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. 2021 Oct 28;49(2):103–106. [Article in German] doi: 10.1055/a-1509-4666

Selbstbestimmtes Wohnen mit Unterstützung – Entwicklung und Überprüfung der „Modelltreueskala Selbstbestimmtes Wohnen (MSSW)“ für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen

Supported Housing – Development and Validation of the “Supported Housing Fidelity Scale” for People With Mental Health Problems

Dirk Richter 1,2,3, Christine Adamus 1,2, Sonja Mötteli 4, Franziska Myszor 5, Günther Wienberg 6, Ingmar Steinhart 5
PMCID: PMC8898671  PMID: 34710933

Zusammenfassung

Ziel der Studie In der psychiatrischen Versorgung fehlt bisher eine umfassende Beschreibung der Struktur- und Prozessmerkmale unterstützter Wohnformen im deutschsprachigen Raum. Die Entwicklung und Testung einer Modelltreueskala für selbstbestimmtes Wohnen wird dargestellt.

Methodik Im Rahmen einer länderübergreifenden Kooperation wurde eine Skala entwickelt und in Interviews mit Leitungspersonen in 87 Diensten und Einrichtungen in Deutschland und der Schweiz eingesetzt.

Ergebnisse Die Modelltreueskala umfasst 31 Items in 4 Bereichen. Unterstützungsdienste in der eigenen Wohnung wiesen eine leicht höhere Modelltreue gegenüber besonderen Wohnformen (stationäre Einrichtungen) auf. Dies galt insbesondere für die Bereiche Wohnbedingungen und Inklusionsorientierung. In den Bereichen Mitarbeitende/Team und Unterstützungsbedingungen wurden keine Unterschiede gemessen.

Schlussfolgerung Mit der Modelltreueskala steht erstmalig ein überprüfbarer Kriterienkatalog für das selbstbestimmte Wohnen in der psychiatrischen Versorgung zur Verfügung.

Schlüsselwörter: Wohnen, psychiatrische Rehabilitation, Modelltreueskala

Einleitung

Die Situation des Wohnens für Menschen mit lang anhaltenden psychischen Erkrankungen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in den Ländern der westlichen Welt massiv gewandelt 1 . Nach der Deinstitutionalisierung der Versorgung und der Enthospitalisierung sogenannter Langzeitpatientinnen und -patienten ab den 1980er-Jahren wurden zahlreiche Wohnheime, Wohngemeinschaften und betreute Wohnplätze errichtet. Ein abermaliger Wandel stellte sich ab dem Beginn der 2010er-Jahre ein, als das selbstbestimmte Wohnen in der eigenen Wohnung mit einer stundenweisen professionellen Unterstützung immer populärer wurde. Damit verbunden war ein Richtungswechsel in den Zielen der Wohnunterstützung, die sich – ebenso wie andere Bereiche der psychiatrischen Versorgung – nunmehr die Recovery- und Inklusionsorientierung zu eigen machte 2 . Gestützt wurde dieser abermalige Wandel vor allem in Deutschland durch veränderte gesetzliche Vorgaben und international durch große Studien im Bereich der Menschen mit psychischen Erkrankungen in Obdachlosigkeit, die ergeben haben, dass viele Betroffene selbst nach Jahren des Lebens auf der Straße in der Lage waren, in der eigenen Wohnung zurechtzukommen und ein stabiles Leben zu führen 3 4 .

Systematische Übersichtsarbeiten zu den Auswirkungen verschiedener Wohnformen, und hier insbesondere bezüglich des Vergleichs zwischen stationärem Wohnen und Unterstützung in der eigenen Wohnung, haben keine Nachteile für das Leben außerhalb von Einrichtungen gefunden 5 6 7 . Zudem besteht eine klare Präferenz der Nutzenden, die in einschlägigen Studien zu mehr als 80 % den Wunsch äußerten, nicht in einem Heimsetting zu leben 8 . Diese Präferenz steht im Einklang mit der UN-Konvention für Rechte von Menschen mit Behinderungen, die in Artikel 19 zum Ausdruck bringt, dass Menschen mit Behinderungen das Recht haben sollen, ihren Wohnort frei zu wählen und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben 9 .

Das selbstbestimmte Wohnen mit Unterstützung hat viele Gemeinsamkeiten mit Wohnformen wie dem Ambulant Betreuten Wohnen in Deutschland oder mit dem Betreuten/Begleiteten Wohnen in der Schweiz. Allerdings kann ein wirklich selbstbestimmtes Wohnen in zentralen Merkmalen über diese Wohnformen hinausgehen. Bis anhin fehlen jedoch im deutschsprachigen Raum Kriterien, nach denen beurteilt werden kann, ob selbstbestimmtes Wohnen vorliegt. Dies ist insbesondere auch dann von Bedeutung, wenn Wohnsettings in ihrer Wirkung wissenschaftlich untersucht und verglichen werden. Hierzu braucht es zwingend transparente und messbare Kriterien 10 . Nachfolgend werden die Entwicklung und die Überprüfung einer Modelltreueskala beschrieben, welche diese Kriterien misst.

Methode

Modelltreueskalen haben sich in der psychiatrischen Rehabilitation vor allem im Bereich der Arbeitsrehabilitation für Supported-Employment-Programme durchgesetzt und als prädiktiv für den Programmerfolg herausgestellt 11 12 . Im Bereich des Wohnens sind bis anhin nur Instrumente in nordamerikanischen Studien bei Menschen in Obdachlosigkeit entwickelt worden (z. B. 13 14 ). Aufgrund der unterschiedlichen Sozialsysteme und der veränderten Anforderungen bei Menschen in Obdachlosigkeit, wurde auf eine Adaption der nordamerikanischen Skalen verzichtet und stattdessen unter Berücksichtigung der vorhandenen Instrumente eine Entwicklung für die hiesigen Anforderungen vorgenommen.

Im Rahmen einer länderübergreifenden Kooperation wurde die Skala im Rahmen zweier Forschungsprojekte entwickelt und getestet, die Wohnsettings in ihren Auswirkungen vergleichen. Dabei handelt es sich zum einen um eine Beobachtungsstudie, die von den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel/Bielefeld durchgeführt wurde 15 und zum anderen um eine randomisierte kontrollierte sowie eine Beobachtungs-Interventions-Studie an den psychiatrischen Universitätskliniken in Zürich und Bern 16 . Beide Projekte untersuchen, ob das unterstützte Wohnen in der eigenen Wohnung oder in besonderen (stationären) Wohnformen zu unterschiedlichen Resultaten im Längsschnitt über einen Zeitraum von 24 Monaten führt. Beide Projekte werden mit denselben Erhebungsinstrumenten durchgeführt.

In einer multiprofessionellen Arbeitsgruppe wurde eine Modelltreueskala entwickelt. Sie basiert in Teilen auf relevanten Items der Fidelity-Skalen von Einrichtungen für Menschen in Obdachlosigkeit 13 14 sowie auf einer britischen Arbeit über Merkmale von unterstützten Wohnsettings 17 . Nach der Neuformulierung der Merkmale für die Verhältnisse im deutschsprachigen Raum wurde die Skala unter Einbezug von Expertinnen und Experten mit Erfahrung sowie mittels einer Delphibefragung von professionellen Expertinnen und Experten zunächst einem Prätest und dann in einer Vollerhebung in persönlichen und telefonischen Interviews mit Leitungspersonen in Einrichtungen des Wohnens für Menschen mit psychischen Erkrankungen in Deutschland und in der Schweiz angewendet. Mittels eines Vergleichs von Unterstützungsdiensten in der eigenen Wohnung (nachfolgend UEW) mit besonderen Wohnformen, die eher dem stationären Wohnen zuzuordnen sind (nachfolgend BesWF), wurde die Skala auf diskriminative Validität geprüft. Hierzu wurden die Werte der Items in einer Summe aufaddiert. Die Datenerhebung erfolgte telefonisch. Es wurden Daten über 75 Settings in Deutschland und 12 Settings in der Schweiz erhoben. Von den 87 Settings entfielen 33 auf den BesWF-Bereich und 54 auf den UEW-Bereich. Die Durchführung der Studien wurde von den zuständigen Ethikkommissionen in der Schweiz (Swissethics, Nr. 2018–0238) und in Deutschland (Universität Münster, Nr. 2017-149-f-S) genehmigt.

Ergebnisse

Die neu entwickelte Modelltreueskala umfasst 31 Aussagen (s. online unter: http://osf.io/ztj6d/ ). Die Aussagen werden auf einer 5-stufigen Likertskala als Rating beantwortet («trifft voll zu – trifft eher zu – teils/teils – trifft eher nicht zu – trifft gar nicht zu») und sind endpunktbenannt. Die Endpunkte verbalisieren ein Optimum und ein Pessimum. Beispielsweise lautet das Optimum (trifft zu) bei der Variable «Wahlfreiheit der Wohnform»: Dies bedeutet: alle Nutzenden haben volle Wahlfreiheit bei der Auswahl der Wohnform . Für das Pessimum (trifft gar nicht zu) lautet die Benennung der Ausprägung: Dies bedeutet: keine Nutzenden haben volle Wahlfreiheit bei der Auswahl der Wohnform . Maximal könnten auf der Summenskala 155 Punkte erzielt werden. Die Skala ist unterteilt in 4 theoretische Bereiche: Wohnbedingungen, Mitarbeitende/Team, Unterstützungsbedingungen, Inklusionsorientierung.

UEW-Angebote wiesen in der nicht normalverteilten Summenskala (Shapiro-Wilk-Test w = 0,9644; p = 0,017) insgesamt eine leicht bessere Modelltreue auf als BesWF-Angebote (Mittelwerte: UEW – 128,8 vs. BesWF – 124,6: Mediane: UEW – 130 vs. BesWF – 125). Auf der Basis des 95 %-Konfidenzintervalls sind diese Unterschiede im Wilcoxon-Rangsummen-Test signifikant ( Tab. 1 ). Hinsichtlich der 4 oben genannten theoretischen Bereiche zeigte sich, dass UEW-Angebote bei den Wohnbedingungen und der Inklusionsorientierung eine signifikant höhere Modelltreue aufwiesen, nicht jedoch im Bereich Mitarbeitenden/Team sowie im Bereich der Unterstützungsbedingungen, wo sich keine Unterschiede ergaben. Zu beachten ist dabei, dass es sich bei den genannten Bereichen nicht um durch psychometrische Verfahren gebildete Subskalen handelt, sondern um fachlich-theoretische Zusammenhänge.

Tab. 1. Kennwerte im Vergleich zwischen Unterstützungsangeboten in der eigenen Wohnung und besonderen Wohnformen.

Unterstützungsangebote in der eigenen Wohnung
N = 54
besondere Wohnformen
N = 33
Wilcoxon-Rangsummen-Test ** (95 %-Konfidenzintervall)
Gesamtskala (Mittelwert/Median) 128,8/130 124,6/125 – 4,99 (– 7,99 bis – 1,99)
Bereich Wohnbedingungen (Mittelwert/Median 6 Items) * 4,1/4,3 3,5/3,5 – 0,66 (– 0,99 bis – 0,50)
Bereich Mitarbeitende/Team (Mittelwert/Median 4 Items) * 3,5/3,5 3,7/3,5 0,25 (– 0,00003–0,49)
Bereich Unterstützungsbedingungen (Mittelwert/Median 15 Items) * 4,2/4,2 4,3/4,3 0,06 (– 0,06–0,19)
Bereich Inklusionsorientierung (Mittelwert/Median 6 Items) * 4,5/4,5 4,2/4,2 – 0,33 (– 0,49 bis – 0,00001)
*

dividiert durch die Anzahl der Items

**

Difference in location

Diskussion

Die hier entwickelte Skala beschreibt erstmalig für den deutschsprachigen Raum Kriterien für eine Modelltreue für selbstbestimmtes Wohnen mit Unterstützung in Angeboten der psychosozialen Versorgung außerhalb der Einrichtungen für Menschen in Obdachlosigkeit. Aus methodischer Sicht haben Modelltreueskalen verschiedene Limitationen aufzuweisen. Da die Analyseeinheit (‘unit of analysis’) nicht eine Person, sondern ein Angebot psychiatrischer Dienstleistungen ist, fallen die Stichproben in der Regel recht klein aus, was die statistischen Möglichkeiten erheblich einschränkt.

Zudem sind gerade Fidelity-Skalen nicht notwendigerweise intern konsistent 12 , was üblicherweise mit einem Maß wie Cronbach’s Alpha demonstriert wird. Wenn, wie auch im Falle dieser Skala, zahlreiche Dienste einzelnen Kriterien nicht entsprechen, korrelieren die Items relativ schlecht. Während bei anderen Skalen dann in der Regel über den Ausschluss dieser Items nachgedacht wird, stellt sich diese Frage bei Modelltreueskalen eher nicht, da gerade diese Items aus fachlich-inhaltlicher Sicht von Bedeutung sind. Eine weitere Limitation besteht darin, dass aus Ressourcengründen nur ein Interview pro Einrichtung oder Dienst geführt werden konnte, was eine Überprüfung der Interraterreliabilität nicht möglich machte.

Abweichend von anderen Modelltreueskalen in der psychiatrischen Rehabilitation wurden die Items endpunktbenannt, während in anderen Skalen oftmals jede Ausprägung beschriftet wird. Endpunktbenannte Fidelity-Skalen sind jedoch beispielsweise in der Überprüfung der Modelltreue bei psychotherapeutischen Verfahren nicht unüblich (s. etwa 18 ).

Die Resultate hinsichtlich der Unterschiede zwischen Unterstützung in der eigenen Wohnung und besonderen Wohnformen fallen in etwa in der erwarteten Richtung aus. Selbstbestimmtes Wohnen mit Unterstützung erlaubt mehr Wahlfreiheit und Inklusionsorientierung als ein Leben im stationären Setting. Dagegen stehen die Stabilität und Umfänglichkeit der Versorgung (etwa 24-Stunden-Erreichbarkeit) der stationären Einrichtungen, die viele aufsuchende Dienste nicht in dem gleichen Maße sicherstellen können. Deutlich wurde zudem, dass vor allem im Bereich Mitarbeitende/Team Verbesserungsbedarf unabhängig vom Wohnsetting besteht. Dies betrifft etwa die Mitarbeit von Expertinnen und Experten aus Erfahrung oder aber die Qualifikation von Mitarbeitenden hinsichtlich Gesprächsführung und Deeskalation. Es bestätigte sich auch in diesen Daten, dass nicht die Wohnform an sich den Unterschied macht, sondern bestimmte Qualitäten der Wohnunterstützung, hier etwa die Wahlfreiheit.

Die Modelltreueskala Selbstbestimmtes Wohnen bedarf zweifelsohne weiterer Anwendungen und Überprüfungen ihrer psychometrischen Eigenschaften. Die Skala, inklusive aller Materialien, steht der interessierten Öffentlichkeit frei zur Verfügung und kann über folgende Webseite heruntergeladen werden: http://osf.io/ztj6d/ .

Funding Statement

Wir danken den teilnehmenden Diensten und Einrichtungen an den Studien in Deutschland und in der Schweiz. Die Datenerhebung erfolgte im Rahmen von zwei geförderten Projekten, in der Schweiz durch den Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der Wissenschaften (10531C_179451), in Deutschland durch die Förderung der Stiftung Wohlfahrtspflege NRW und der Stiftung Bethel.

Footnotes

Interessenkonflikt Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

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