Klatschen aus Dankbarkeit für die geleistete medizinische Arbeit in Zeiten von COVID-19? Heute reicht das vielen Angehörigen der medizinischen Berufe nicht mehr. Die Frustration über die Unterfinanzierung, die Gängelung und Regulierungswut durch Politik und Krankenkassen macht sich wieder breit. Aber vor 120 Jahren gab es das auch schon, wie eine kleine Schrift von 1893 beweist.
Dr. med. Norbert Grabowsky hatte sich nach Medizinstudium, Promotion und Approbation 1891 zunächst in Lupow/Hinterpommern als Landarzt ohne Kassenzulassung niedergelassen. Damit war ihm die Behandlung von Angehörigen der durch die Sozialgesetzgebung 1884 eingeführten Krankenkassen verwehrt. Nach seinen Angaben lief die Praxis - Zitat: "miserabel, weil in jeder Ortschaft ein Bauer oder Tagelöhner oder sonst wer sich mit homöopathischen Kuren befasste, so dass die Hilfe des Arztes nur in seltenen, man möchte sagen in Ausnahmefällen verlangt wurde."
Grabowsky war damals sicher noch nicht klar, dass das Vertrösten mit homöopathischen Zuckerkügelchen noch keinen Patienten jemals wirklich geheilt hat. Aber das Prinzip, dass Quacksalberei oft ein besseres Einkommen beschert als ehrliche Medizin, ist ja leider auch heute noch weit verbreitet.
Weitere Niederlassungen erfolgten "in einem Dörfchen bei Königsberg", danach in der "Nähe von Leipzig" und dann in Teicha bei Halle/Saale. An allen Orten beklagte er sich über das "Krankenkassengesetz" und die Konkurrenz durch die Kurpfuscherei. An vielen Orten versuchte er mit seiner Praxis einen Neuanfang.
Er scheint sich durch das Verfassen von kleineren Schriften, aber auch von umfangreicheren Büchern mit esoterisch-philosophischem Inhalt über Wasser gehalten zu haben. Großes Aufsehen erregte sein 1894 erschienenes Buch: "Die verkehrte Geschlechtsempfindung oder die Mannmännliche und weibweibliche Liebe", die seinem Verleger Max Spor (1850-1905) eine Verurteilung wegen "Verbreitung unzüchtiger Schriften" einbrachte (sehr viele interessante Informationen über den Verleger Max Spor bei Wikipedia).
Die Situation um 1900
In seiner 1893 erschienenen 25-seitigen Schrift "Das Elend des ärztlichen Berufes" hat Grabowsky nur vier Jahre nach der Niederlassung aus seiner Sicht das ganze (damalige!) Elend des ärztlichen Berufes sehr plakativ und populistisch geschildert (Abb. 1): mangelnde Ausbildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten; mangels Zulassung zu den Krankenkassen keine Möglichkeit "Kassenpatienten" zu behandeln; Konkurrenz durch "Kurpfuscher", Bader und Barbiere. Grabowsky muss es wirtschaftlich wirklich sehr schlecht gegangen sein: Er spricht von einem "traurigen Dasein", so sei ihm auch die Heirat mit einem (armen) Mädchen verwehrt, da er sie bei einem Jahresgehalt von unter 1.000 Mark nicht ins Unglück stoßen wolle. Er spricht wegen der "erbärmlichen Vergütung" sogar von der Angst des Verhungerns. Schuld an Allem sei die neue Sozialgesetzgebung. Insgesamt sei ihm eine "traurige, hoffnungslose, unwürdige Existenz", ja ein "Proletarierdasein" auferlegt. Er ist auch "bitter enttäuscht" von der Undankbarkeit und der "üblen Nachrede" der Patienten, gleichzeitig scheut er sich aber auch von den armen "Tagelöhnern" mehr als 50 Pfennig für einen Hausbesuch oder eine Konsultation zu nehmen.


Grabowsky fordert deswegen in seiner Schrift die freie Arztwahl auch für Krankenklassenmitglieder außerhalb des Kreises der zugelassenen "Kassenärzte", bei denen man sich "einzuschreiben" hatte und natürlich die Aufhebung der "Kurpfuscherei" (das Verbot der K. wurde 1869 aufgehoben). Ferner, dass jeder Arzt nach seiner Approbation die Möglichkeit haben muss, bei freier Station als Volontär in einem Krankenhaus arbeiten zu können. Und zur Hebung des ärztlichen Einkommens wünscht er sich noch "die Einführung der allgemeinen ärztlichen Leichenschau in ganz Deutschland und die Gewährung eines fixierten Gehalts für die Schau."
In seinem missionarischen Eifer warnt er auch folgerichtig Studenten vor dem Medizinstudium. Zitat: "Von einem wirklichen Rentieren des Kapitals, das wir zum Studium aufwandten, von einem wirklichen Sichbezahltmachen der geistigen Arbeit, die die Erlangung der Approbation nötig machte, kann keine Rede sein. Kein Berufszweig, so kann man sagen, ist im Verhältnis zu dem auf ihn verwendeten Kapital und Arbeitswert so unrentabel, wie der ärztliche." Und außerdem gebe es schon viel zu viele Ärzte, die sich wie "hungrige Wölfe" auf die wenigen Kassenarztsitze stürzen.
Als Gegenreaktion auf die sich um 1900 dramatisch verschlechternde Honorarsituation und auf die diktatorischen Vertragsgestaltungen durch die Krankenkassen gründete Dr. Hermann Hartmann den "Verband der Ärzte Deutschlands zur Wahrung ihrer wirtschaftlichen Interessen" aus dem später der Hartmannbund hervorgegangen ist. Seitdem ist die Rechtsposition der Ärzte gegenüber den Krankenkassen verbessert worden.
Klagen aus jüngerer Zeit
Die Warnungen des verarmten Landarztes Grabowsky scheinen nicht gehört worden zu sein, wenn man sich die jetzige hohe Dichte von Vertragsärzten anschaut. Im Gegensatz dazu besteht ein erheblicher Personalmangel auf den Intensivstationen, wo in Zeiten der Coronapandemie medizinisches Fachpersonal und Ärzte bis zur Selbstaufgabe und an die Grenzen ihrer körperlichen und seelischen Belastbarkeit arbeiten müssen. Klar, dass dann einige Stationen wegen Personalmangels in einem unattraktiv gewordenen Beruf geschlossen bleiben müssen. Wenn eine berufliche Kompetenz nicht mehr wertgeschätzt wird und Ärzte sogar Anfeindungen und Hasskommentare ohne staatlichen Schutz über sich ergehen lassen müssen (siehe Impfärzte!), dann stimmt etwas nicht mehr im System des sozialen Miteinanders und die medizinische Versorgung leidet oder wird ganz eingestellt.
Noch heute gibt es für den Niederlassungswilligen - neben der Pflicht in "gesperrten Bezirken" eine Kassenzulassung zu beantragen - einen solchen Wust an Reglementierungen, dass vielen Ärzten wieder das Dasein als "Privatarzt" sinnvoll erscheint. Wie schon vor 120 Jahren gibt es auch heute wieder sogenannte Einkaufsmodelle der Krankenkassen mit "Einzel-Dienstverträgen". Die Abhängigkeit von staatlicher Gesetzgebung und den Vorschriften der Krankenkassen bleibt besonders für Vertragsärzte ein wunder Punkt. Als Gegenreaktion gibt es in einigen Regionen Deutschlands weniger Hausärzte als Heilpraktiker. Diese müssen neben einem Führungszeugnis lediglich einen Hauptschulabschluss vorweisen und eine Unbedenklichkeitsprüfung bestehen. Eine geregelte Ausbildung, eine wirkliche Wissensprüfung oder gar eine einheitliche Berufsordnung existieren nicht.
Und obwohl sich in Deutschland besonders auf dem Land bereits wieder ein Ärztemangel abzeichnet, wird der Zugang zum Medizinstudium durch einen strengen Numerus Clausus begrenzt.
In einem Buch von Helmut Vogt sind zwei bezeichnende Karikaturen von 1956 zum Arztberuf zu finden (Abb. 2).
Die Wochenzeitung Der Spiegel publizierte 1993 unter dem Titel "Im Sturzflug abwärts" eine Reihe zu Berufsaussichten von Akademikern. Für den Beitrag zu Berufsaussichten und Konkurrenzdruck von Medizinern wurde zum 100sten Jahrestag die Schrift von Grabowsky als Aufmacher genutzt. Auch heute belächelt die Presse das Streben der Ärzteschaft nach wirtschaftlicher Sicherheit bei staatlich unregulierter Berufsausübung und stellt die ironische Frage: "Was haben Bauern und Ärzte gemeinsam? Sie klagen immer und beileibe nicht nur über das Wetter."
Ach ja: Der größte Traum von Grabowsky war Badearzt zu werden, da sie nur im Sommer arbeiten und sich im Winter erholen können.
Literatur bei den Verfassenden
Dr. Wolf Lübbers.
Facharzt für HNO-Heilkunde
Ringelnatzweg 2
30419 Hannover
w.luebbers@dr-luebbers.de
Dr. med. Christian W. Lübbers.
Facharzt für HNO Pöltnerstr. 22
82362 Weilheim i.OB
www.dr-luebbers.de

