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2021 Nov 8;37(6):55–59. [Article in German] doi: 10.1007/s00940-021-3228-9

Long-COVID-Patienten in der schmerzmedizinischen Praxis

Heinrich Binsfeld 1,
PMCID: PMC8581283

Bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von 61 COVID-19-Fällen und 11.780 Neuinfektionen pro Tag, wie die Statistik vom 29. September 2021 zeigte, darf es nicht verwundern, dass Patienten mit Long-COVID-Syndromen in schmerzmedizinischen Praxen vorstellig werden. Werden die Inzidenzen und Neuinfektionen aus unseren Nachbarländern mitgerechnet, bleibt zu hoffen, dass die Zahlen nicht weiter steigen.

Viele Menschen haben nach ihrer COVID-19-Infektion mit Spätfolgen zu kämpfen und nicht wenige vermissen echte Hilfe. So zeigt eine Studie in Großbritannien mit einer Million Betroffenen, wie weit verbreitet das Phänomen ist. Obwohl es niemand gerne hört, auch 0,2 % der zwölf- bis 16-Jährigen sind betroffen. Eine Studie der Universität Köln zeigt, dass selbst bei einem milden Verlauf zwischen 12 und 27 % der Patienten Long-COVID-Symptome entwickeln. Auch nach vier Monaten hätten sie noch Symptome, die sehr belastend sein können. Viele dieser Patienten wenden sich an schmerzmedizinische Praxen [1].

Long-COVID-Patienten leiden oft unter Atembeschwerden, Kopfschmerzen, Aufmerksamkeitsdefiziten, Geschmacks- und Geruchsverlust, Depression oder Herzproblemen. Betroffene beschreiben häufig auch plötzlich auftretende Erschöpfungszustände. Dabei ist erschreckend, dass vor allem junge Menschen zwischen 25 und 50 Jahren ohne Vorerkrankungen unter den Folgen von COVID-19 leiden. Dabei sind Frauen doppelt so häufig betroffen wie Männer. Leider gibt es derzeit keine belastbaren Zahlen über die Anzahl von Menschen mit COVID-19-Spätfolgen. Die WHO schätzt, dass drei Monate nach einer Erkrankung etwa jeder Zehnte noch immer Einschränkungen hat [2].

Fast vier Millionen Deutsche infiziert

Seit Beginn der Pandemie haben sich in Deutschland rund 3,7 Millionen Menschen mit dem Virus angesteckt. Trifft die Schätzung der WHO zu, hätten 370.000 von ihnen noch zwölf Wochen später Probleme.

Studien zufolge entwickeln 13 % der hospitalisierten COVID-19-Patienten eine ernste neurologische Komplikation [3]. Diese ist offenbar für die Prognose von entscheidender Bedeutung.

Aktuelle Daten liefert PD Dr. Matthias Wittstock vom Universitätsklinikum Rostock [4]. Er berichtet, dass auch noch acht Wochen nach der Entlassung aus dem Krankenhaus 25 % der Erkrankten unter Fatigue und mehr als 50 % unter Atemnot leiden, ein Drittel klagt über Husten und 15 % litten unter depressiven Symptomen (Tab. 1).

Krankheitsbild/ Syndrom/Symptom Häufigkeit (%)
Anosmie 86
Dysgeusie 82
Kopfschmerz 6-10
Fatigue Kasuistisch
Enzephalitis 6
Vaskulitis < 1
Akute demyelinisierende Enzephalomyelitis (ADEM) Kasuistisch
lschämischer Schlaganfall 4,6-46
lntrazerebrale Blutung 0,25-7,9
Sinusvenenthrombosen Kasuistisch, Fallserien
Enzephalopathien 7,0-13
Posteriores reversibles Enzephalopathiesyndrom (PRES) Kasuistisch
Guillain-Barré-Syndrom Kasuistisch
Hyper-CKämie 11
Quelle: Dr. med. Matthias Wittstock, Rostock

Zusammenfassend hält Wittstock fest, dass sich in der Gesamtschau aller COVID-19-Erkrankungen bei 35 % neurologische Erkrankungen identifizieren lassen. Das Auftreten neurologischer Symptome ist prognostisch als ungünstig zu werten [4]. Die Fatigue kann dabei so gravierend sein, dass die Betroffenen nicht in den Berufsalltag zurückkehren können. Die Ursachen der Störung sind allerdings bislang nicht genau bekannt [5, 6].

Die Ansteckung mit SARS-CoV-2 erfolgt durch Tröpfcheninfektion. Die Inkubationszeit mit COVID-19-Viren beträgt durchschnittlich fünf bis sechs Tage. Zwischen Ansteckung und dem Auftreten erster Symptome können aber auch bis zu zwei Wochen vergehen. Vereinzelt treten erste Symptome schon innerhalb von 24 Stunden nach der Ansteckung auf. Besonders tückisch ist, dass ein Infizierter bereits Tage vor dem Auftreten erster Symptome und auch noch nach dem Abklingen ansteckend sein kann.

Laut Schätzung des Robert-Koch-Instituts haben 55-85 % der Infizierten spürbare Beschwerden und/oder zeigen erkennbare Anzeichen oder typische Symptomkombinationen einer COVID-19-Erkrankung. Die übrigen Infizierten sind beschwerdefrei und zeigen keine Symptome, sind also asymptomatisch erkrankt. Sie können dadurch das Virus aber potenziell weiterverbreiten.

Struktur des SARS-CoV-2-Virus

Das SARS-CoV-2-Virus ist aus vier Strukturproteinen aufgebaut: S (Spike), M (Membrane), E (Envelope) und N (Nucleocapsid). Die N-Proteine umschließen den inneren Bereich und beinhalten das RNA-Genom. S, M und E bauen gemeinsam die äußere Hülle auf (Abb. 1). Alle Proteine an der Oberfläche sind denkbare Antigene und können für die Entwicklung potenzieller Impfstoffe von größter Bedeutung sein.

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Dieses Virus bewirkt eine Systemerkrankung, wobei sich die Endothelzellen der Arterien entzünden. Die Sauerstoffversorgung und die Nährstoffversorgung der betroffenen Organe ist massiv gestört, was Organschäden bedingen kann. Oft heilt diese Erkrankung nicht folgenlos aus, sondern zeigt bei 30 bis 35 % der Betroffenen (keine endgültige Datenlage) einen verlängerten Verlauf. Anhaltende Beschwerden nach der Erkrankung (Long-COVID) kommen relativ häufig vor, sowohl bei anfänglich schwer, als auch bei jungen, gesunden, zu Beginn nur leicht Erkrankten. Die meisten Patienten mit Long-COVID sind relativ jung und haben die Corona-Infektion zu Hause durchgemacht.

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Die Infektion mit SARS-CoV-2 kann zu lang anhaltenden chronischen Beschwerden in vielen Organsystemen führen. Die Erkrankung ist häufig sehr belastend und bietet eine schillernde, vielfältige Symptomatologie, wie die Übersicht in Tab. 2 zeigt.

Atemwegsbeschwerden Atemlosigkeit und Husten
Herz-Kreislauf-Symptome Brustschmerzen, thorakales Engegefühl und Herzklopfen
Generalisierte Symptome Fatigue, Fieber und Schmerzen
Neurologische Symptome Konzentrationsstörungen, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, periphere Neuropathiesymptome, Schwindel und Delir (in der älteren Population)
Magen-Darm-Symptome Appetitlosigkeit, Übelkeit und Durchfall
Muskuloskelettale Symptome Gelenk- und Muskelschmerzen
Psychiatrische Symptome Depressionen und Ängste
HNO-Symptome Tinitus, Otalgien, Halsentzündungen, Schwindel, Geruchs- und/oder Geschmacksverlust
Dermatologische Symptome Akrale erythematose Schwellungen, vesikulare Eruptionen, urtikarielle Läsionen, makulopapulare Eruptionen und Livedo oder Nekrose
Quelle: Dr. Fabian Holbe, Neuburg/Wismar

Wenn Patienten mit diesen Sympto- men Hilfe in schmerzmedizinischen Praxen suchen, besteht zuerst die Notwendigkeit herauszufinden, ob die Erkrankten tatsächlich eine COVID-19-Infektion durchlaufen haben. Durch den Nachweis spezifischer Antikörper kann zwischen Immunisierung und Erkrankung unterschieden werden. Die zur Zeit vorhandenen etablierten Antikörpertests sind in Tab. 3 aufgelistet.

lgG-Antikörper gegen Test Positiv bei Genesenen Positiv bei Geimpften Positiv bei Geimpften und Genesenen
Spike-51 Roche Elecsys® Ja Ja Ja
Spike-51 Bio Merieux Ja Ja Ja
Spike-51 Siemens Ja Ja Ja
Spike-Trimer Diasorin Liaison® Ja Ja Ja
Spike 51 Euroimmun Ja Ja Ja
Nucleocapsid Roche Elecsys® Ja Nein Ja
Nucleocapsid Euroimmun Ja Nein Ja
Nucleocapsid Abbott Ja Nein Ja
Quelle: Prof. Dr. Emil Reisinger, Rostock

Mehr Studien durch die Pandemie

Die COVID-19-Pandemie scheint auch die Produktion wissenschaftlicher Studien beflügelt zu haben. Noch nie gab es so viele Studien wie in dieser Zeit. Leider sind die meisten dieser wissenschaftlichen Arbeiten sogenannte Preprint-Studien, die in dubiosen Online-Journalen veröffentlicht wurden. Daher ist es schwierig, zwischen ernsthaft evidenzbasierten, wissenschaftlichen Studien und Fake News zu unterscheiden. Doch bevor wir zur Diagnostik und Therapie eines Long-COVID-Syndroms übergehen, vorweg einige Fakten, die wissenschaftlich überprüft sind und nicht zu den Fake News zählen.

Publikation des Robert-Koch-Instituts

Ende März bis Anfang April 2021 wurden insgesamt über 2,8 Millionen COVID-19-Erkrankungen berichtet. Da- bei gab es 385.022 Fälle bei Kindern und Jugendlichen zwischen 0-19 Jahren. Die meisten Fälle traten bei den 15- bis 19-Jährigen auf, davon hospitalisiert wurden 1.776 Personen und 25 dieser Patienten mussten intensivmedizinisch versorgt werden.

Posttraumatische Belastungsstörung

Prof. Martin Teufel, LVR Klinikum Essen, berichtet, dass in der Zeit von April 2020 bis März 2021 COVID-Patienten einen bis zu 65 % höheren psychischen Disstress angaben, eine bis 45 % höhere generalisierte Angst, 60 % ausgeprägte Coronafurcht und bis zu 15 % vermehrte Depressivität. Dass die Depression ab dem zweiten Lockdown (November 2020) sogar noch zunahm, ist nach Einschätzung von Professor Teufel einem zunehmenden Erschöpfungszustand zuzuschreiben.

Auch international gehe man von einer 30 %igen Depressionsrate aus. Besonderen Schaden haben 25 % der schwerkranken, intensivpflichtigen COVID-Patienten erlitten. Trotz körperlicher Genesung traten bei ihnen durchschnittlich ab 100 Tagen nach erfolgreicher Behandlung Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) auf. Plötzlich überfällt die Patienten ein Gefühl von Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein, Kontrollverlust.

Kardiale Auffälligkeiten

Eine MRT-Studie der Universitätsklinik Frankfurt am Main untersuchte Patienten zwei Monate nach Infektionsbeginn. Viele der Studienteilnehmer hatten zu diesem Zeitpunkt kardiale Auffälligkeiten im MRT [7].

In einer kürzlich im European Heart Journal publizierten Analyse weisen schwer erkrankte COVID-Patienten zwei Monate nach der Infektion im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen Veränderungen im MRT auf [8]. Bei einer Autopsiestudie in Hamburg stellte sich bei Patienten, die mit einer COVID-19-Infektion verstorben waren, zwar heraus, dass das Virus in mehr als einem Drittel der Fälle im Herzen nachweisbar war. Eine Myokarditis im Sinne einer Einwanderung inflammatorischer Zellen habe sich aber in keinem Fall nachweisen lassen.

Vier bis sechs Monate nach überstandener SARS-CoV-2-Infektion gaben 70 % der Patienten an, noch immer Beschwerden zu haben. Hier wurde vor allem Fatigue und Luftnot angegeben. Weil die Ursache dieser Beschwerden auch eine Herzinsuffizienz sein könnte, erfolgte eine kardiologische Diagnostik.

Bei 7,4 % der Patienten wurde zum Zeitpunkt der Nachuntersuchung ein erhöhtes NT pro BNP gefunden. Es ist aber nicht klar, ob die Werte nicht schon vor der Infektion erhöht waren. Prof. Dirk Westermann, Universitäres Herz-und Gefäßzentrum, UKE Hamburg, geht deshalb davon aus, dass Long-COVID keine spezifische Manifestation des Herzens zeigt, räumt aber ein, dass was er heute berichtet in ein paar Wochen wieder veraltet sein könnte.

Lungenschäden nach COVID-19

Vier Monate nach schwerer COVID- 19-Erkrankung ist die Sauerstoffaufnahme der Lunge im Durchschnitt um ein Fünftel gegenüber dem erwarteten Wert einer gesunden Person vermindert. Neben der Schädigung des Lungengewebes, die auch auf Folgen einer schweren Pneumonie zurückgeführt werden kann, zeigt das CT-Bild auch eine mögliche Beteiligung der kleinen Atemwege, die nach COVID-19 ein ziemlich charakteristisches Bild ergeben [9].

Schädigungen im Gehirn

Prof. Serena Spudich, Newheaven, USA, berichtete bei der virtuellen Konferenz der amerikanischen Neurologen-Gesellschaft (AAN), dass 60 % der Post-COVID-Patienten, die untersucht wurden, kognitive Beeinträchtigungen hatten und rund die Hälfte über neuromuskuläre Beschwerden klagten. Ein Drittel litt unter starken Kopfschmerzen, 10 % hatten eine anhaltende Anosmie, ebenso viele Schlafprobleme. Das häufigste neuropsychiatrisches Symptom war "Nebel im Hirn" (Brain Fog), darüber klagten 60 % der untersuchten Patienten, 50 % hatten Gedächtnisprobleme, 30 % stellten Sprachschwierigkeiten fest. Das Symptommaximum wurde meist in den ersten vier bis acht Wochen nach der Infektion beobachtet, die Beschwerden gingen dann über sechs Monate nur langsam bis gar nicht zurück. Lediglich die Anosmieprävalenz sank deutlich. Es konnte keine direkte virale Schädigung der Nervenzellen gesehen werden. Das Virus schädigt außerdem das Gefäßendothel und die Blut-Hirn-Schranke.

In Autopsiebefunden wurde ein deutlicher Fibrogenaustritt aus kleinen Hirngefäßen beobachtet. Die Wissenschaftler fanden zudem perivaskuläre Makrophagen um solche Gefäße, aber kein Virus im Gehirn.

Weiterhin stellten die Neurologen der Yale-Universität erhöhte Werte von Entzündungsmarkern im Liquor von COVID-Patienten fest, aber keine Marker bei nicht infizierten Patienten. Außerdem gelang es einer Arbeitsgruppe bei 41 Patienten mit persistierenden Symptomen drei Monate nach der Infektion im FDG-PET in bestimmten Hirnarealen einen Hypometabolismus nachzuweisen. Dieser korrelierte deutlich mit der Art und Ausprägung der Symptome, die Forscher fanden die Veränderungen also in Arealen, die nach der Entstehung der Symptome beteiligt sein könnten. Weiter entdeckten die Forscher einen neuartigen Autoantikörper und gehen von einer Autoimmunreak-tion aus.

Nephrologische Schäden

Nierenschäden sind bei stationären COVID-19-Patienten eher die Regel als die Ausnahme. Zumindest in einem universitären Kontext hätten rund zwei Drittel aller stationär aufgenommenen COVID-19-Patienten einen auffälligen Urinstatus, und bei rund einem Drittel sei davon auszugehen, dass nach sechs Monaten noch ein chronischer Nierenschaden vorliege, schätzt Prof. Oliver Gross, Universitätsmedizin Göttingen. Diese Nierenschäden sind zumindest teilweise unmittelbar dem Virus geschuldet. SARS-COV-2 sei zwar kein Killervirus für die Nieren, sagte Prof. Tobias Huber, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Der Hauptschädigungsmechanismus seien die schweren Krankheitsverläufe mit ihren inflammatorischen und kardiovaskulären Komplikationen.

Superspreader-Events

Zweifelos werden beim Husten und Niesen massenhaft potenziell virusbelastete Partikel in die Umgebung geschleudert. Doch beides stellt keineswegs die bedeutsamste Quelle für eine SARS-CoV-2-Infektion dar, schreiben Dr. Valentyn Stadnytskyi und Kollegen von den National Institutes of Health in Bethesda [10].

Beim Reden im Innenraum gibt es keinen sicheren Abstand. Die größte Gefahr geht vom Sprechen in geschlossenen Räumen aus - sofern keine Masken getragen werden. Zwar ähneln sich Größe und Anzahl der in die Luft abgegebenen Tröpfchen, doch dauert eine Unterhaltung in der Regel wesentlich länger als ein Hustenstoß. Das beim Reden freigesetzte Aerosol verharrt minutenlang im Raum und verbreitet sich mit dem Luftstrom. Bei unzureichender Lüftung kommt es außerdem schnell zu einer Akkumulation der infektiösen Partikel, wodurch sich das Ansteckungsrisiko beträchtlich erhöht. Das erregerreiche Aerosol kann in Innenräumen lange persistieren und sich erheblich anreichern. Die Halbwertszeit für das Überleben von SARS-CoV-2 liegt in feuchter Luft bei etwa einer Stunde. Für eine Ansteckung braucht man nur eine erstaunlich geringe Dosis von SARS-CoV-2. Mutationsanalysen haben ergeben, dass die Inhalation eines einzigen Virions genügt, um die Erkrankung auszulösen.

Eine große Rolle spielen sogenannte Superspreader, also einzelne Infizierte, die zahlreiche weitere Fälle verursachen und für einen Großteil der COVID-19-Ausbrüche verantwortlich sind, wie bei einer Konferenz in den USA.

Das Singen in Chor und Kirche birgt ebenfalls eine hohe Übertragungsgefahr, selbst auf größere Distanz. Der Grund dafür: die bei der Tonerzeugung vibrierenden Stimmbänder, von denen sich massiv virusbeladene Tröpfchen ablösen. Sie bilden in der Luft ein gefährliches Aerosol, das bis hinunter in die Lunge gelangt. Das größte Risiko ist aber wahrscheinlich lautes Sprechen, beispielsweise in Restaurants und Bars, die deshalb zu Epizentren vieler Superspreader-Events wurden.

Symptomkomplex COVID-19

Bei der Perzeption der vielen Fakten über COVID-19 werden Sie vermutlich erahnt haben, dass es sich bei der COVID-19-Erkrankung um einen Symptomenkomplex handelt, der einzig durch die multilokale Gefäßendothel. schädigung/-entzündung durch SARS-CoV-2 in vielen Organen entstanden ist.

Nach Prof. Andreas Zeiher, Universitätsklinikum Frankfurt am Main, amtierender DGK-Präsident, handelt es sich um ein Potpourri unterschiedlicher Syndrome. Prof. Zeiher schlägt vor, von einem Post-COVID-Syndrom zu sprechen. Dem pflichtet auch Prof. Dirk Westermann, Universitäres Herz- und Gefäßzentrum vom UKE Hamburg bei: "Ich glaube, dass es dieses noch präziser und besser ausdrückt." Diese Erkenntnisse führen uns in der schmerzmedizinischen Praxis unmittelbar zur interdisziplinären Abklärung.

Diagnostische Maßnahmen

Wir müssen neurologische Defizite mit Einschränkung der Aktivitäten des täglichen Lebens (nach dem Barthel Index inkl. neuropsychologischer Defizite) abklären, etwa Polyneuropathien, Lähmungen der Gliedmaßen, Taubheitsgefühl und Parästhesien, ebenso aber auch schwere kognitive Störungen, zum Beispiel Konzentrationsschwächen oder Gedächtnisverlust, oder aber Gehirnschädigungen wie etwa Schlaganfälle.

Bei Luftnot ist die Abklärung einer eventuellen Schwächung des Atemapparates dringend notwendig. Auch eine kardiologische Abklärung ist erforderlich, weil Herzrhythmusstörungen und Stauungsherzinsuffizienz auch zur Dyspnoe führen können. Weiterhin müssen muskuloskelettale Beschwerden und Einschränkungen in den Aktivitäten des täglichen Lebens abgeklärt werden. Auch eine umfassende psychologische sowie psychiatrische Abklärung ist angezeigt, um Angststörungen, Belastungsstörungen und andere psychische Erkrankungen zu finden. Eine interdisziplinäre, multimodale sowie individuelle Diagnostik ist unumgänglich.

Therapeutisches Vorgehen

Therapeutisch bedarf es einer Atemtherapie, Training von Bewegungsabläufen, Kraft-und Konditionsaufbau, Sporttherapie und Belastungstraining, der Behandlung von Wortfindungs- und Sprachplanungsstörungen sowie der Therapie kognitiver Einschränkung.

Der Long-COVID-Patient braucht neben der Empathie der Schmerzmedizin auch Physio- und Ergotherapie sowie Logopädie aus der Hand von erfahrenen Therapeuten, die disziplinübergreifend arbeiten. Je nachdem, ob beispielsweise die pulmonalen, kardialen oder neurologischen Schädigungen führend sind, ist eine entsprechende intensive Therapie im jeweiligen Segment notwendig.

Die KBV hat uns hier nicht allein gelassen und den Post-COVID-Zustand unter U 09.9 nach der ICD-Klassifizierung eingeführt. Die Schmerztherapeuten können demnach bei Langzeitfolgen einer COVID-19-Infektion Physio- oder Ergotherapie verordnen, ohne dass das Heilmittelbudget belastet wird. Dafür wird die Indikation U 09.9, Post-COVID-Zustand, ohne nähere Bezeichnungen codiert.

Laut Mitteilung der KBV müssen Ärzte nicht die orientierende Behandlungsmenge, die im Heilmittelkatalog des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) aufgeführt ist, berücksichtigen. Diese Änderung gilt seit dem 1. Juli 2021.

Physiotherapie

  • Akute Störungen der Atmung (mögliche Maßnahmen sind laut Heilmittelkatalog Krankengymnastik und Inhalation)

  • Wirbelsäulenerkrankungen (hier kann die Teilnahme an einer Krankengymnastik-Gruppe oder eine manuelle Therapie verordnet werden)

Ergotherapie

  • SB1: Erkrankungen der Wirbelsäule, Gelenke und Extremitäten (mit motorisch funktionellen Schädigungen): Die Ärzte können eine motorisch-funktionelle Behandlung verordnen.

  • PS2: neurotische, Belastungs-, somatoforme und Persönlichkeitsstörungen: Hier listet der Katalog psychisch-funktionelle Behandlungen auf.

  • PS3: Wahnhafte und affektive Störungen/Abhängigkeitserkrankungen: Mögliche Maßnahmen sind psychisch-funktionelle Behandlungen oder Hirnleistungstraining.

Eine interdisziplinäre Herausforderung

Auch die Deutsche gesetzliche Unfallversicherung hat COVID-19 als Berufskrankheit und Arbeitsunfall anerkannt. Allerdings darf nicht verhohlen werden, dass die Hürden für die Anerkennung von Long-COVID als Berufserkrankung hoch sind.

Für uns in der schmerzmedizinischen Praxis bedeutet die Long-COVID-Erkrankung eine besondere interdisziplinäre Herausforderung, um zu klären, welche Art von Störungen vorliegen, und dann entsprechende Therapien einleiten zu können. Zum Glück sind durch die KBV und den G-BA die Wege bereitet worden, um ohne Budgetierungen der Heilmittel therapieren zu können. Es gibt also keinen Grund, Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie aus finanzieller Sicht nicht durchzuführen.

Wer in seiner schmerzmedizinischen Praxis eine interdisziplinäre Diagnostik und anschließend eine multimodale, der Diagnostik entsprechende Therapie nicht durchführen kann, dem rate ich umgehend für seine Patienten eine COVID-19-Rehabilitation einzuleiten. So finden sich zum Beispiel im Internet ohne Schwierigkeiten entsprechende Reha-Einrichtungen.

Dr. med. Heinrich Binsfeld.

Algesiologe DGS

Facharzt für Anästhesiologie und Innere Medizin

Notfallmedizin, Umweltmedizin, Spezielle Schmerztherapie

Kirchplatz 7

48317 Drensteinfurt

E-Mail: info@pg-kirchplatz.de

Literatur

  • 1.www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Fallzahlen.html
  • 2.www.who.int/emergencies/diseases/novel-%C2%ADcoronavirus-2019
  • 3.Frontera JA et al. A prospective study of neurologie disorders in hospitalized COVID-19-patients in New York City. Neurology 2021;96:e575-86 [DOI] [PMC free article] [PubMed]
  • 4.Wittstock Martin et al. Neurologische Manifestationen der COVID-19-Erkrankung. Ärzteblatt Mecklenburg-Vorpommern 2021;6:215-9
  • 5.Helms J et al. Neurologic features in severe SARS-CoV-2-infection. NEJM 2020;382:2268-70 [DOI] [PMC free article] [PubMed]
  • 6.Liotta EM et al. Frequent neurologic manifestations and encephalopathy-associated morbidity in Covid-19 patients. Ann Clin Transl Neurol 2020;7:2221-30 [DOI] [PMC free article] [PubMed]
  • 7.Puntman VO et al. Outcomes of cardiovascular magnetic resonance imaging in patients recently recovered from Coronavirus Disease 2019 (COVID-19). JAMA Cardiol 2020;5:1265-73 [DOI] [PMC free article] [PubMed]
  • 8.European Heart Journal 2021; online 18. Februar
  • 9.Guler SA et al. Pulmonary function and radiological features 4 months after COVID-19: first results from the national prospective observational Swiss COVID-19 lung study. Eur Respir 2021;57:2003690 [DOI] [PMC free article] [PubMed]
  • 10.Stadnytskyi V et al. Breathing, speaking, coughing or sneezing: What drives transmission of SARS-CoV-2? J Intern Med 2021;290:1010-27 [DOI] [PMC free article] [PubMed]

Articles from Schmerzmedizin are provided here courtesy of Nature Publishing Group

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