorin (LSH), mit anschließender Diskussion mit einer weiteren Autorin (KS). Dabei wurden zwei weitere Codes aus den Dokumenten heraus entwickelt: die Leitung des Gremiums und die Bedeutung für das Handeln der Regierung (s. Kategoriensystem im Appendix A). Im Anschluss erfolgte die finale Kodierung aller eingeschlossenen Dokumente durch eine Autorin (LSH) mit Prüfung der Codes durch eine zweite Autorin (KS). Unsere Analyseeinheiten waren mit den Einheiten des Kategoriensystems identisch. In unserer Analyse der Geschlechterverteilung kategorisierten wir Personen auf Basis der Vornamen als weiblich oder männlich. Wenn wir im Folgenden von „Frauen“ sprechen, schließt dies Personen ein, die sich als weiblich identifizieren sowie Personen, die als weiblich gelesen werden.

Die ergänzenden Dokumente wurden nicht mithilfe des Kategoriensystems untersucht, sondern in einer explorativen Analyse thematisch geclustert.

Reflexivität

Die Forschenden sind Mitglieder einer Arbeitsgruppe zu evidenzbasierter Public Health und bringen daher ein implizites oder explizites Verständnis mit, dass politische Entscheidungen in Public Health evidenzinformiert sein sollten. Public Health verstehen die Autor*innen dabei als eine breites, interdisziplinäres Fach, das verschiedene Disziplinen von der Virologie bis zu den Sozialwissenschaften einbezieht. Dabei beziehen sich die Autor*innen auf ein breites Konzept von Evidenz und Wissen und vertreten die Position, dass vielfältige Formen von Wissen für politische Entscheidungen relevant sein können. Damit geht auch das dieser Arbeit zugrundeliegende, breite Verständnis von Expertise einher. Darüber hinaus beeinflussen die akademische Bildung, der vergleichsweise sichere sozioökonomische Status und die intersektionale feministische Perspektive der Autor*innen diese Arbeit. Die Autor*innen waren außerdem in der SARS-CoV-2-Pandemie in unterschiedlicher Form in der Politikberatung tätig, unter anderem in einem inoffiziellen Expert*innenzusammenschluss (im Frühjahr 2020, LMP, BS, JMS, KG), im Kompetenznetz Public Health zu COVID-19 (laufend, LMP, BS, KS, KG, JMS) und bei der Entwicklung einer S3-Leitlinie zu Public-Health-Maßnahmen in Schulen (seit 11/2020, LMP, BS, KS, KG, JMS).

Ethik

In diesem Forschungsprojekt wurden nur Dokumente analysiert, die öffentlich verfügbar waren oder im Rahmen einer Anfrage nach dem Informationsfreiheitsgesetz mit den Autor*innen geteilt wurden. Eine Begutachtung durch eine Ethikkommission wurde daher nicht vorgenommen.

Ergebnisse

Insgesamt wurden 5.565 kleine Anfragen und 5.111 Pressemitteilungen gesichtet und 48 Pressemitteilungen, 15 kleine Anfragen sowie alle 25 Antwortschreiben und alle 17 Pandemiepläne eingeschlossen (Abbildung 1 ).

Abbildung 1.

Abbildung 1

Flussdiagramm zur Übersicht der gesichteten und eingeschlossenen Dokumente.

Neben den 105 eingeschlossenen Dokumenten identifizierten wir weitere ergänzende Dokumente, in denen andere Formen der Politikberatung erwähnt wurden: Beratungen durch einzelne Expert*innen, durch pandemieunabhängige Gremien sowie weitere Interaktionen von Expert*innen und Politik.

Einrichtung von Expert*innenräten in den Pandemieplänen

Die 17 Pandemiepläne der Länder und des Bundes wurden zwischen den Jahren 2006 und 2020 verfasst oder aktualisiert. Neun Pandemiepläne der Länder wurden zwischen 15.02.2020 (BY) und dem 01.04.2020 (SL) aktualisiert, der Pandemieplan des Bundes im März 2020 um ein Dokument zur neuartigen Coronaviruserkrankung ergänzt [27]. Zwei der Pandemiepläne der Länder beschreiben, dass im Pandemiefall die Einrichtung eines Expert*innengremiums (BY, NRW) möglich oder vorgesehen ist. Auf nationaler Ebene ist ein ständiges Expert*innengremium vorgesehen, der Expertenbeirat Influenza [18]. Der nationale, ständige Beirat soll sich aus institutionellen Mitgliedern zusammensetzen (Paul-Ehrlich-Institut, Friedrich-Loeffler-Institut, Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte und Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung) und das RKI vor und während eines Pandemiezustands beraten. Zum aktuellen Wirken des Expertenbeirats Influenza konnten jedoch in den von uns untersuchten Dokumenten keine Informationen gefunden werden.

Bestandsaufnahme der Expert*innenräte

Wir konnten insgesamt 21 Expert*innenräte (Stand 07.12.2020) identifizieren, die die Regierungen von zehn Bundesländern und vier Bundesministerien bezüglich der SARS-CoV-2-Pandemie berieten und unserer Definition entsprachen. Zu unterscheiden waren dabei Gremien mit und ohne namentliche Nennung der Beratenden.

Gremien mit namentlicher Nennung der Mitglieder

Es konnten neun Expert*innenräte mit namentlich bekannten Mitgliedern auf Länderebene identifiziert werden und zwei Gremien auf Bundesebene (Tabelle 1 ). Die Gremien auf Bundesebene (Fachbeirat zum COVID-19-Krankenhausentlastungsgesetz (BMG), nationale Taskforce Forschungsnetzwerke der Universitätsmedizin (BMBF)) befassten sich dabei mit sehr spezifischen Themen zu gesundheitswirtschaftlichen Fragen der Krankenhaus-finanzierung und der Förderung des institutionalisierten Austauschs von Wissenschaft und Politik, während die Ländergremien zumeist einen weniger eindeutigen thematischen Fokus hatten.

Tabelle 1.

Übersicht über Expert*innenräte mit namentlicher Nennung der Mitglieder.

Bundesland oder Bundes-ministerium Bezeichnung Zeitpunkt der Einsetzung Anzahl der Mitglieder, Geschlecht Vertretene Fachrichtungen Quelle
Landesebene



Bayern (BY) Expertenrat 03.04.2020 8 (m 7, w 1) Virologie, Medizin, Versorgungsforschung, Hygiene und Mikrobiologie, ÖGD Kleine Anfrage
Dreierrat Grundrechtsschutz 27.03.2020 3 (m 2, w 1) Recht, Theologie Pressemitteilung, kleine Anfrage
Baden-Württemberg (BW) Wissenschaftlicher Beraterkreis erste Sitzung am 27.3.2020 5 (m 5, w 0) Medizin, Virologie, Mathematik, Epidemiologie, Biologie, ÖGD Antwortschreiben
Expertenkreis Aerosole Mitte Oktober 2020 12 (m 9, w 3) Chemie, Technische Physik, Virologie, ÖGD, Medizin, Krankenhaushygiene, Epidemiologie, Energieforschung, Raumklima, Umwelttechnik Pressemitteilung
Nordrhein-Westfalen (NRW) Expertenrat Corona 03.04.2020 12 (m 7, w 5) Medizin, Virologie, Recht, Wirtschaft (u.a. Deutsche Telekom AG), Wirtschaftswissenschaft, Psychologie, Philosophie, Demoskopie, Soziologie, Sozialarbeit, Maschinenbau Presse-mitteilungen
Rheinland-Pfalz (RP) Expertenteam Corona Erste Sitzung am 08.04.2020 8 (m 8, w 0) Virologie, Epidemiologie, Biometrie, Medizin, Krankenhaushygiene, Krankenhausgesellschaft, Infektionsschutz und ÖGD Antwortschreiben, Pressemitteilungen, kleine Anfragen
Saarland (SL) Expertenkreis Infektionsschutz Anfang März 2020 5 (m 3, w 2) Virologie, Krankenhaushygiene, ärztliches Direktionsmanagement, zwei Regierungsmitglieder Pressemitteilung
Schleswig-Holstein (SH) Expertengremium 9.4.2020 8 (m 6, w 2) Med. Versorgung, Medizin, Molekularbiologie, Psychosomatik und Psychotherapie, Krisenforschung, Wirtschaftswissenschaft, Recht Antwortschreiben
Thüringen (TH) Wissenschaftlicher Beirat 26.05.2020 12 (m 7, w 5) Medizin, Krankenhaushygiene, Medien und Kommunikations-wissenschaft, Recht, Wirtschaftswissenschaft, Ethik, Pädagogik, Sozialpsychologie, Wirtschaftsgeographie, Energiesysteme Antwortschreiben, kleine Anfrage
Bundesebene



 Bundesgesundheitsministerium (BMG) Fachbeirat zum COVID-19-Krankenhausentlastungsgesetz
Keine Angabe (PM vom 21.04.2020) 10 (m 7, w 3) Klinikmanagement, Krankenhausgesellschaft, Medizin, Recht, Gesundheitsversorgung, Gesundheitssystemforschung, Versicherungsmanagement, Gesundheitsökonomie, Versicherungswesen Pressemitteilung
 Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Nationale Task Force Forschungsnetzwerk der Universitätsmedizin Keine Angabe (PM vom 24.04.2020) 6 (m 5, w 1) Pharmakologie, Krankenhaus, Lebenswissenschaften, Wirtschaftswissenschaft, Klinische Pharmakologie, Medizinische Mikrobiologie und Hygiene, Anästhesie Pressemitteilung
 Gesamt 89 (m 66, w 23)

Zeitpunkt der Einsetzung: wenn nicht angegeben Zeitpunkt der Pressemitteilung (PM); Geschlecht der Mitglieder: Einteilung als weiblich (w) oder männlich (m) anhand der Vornamen

In den Gremien mit namentlicher Nennung der Mitglieder waren überwiegend wissenschaftliche Vertreter*innen medizinisch1 -biologischer Disziplinen, der Gesundheitsversorgung sowie einzelne Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler*innen vertreten. Insgesamt waren fünf der identifizierten Expert*innenräte (Expertenteam Corona (RP), Expertenkreis Infektionsschutz (SL), Wissenschaftlicher Beraterkreis (BW), Expertenrat (BY), Expertengremium zur Pandemieeindämmung in der Langzeitpflege (BY)) klar durch eine medizinisch-biologische Expertise gekennzeichnet, ihre Mitglieder kamen aus den Bereichen Virologie, Krankenhaushygiene, weiteren Fächern der Medizin, einschließlich der Pflegewissenschaft, und/oder aus der Biologie, teilweise mit Beteiligung des ÖGD. Es bestanden aber auch Gremien mit einem besonders vielfältigen Mitgliederkreis. Der “Wissenschaftliche Beirat” in Thüringen umfasste beispielsweise neben Vertreter*innen aus der Medizin auch Expert*innen aus den Bereichen Medien- und Kommunikationswissenschaften, Recht, Wirtschaftswissenschaften, Ethik, Pädagogik, Sozialpsychologie und Energiesysteme. Der Dreierrat Grundrechtsschutz (BY) war der einzige wissenschaftliche Expert*innenrat, in dem keine medizinisch-biologischen Disziplinen vertreten waren und dessen Mitglieder aus den nicht-naturwissenschaftlichen Bereichen Recht und Theologie stammten. Im Expertenrat Corona (NRW) war der Anteil von Wirtschaftsvertreter*innen vergleichsweise hoch (fünf von 12 Mitgliedern).

Der Frauenanteil in den Expert*innenräten mit namentlicher Nennung der Mitglieder lag im Durchschnitt bei 26%. In zwei Gremien waren keine Frauen vertreten (BW, RP). Zu vier Gremien waren Informationen nur über kleine Anfragen und / oder Antwortschreiben zugänglich.

Gremien ohne namentliche Nennung der Mitglieder

Es wurden insgesamt zehn Gremien identifiziert, deren Mitglieder namentlich nicht bekannt waren (Tabelle 2 ). Acht dieser Gremien wurden von Landesregierungen eingesetzt, zwei von Bundesministerien. Als Expert*innen berieten hier verstärkt Akteur*innen und betroffene Personen aus der Praxis, beispielsweise Vertreter*innen der Veranstaltungswirtschaft oder Interessenvertretungen aus dem Bereich Schule, wie die Landesschülervertretung. In einem Gremium resultierte die Zusammensetzung der Mitglieder aus einer zufälligen Auswahl von Bürger*innen (Bürgerforum Corona (BW)). Die Gremien waren eindeutigen Themenbereichen zuzuordnen: Es konnten drei Expert*innenräte zum Kontext Schulen und Kitas identifiziert werden, zwei mit dem Schwerpunkt Bürgerbeteiligung, einer mit dem Fokus Pflege und vier mit einer wirtschaftsorientierten Ausrichtung. Im Gegensatz zu den Expert*innenräten mit einer namentlichen Nennung der Mitglieder wurden die Gremien ohne namentliche Nennung der Mitglieder verstärkt im Sommer oder Herbst 2020 einberufen und bezogen eine breitere Basis an Expert*innen ein, insbesondere Personen aus der Praxis. Informationen zu drei Gremien waren nur über kleine Anfragen verfügbar.

Tabelle 2.

Übersicht der Expert*innenräte ohne namentliche Nennung der Mitglieder.

Bezeichnung Zeitpunkt der Einsetzung Institutioneller oder fachlicher Hintergrund der Mitglieder Quelle
Gremien zu Schulen und Kitas
 Konzeptgruppe Schuljahresbeginn (HE) Juni 2020 Schulleiter*innen aller Schulformen, Landeselternbeirat, Kultusministerium, Landesschülervertretung, Hauptpersonalamt der Lehrerinnen und Lehrer Pressemitteilungen und kleine Anfragen
 Interdisziplinäres Expertengremium zu aktuellen Fragen rund um den Kita-Betrieb in Zeiten der Corona-Krise (BY) Keine Angabe (kl. Anfrage vom 05.05.2020) Interdisziplinäre Experten Kleine Anfrage
 Corona KiTa-Rat (BMFSFJ) 01.09.2020 Vertreter*innen von Bundesländern und Kommunen, Jugend- und Familienkonferenz der Länder, Gewerkschaften, Trägerverbände, Bundeselternvertretung, Expert*innen aus der Kindertagespflege Pressemitteilung



Gremien zur Bürgerbeteiligung
 Bürgerforum Corona (BW) Keine Angabe (PM vom 10.11.2020) Zufällige Auswahl von Bürger*innen Pressemitteilung
 Corona-Bündnis Rheinland-Pfalz (RP) April 2020 Verschiedene gesellschaftliche und wirtschaftliche Interessenvertretungen Pressemitteilung, kleine Anfrage



Gremien mit Schwerpunkt Medizin oder Pflege
 Expertengremium zur Pandemieeindämmung in der Langzeitpflege (BY) 08.05.2020 (konstituierende Sitzung) Pflegewissenschaft, Medizin, praktische Pflege Kleine Anfragen



Wirtschaftsorientierte Gremien
 Wirtschaftliches Expertengremium (BY) Keine Angabe (kl. Anfrage vom 05.05.2020) Wirtschaftsvertreter*innen, Wirtschaftswissenschaftler*innen Kleine Anfrage
 Runder Tisch Veranstaltungswirtschaft (HB) 15.10.2020 Vertreter*innen der Veranstaltungswirtschaft, der Gastronomie sowie der Politik Pressemitteilungen
 Wirtschaftspolitischer Beirat (S) 01.09.2020 (Auftakttreffen) Industrie- und Handelskammer, Gewerkschaften, Vereinigung der Sächsischen Wirtschaft, Sächsisches Wirtschaftsministerium Pressemitteilung
 Beirat Innenstadt (BMI) Keine Angabe (PM vom 07.10.2020) Gewerbe- und Immobilienverbände, Gastronomie, Kommunale Spitzenverbände Pressemitteilung

Zeitpunkt der Einsetzung: bei fehlenden Informationen zum Einsetzungszeitpunkt Angabe des Datums der ersten Pressemitteilung (PM) oder kleinen Anfrage dazu in Klammern

Auswahl der Expert*innenräte

Als Kriterien für die Auswahl der Expert*innen wurden unter anderem die fachliche Expertise in der jeweiligen Profession (Dreierrat Grundrechtsschutz (BY), Expertenrat Corona (NRW)), die Interdisziplinarität der Zusammensetzung (Expertenrat Corona (NRW)) sowie die Darstellung eines gesellschaftlichen Querschnitts (Corona-Bündnis Rheinland-Pfalz) genannt. Insgesamt fanden sich nur in wenigen Dokumenten Angaben über Auswahlmechanismen.

Grund der Einberufung und Funktion des Expert*innenrats

Als Grund für die Einberufung wurde bei allen Gremien die Bewältigung der Pandemie und der Pandemiefolgen definiert, wobei auf letzteres nur selten explizit hingewiesen wurde.

Die identifizierten Expert*innenräte sollten verschiedene Funktionen erfüllen. Die in den Dokumenten am häufigsten genannten Funktionen unterteilten sich in i) die Beratung der Regierung, ii) Berücksichtigung verschiedener gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Perspektiven und Faktoren sowie iii) die Erstellung von Konzepten und Empfehlungen.

Die Beratung umfasste neben der Bewertung von wissenschaftlichen Erkenntnissen und Entwicklungen im Pandemiegeschehen auch das Einbringen von Impulsen und Fragestellungen in die politische Entscheidungsfindung. Dies konnte auch spezifische Teilaspekte betreffen, z.B. die rechtliche und ethische Bewertung der Maßnahmen (Dreierrat Grundrechtsschutz (BY)).

Expert*innenräte sollten zum Teil auch zu einem fachübergreifenden Austausch beitragen, indem sie das vorhandene Wissen verschiedener Fachrichtungen bündelten und eine Bandbreite von Faktoren bei der Umsetzung der Maßnahmen berücksichtigten. Zukunftsthemen sollten in einem „breiten gesellschaftlichen Konsens“ bestimmt werden (Corona-Bündnis Rheinland-Pfalz). Dabei sollte auch die Akzeptanz für die getroffenen Maßnahmen erhöht werden (Corona-Bündnis Rheinland-Pfalz) und Meinungen und Stimmungen der Bürger*innen sichtbar gemacht werden (Bürgerforum Corona (BW)). Das Nationale Forschungsnetzwerk der Universitätsmedizin (BMBF) sollte wissenschaftliche Forschungsaktivitäten verschiedener Fächer zur Bewältigung der Pandemie bündeln und stärken und die Ergebnisse an die Politik rückkoppeln.

Eine weitere Kernaufgabe in einem Teil der Gremien war das Erarbeiten von Konzepten, Praxisempfehlungen und Strategien. Dies war in jenen Räten der Fall, die sich mit bestimmten gesellschaftlichen Fragestellungen befassten, wie beispielsweise der Öffnung der Schulen (Konzeptgruppe Schuljahresbeginn (HE)) oder der Entwicklung in den Innenstädten (Beirat Innenstadt (BMI)).

Zugang zu Informationen

Informationen über die Arbeitsweise und -inhalte der Gremien waren nur eingeschränkt verfügbar. Sitzungs- und Beratungszeitpunkte wurden selten veröffentlicht. Im Durchschnitt konnten zu 51% der mit unseren Sub-Forschungsfragen korrespondierenden Kategorien Informationen extrahiert werden (Abbildung 2 ). Zu einzelnen Expert*innenräten lagen für bis zu 80% der Kategorien Informationen vor (z.B. Expert*innengremium Schleswig-Holstein (SH), Dreierrat Grundrechtsschutz (BY)). Zu zwei der fünf bayerischen Expert*innenräte waren nur zu 10% der Sub-Forschungsfragen Informationen verfügbar.

Abbildung 2.

Abbildung 2

Erhaltener Informationsumfang zu den Gremien.

1-10: Den Sub-Forschungsfragen entsprechende Kategorien im Kategoriensystem, zu den mit einem schwarzen Punkt gekennzeichneten Kategorien waren Informationen in den Dokumenten verfügbar; 1: Auswählende; 2: Auswahlkriterien; 3: Mitglieder namentlich bekannt; 4: Fachlicher oder institutioneller Hintergrund bekannt; 5: Grund für die Einrichtung genannt; 6: Funktion und Rolle des Gremiums; 7: behandelte Fragestellungen; 8: Beratungszeitpunkte oder -intervalle; 9: Verfügbarkeit von Dokumenten; 10: Einfluss auf das Regierungshandeln.

In nur vier Fällen waren Informationen über die Zugänglichkeit zu Beratungsergebnissen vorhanden, wobei lediglich zwei Räte ihre Ergebnisse in Form von Publikationen oder Stellungnahmen veröffentlichten. Der Expertenrat Corona (NRW) erstellte beispielsweise öffentlich zugängliche Stellungnahmen zu Entwicklungen und Maßnahmen im Zusammenhang mit der Pandemie.

Informationen zur Kategorie “Bedeutung für das Handeln der Regierung” waren in den Dokumenten nicht oder kaum verfügbar. Es wurde lediglich beschrieben, dass die Empfehlungen und Erkenntnisse berücksichtigt wurden, in das Regierungshandeln einflossen oder als Impulsgebung verstanden wurden.

Ergänzende Dokumente: Beratungen außerhalb der identifizierten Expert*innenräte

Neben den Beratungstätigkeiten durch Expert*innenräte, die im Zusammenhang mit der SARS-CoV-2-Pandemie einberufen wurden, wurden auch andere Beratungs- und Einflussformen dokumentiert. Unsere explorativen Untersuchungen zeigten die folgenden drei Beratungsmodi: i) offizielle Beratungen durch einzelne Expert*innen, ii) Beratungen durch nicht-pandemiebedingte Expert*innenräte sowie iii) weitere Interaktionsformen.

Darüber hinaus bestehen SARS-CoV-2-spezifische Expert*innenräte, die nicht von Politiker*innen einberufen wurden und damit nicht unsere Definition erfüllten, wie der von den Ärztekammern initiierte ärztliche Pandemierat [28].

Beratungen mit einzelnen Expert*innen wurden beispielsweise dokumentiert, wenn verschiedene Expert*innen neben Landespolitiker*innen bei Pressekonferenzen auftraten und zu spezifischen fachlichen Themen berichteten. Außerdem bestanden Beratungen durch nicht-pandemiebedingte Expert*innenräte, welche zu den Folgen der Pandemie berieten, jedoch nicht explizit dazu einberufen wurden. Der Innovationsbeirat Sachsen sollte beispielsweise neue Zukunftsperspektiven für die Region erarbeiten. Neben konkreten Maßnahmen für den Neustart in Sachsen nach der Corona-Krise wurden hier auch Themenkomplexe wie Digitalisierung in Wirtschaft, Forschung, Gesellschaft und Arbeitswelt diskutiert.

Neben diesen Beratungsformaten wurden weitere Interaktionsformen zwischen Politiker*innen und Expert*innen aus den verschiedensten Bereichen dokumentiert. In zahlreichen Pressemitteilungen wurde ein Austausch zwischen Politiker*innen und Expert*innen beschrieben, der jedoch nicht explizit als Beratung bezeichnet wurde. Dabei ging es unter anderem um Besuche von politischen Entscheidungsträger*innen bei Einrichtungen, welche von den Maßnahmen der Pandemieantwort besonders betroffen waren oder an der Pandemieantwort beteiligt waren, zum Beispiel Kliniken oder Pharmakonzerne.

Zudem fand ein wichtiger Austausch zwischen der Wissenschaft und der Politik statt, indem die Politik Forschungsprojekte finanzierte und in Auftrag gab und Forschungsergebnisse an die Politik rückgekoppelt wurden. Studienergebnisse wurden teilweise gemeinsam mit Politiker*innen vorgestellt. Eine weitere wichtige Interaktionsform zwischen Politiker*innen und Expert*innen erfolgte im Rahmen von Veranstaltungen, die unabhängig von der aktuellen Pandemie existierten, sich jedoch aus gegebenem Anlass dem Thema widmeten, beispielsweise Wirtschaftsgipfel, Foren aus dem Gesundheitsbereich oder Runde Tische aus dem Wirtschaftsbereich.

Diese drei Interaktionsformen ergänzten die von uns untersuchten Beratungen durch feste Expert*innenräte zur SARS-CoV-2-Pandemie.

Diskussion

Unsere Arbeit gibt - auf Grundlage öffentlich zugänglicher Dokumente und Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz - einen Überblick der Expert*innenräte, die in der SARS-CoV-2-Pandemie Regierungen und Ministerien in Deutschland berieten. Sieben Bundesländer hatten wissenschaftliche Expert*innenräte eingerichtet, deren Mitglieder namentlich genannt wurden. Wenige Bundesländer und Ministerien hatten Expert*innenräte eingerichtet, die zu spezifischen Themen berieten, z.B. Kitas und Schulen oder Wirtschaftsthemen. Zwei Bundesländer richteten Gremien zur Bürger*innenbeteiligung ein, um die Expertise der Bevölkerung einzubinden und um in einem breiten gesellschaftlichen Dialog über die Auswirkungen der Pandemie zu diskutieren. Insgesamt bildet der Austausch mit den von uns identifizierten festen Expert*innenräten dabei nur einen Teil der Interaktion von Politik und Expert*innen in der Pandemie ab, wie die ergänzend dokumentierten Interaktionsformen illustrieren.

In den deutschen Expert*innenräte der Landesregierungen und Ministerien zu SARS-CoV-2 stellten Frauen nur ein Viertel der namentlich genannten Mitglieder, eine Unterrepräsentation, die auch van Daalen et al. (2020) in Bezug auf die Krisenstäbe beziehungsweise Task Forces von 87 Ländern zeigten [13]. Dabei war in der internationalen Untersuchung die Unterrepräsentation von Frauen in Gremien, die Expertise bereitstellten, noch geringer als in Gremien mit politischer Entscheidungsbefugnis [13]. Diesen Vergleich konnten wir im Rahmen unseres auf Expert*innenräte fokussierten Projekts nicht genauer überprüfen. Insgesamt ist die unterproportionale Vertretung von Frauen in den Expert*innenräten im Hinblick auf Repräsentanz und Repräsentation problematisch. Während die paritätische Besetzung dieser Gremien schon aus Gründen der Geschlechtergerechtigkeit notwendig ist, sollten die Perspektiven und Erfahrungen von Frauen auch deshalb paritätisch repräsentiert sein und politische Entscheidungen mitbestimmen, da Frauen in besonderem Maße von der Pandemie betroffen sind [29].

In unseren Ergebnissen zeigte sich jedoch auch die eingeschränkte Interdisziplinarität mit einer Dominanz biomedizinischer Disziplinen, die in Bezug auf internationale Krisenstäbe beschrieben wurde [13]. In deutschen Expert*innenräten waren Vertreter*innen der Virologie, Krankenhaushygiene und anderer Teilbereiche der Medizin stark präsent. Auffällig ist, dass Public Health nicht als eigenständiger wissenschaftlicher Fachbereich vertreten war [30]. Der ÖGD als Public-Health-Praxis war allerdings in Krisenstäbe und in einzelne Expert*innenräte eingebunden. Auch wenn einzelne Gremien deutlich interdisziplinärer besetzt waren, war die Vielfalt der Disziplinen, insbesondere in den Expert*innenräten mit namentlicher Nennung der Mitglieder, jedoch eingeschränkt. Interdisziplinär besetzte Gremien, die Einbindung multipler wissenschaftlicher Disziplinen und breite Perspektiven wie in den Gremien zur Bürger*innenbeteiligung werden jedoch von zahlreichen Autor*innen als wichtige Ressource von Expertise bewertet, um der Komplexität einer Pandemie zu begegnen [6], [13], [29].

Überraschend war, dass wir in zehn Bundesländern 17 Expert*innenräte identifizieren konnten, obwohl lediglich zwei Landespandemiepläne entsprechende Gremien vorsahen. Die große Zahl der Expert*innenräte auf Landesebene ist auf die föderale Struktur Deutschlands und die Länderhoheit im Krisenmanagement zurückzuführen. Die besondere Unsicherheit in der SARS-CoV-2-Pandemie mag dazu beigetragen haben, dass die Politik in den ersten Pandemiewochen über die in den Pandemieplänen definierten Beratungsformen hinaus Beratung durch insbesondere wissenschaftliche Expert*innen in Anspruch genommen hat. Darin drückt sich ein Vertrauen von Politiker*innen in Expert*innenrat aus, das jedoch auf bestimmte Arten von Expertise begrenzt sein kann [31]. Die Einrichtung von Expert*innenräten ist jedoch auch als politisches Signal an die Bürger*innen zu werten, ein Bekenntnis zu evidenzbasierter Entscheidungsfindung in der Pandemie (oder im Falle des bayerischen Dreierrats Grundrechtsschutz zu Recht und Gesetz gegenüber der bayerischen Bevölkerung). Am Beispiel der Pandemieantwort Südafrikas wurde jedoch diskutiert, dass ein starkes Bekenntnis zur Wissenschaft auch „performativ“ sein kann und durch intransparente Entscheidungsprozesse unklar bleibt, ob und welche Evidenz oder Expertise in Entscheidungen berücksichtigt wird [32]. Auch in unserer Untersuchung zeigte sich, dass der Zugang zu Beratungsunterlagen selten möglich war, sodass Beratungsinhalte und ihr tatsächlicher Einfluss auf die politische Entscheidungsfindung in der Pandemie unklar bleiben.

Die Gremien ohne namentliche Nennung der Mitglieder beschäftigten sich gezielt mit bestimmten Schwerpunktthemen und wurden häufiger im Herbst 2020 eingesetzt, während die Gremien mit namentlicher Nennung der Mitglieder vorrangig im Frühjahr 2020 einberufen wurden und besonders von biomedizinischen Perspektiven geprägt waren. Dies kann darauf hinweisen, dass sich das Verständnis der Komplexität und Natur der Krise und damit das Verständnis der „richtigen“ Expertise unter den politischen Entscheidungsträger*innen im Laufe der Pandemie gewandelt hat.

Fast alle Expert*innenräte wurden nach der Umsetzung der initialen „Shutdown“-Maßnahmen einberufen. Daraus lässt sich möglicherweise ableiten, dass diese ersten Gremien primär einberufen wurden, um über Lockerungs- und Aufhebungsprozesse der Maßnahmen zu entscheiden oder die „Nebenwirkungen“ der Maßnahmen zu analysieren. Eine pessimistischere Sichtweise wäre die Vermutung, dass das Einsetzen eines Expert*innenrates zu diesem Zeitpunkt lediglich einer nachträglichen Rechtfertigung der Maßnahmen dient. Die im Verlauf der Pandemie eingesetzten Expert*innenräte, insbesondere die Task Force Forschungsnetzwerk, sollen hingegen explizit Interventionen begleiten und wissenschaftliche Erkenntnisse an die Politik zurückmelden.

Vier der von uns identifizierten Gremien hatten eine wirtschaftsorientierte Ausrichtung und beschäftigten sich unter anderem mit Wirtschaftshilfen und Öffnungskonzepten. Bei diesen Gremien - und beim Expertenrat NRW mit fünf Wirtschaftsvertreter*innen unter den zwölf Mitgliedern - zeigte sich, dass unsere breite Definition von Expertise auch Beratungen einschloss, bei denen möglicherweise ein fließender Übergang zum wirtschaftlichen Lobbyismus besteht [33]. Damit ergeben sich besondere Implikationen hinsichtlich der Transparenz der Beratungen durch diese Gremien.

Insgesamt ist jedoch eine wichtige Erkenntnis unserer Arbeit, dass der Zugang zu Informationen über die Expert*innenberatung der Politik schwierig war. Dieser Umstand wurde durch eine Vielzahl von Faktoren bedingt: die fehlende Dokumentation der Expert*innensitzungen, limitierte öffentlich zugängliche Informationen in Pressemitteilungen und kleinen Anfragen, eingeschränkte Nutzungsfreundlichkeit der Suchfunktionen der Online-Pressearchive von Landesregierungen und Ministerien sowie unvollständige und ausbleibende Antworten auf unsere Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz. Mit dem Fortbestehen des Pandemiezustands geraten politische Entscheidungen immer mehr unter Legitimationsdruck. Das zeigt sich unter anderem daran, dass 52 Prozent der von uns identifizierten kleinen Anfragen zu Expert*innengremien von der rechtspopulistischen Partei AfD gestellt wurden. Ein transparenter Umgang mit Beratungsvorgängen, beispielsweise zur Arbeitsweise von Expert*innenräten, wäre deshalb umso wichtiger [10], [13], [32].

Auf Bundesebene wurde in den vergangenen Monaten der Ruf nach einem unabhängigen Expert*innengremium - ein sogenannter Pandemierat - stark, insbesondere von Seiten der Fraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN im Bundestag. Dieser solle die Auswirkungen der Pandemie und die Maßnahmen der Bundesregierung zur Bekämpfung evaluieren, beobachten und Gutachten mit Handlungsempfehlungen für die nächsten Monate entwickeln [34].

Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass demokratisch legitimierte Entscheidungsprozesse einer Politikberatung bedürfen, die multiple wissenschaftliche Disziplinen und Bevölkerungsperspektiven einschließt. Diese sind ein entscheidender Faktor, um gesellschaftlich akzeptierte Krisenüberwindungsstrategien zu entwickeln und anzupassen.

Stärken und Limitationen der Arbeit

Trotz unserer umfangreichen Recherche ist es sehr wahrscheinlich, dass die Übersicht der Expert*innenräte unvollständig ist. Dies hängt vor allem mit der mangelnden öffentlichen Zugänglichkeit zu Informationen über die Gremien und deren Beratungen zusammen. Nach unserer Erkenntnis bestehen weitere Beratungsgremien, die nicht öffentlich gemacht wurden, aber dennoch weitreichende Empfehlungen für die Politik formulierten (s. Strategiepapier des BMI zur Kontrolle von COVID-19 ohne Angaben der Autor*innen [35]). Darüber hinaus bestehen vielfältige weitere Interaktionsformen zwischen Politiker*innen und unterschiedlichen Expert*innen, die hier nicht abgedeckt werden, insbesondere auch die Beratung durch Einzelpersonen oder ad hoc einberufene, informelle Gremien. Eine initial geplante Medienanalyse hätte unsere Übersicht möglicherweise noch ergänzt, konnte jedoch aus Kapazitätsgründen nicht durchgeführt werden. Unsere Analyse der Diversität der Gremien beschränkte sich auf das Geschlecht und fachliche Disziplinen, eine Ergänzung um Merkmale wie Alter, ethnische Herkunft, sexuelle Orientierung und Behinderung in zukünftigen Untersuchungen wäre wünschenswert.

Eine Herausforderung in unserer Arbeit war dadurch bedingt, dass unser Verständnis von Expertise einem erweiterten Expert*innenbegriff entspricht, der nicht nur wissenschaftliche Expert*innen einschließt. Dieser Ansatz ermöglichte uns zwar einerseits, die Vielfalt der Beratungsgremien zu untersuchen, andererseits war so eine tiefergehende Untersuchung der Nutzung wissenschaftlicher Evidenz und Expertise in den Entscheidungen in der Pandemie (evidence-based policymaking for public health) nicht im Fokus der Arbeit.

Eine Stärke dieser Arbeit ist die umfangreiche Suche, in der wir unter Einbezug von vier Dokumententypen eine Vielzahl neu eingesetzter Expert*innenräte identifizieren konnten, welche nach unserer Kenntnis in Deutschland bislang noch nicht systematisch untersucht wurden. Dabei hat es unsere breite Definition von Expertise ermöglicht, auch nicht-wissenschaftliche Beratungsgremien einzuschließen, was dazu beitrug, eine mögliche Entwicklung im Krisenverständnis der Politik nachzuzeichnen. Die Rolle von Expert*innen in der Pandemie ist ein Thema, das in der wissenschaftlichen und öffentlichen Debatte große Aufmerksamkeit erfahren hat und erfährt. Insbesondere die mangelnde Transparenz der Politikberatung durch Expert*innen ist vielfach thematisiert worden, sodass wir hoffen, mit unserer Arbeit zu mehr Wissen über diese Prozesse beizutragen.

Schlussfolgerung

Expert*innenräte in der SARS-CoV-2-Pandemie können unterschiedliche offizielle und inoffizielle Funktionen in der Politikberatung einnehmen. Es bleibt jedoch unklar, inwiefern dadurch politische Entscheidungsprozesse beeinflusst wurden und ob sich die Arbeit der Gremien auf die Art, Ausgestaltung und Akzeptanz politischer Entscheidungen auswirkt. Im Hinblick auf Gerechtigkeitsaspekte und die Notwendigkeit pluraler Perspektiven für bessere Entscheidungen in einer komplexen Pandemielage ist die Unterrepräsentation von Frauen und die begrenzte disziplinäre und gesellschaftliche Vielfalt in den von uns identifizierten Gremien problematisch. Der erschwerte Zugang zu Informationen über die Beratungen steht im Kontrast zu der geforderten Transparenz politischer Entscheidungsprozesse in Pandemien. Wenn es trotz großer Anstrengung nicht gelingt, Repräsentativität und fachliche Diversität innerhalb der Gremien zu gewährleisten, sollten aktiv Maßnahmen getroffen werden, um sicherzustellen, dass die Stimmen von relevanten Gruppen von Akteur*innen in ausreichendem Maße gehört und deren Interessen berücksichtigt werden. Neben der Anhörung von Vertreter*innen diverser Gruppen oder Nutzung von Primär- oder Sekundärdaten (z.B. Bevölkerungsbefragungen), können auch Entscheidungshilfeframeworks wie beispielsweise das sogenannten WICID-Framework nützliche Werkzeuge sein [36].

Finanzierung

Für diese Arbeit haben die Autor*innen keine externen Projektmittel aus dem öffentlichen, kommerziellen oder Non-Profit-Sektor erhalten, die Finanzierung erfolgte aus Lehrstuhlmitteln.

Danksagung

Die Autor*innen danken Dr. Ani Movsisyan für ihre Unterstützung bei der Entwicklung der Projektidee und Prof. Dr. Eva Rehfuess für die Unterstützung der Projektumsetzung.

Interessenkonflikt

Die Tätigkeiten der Autor*innen in der Politikberatung in der SARS-CoV-2-Pandemie erfolgten unentgeltlich in ehrenamtlicher Tätigkeit beziehungsweise im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit am Lehrstuhl für Public Health und Versorgungsforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München. Fünf Koautor*innen waren an der Erstellung einer AWMF S3-Leitlinie zu Public-Health-Maßnahmen in Schulen als wissenschaftliches Sekretariat eingebunden. Vier der Autor*innen waren gemeinsam mit anderen Wissenschaftler*innen in unterschiedlichem Grad an der Erstellung von Papieren für das Bundesministerium des Inneren eingebunden (KG, JMS, BS, LMP). JMS hat das WICID-Framework entwickelt, ein Framework das Entscheidungsträger*innen bei Entscheidungen zu komplexen, nicht-pharmakologischen Infektionsschutzmaßnahmen unterstützen soll. Des Weiteren sind fünf der Koautor*innen im Kompetenznetz Public Health in unterschiedlichem Maß involviert (KS, KG, JMS, BS, LMP). Andere Interessenkonflikte bestehen nicht.

Autorenschaft

LMP hat das Konzept der Arbeit entworfen und LMP, KS, JMS, KG und BS haben die Methoden entwickelt. KG, LSH, KS und LMP haben die Dokumente gescreent und Daten analysiert, KS und LMP haben die Daten validiert. KS, LSH und LMP haben den initialen Entwurf des Manuskripts verfasst und alle Autor*innen haben das Manuskript kritisch kommentiert, editiert und wichtigen intellektuellen Input gegeben.

Footnotes

1

Als medizinische Disziplinen oder „Medizin“ definieren wir hier alle klinischen und in der klinischen Versorgung relevanten Fächer, beispielsweise Virologie, Krankenhaushygiene, Pharmakologie, Pflegewissenschaft, Mikrobiologie, Intensivmedizin, Anästhesiologie.

Appendix A

Zusätzliche Daten verbunden mit diesem Artikel finden sich in der Online-Version unter: doi:10.1016/j.zefq.2021.06.002.

Appendix A. Supplementary data

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