Skip to main content
Springer Nature - PMC COVID-19 Collection logoLink to Springer Nature - PMC COVID-19 Collection
. 2022 May 17;37(1):33–38. [Article in German] doi: 10.1007/s40211-022-00419-y

Kinder- und jugendpsychiatrischer und therapeutischer Behandlungsbedarf bei fremduntergebrachten Kindern und Jugendlichen. Eine Erhebung der Bedarfslage in Einrichtungen im NÖ Industrieviertel

Child and adolescent psychiatric and therapeutic treatment needs in care settings in the Lower Austrian industrial district. A survey of the demand situation

Dina Weindl 1,, Jessica Peper-Bösenkopf 2, Theresa Mares 1, Judith Noske 1
PMCID: PMC9113075  PMID: 35581522

Abstract

Ein steigender kinder- und jugendpsychiatrischer Versorgungsbedarf ist in den letzten Jahren deutlich zu beobachten. Die vorliegende Studie befasst sich mit 20 Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen im Industrieviertel (Niederösterreich) und dem kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlungsbedarfs der 439 dort fremduntergebrachten Kinder und Jugendlichen. Es zeigen sich bei 270 (62 %) der Kinder und Jugendlichen psychiatrische Auffälligkeiten und bei 220 (50,1 %) ein oder mehrere psychiatrische Diagnosen. Davon sind 200 Kinder und Jugendlichen bereits in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung. Bei elf Einrichtungen besteht ein Behandlungsbedarf von 80–100 % der fremduntergebrachten Kinder und Jugendlichen. Es ergibt sich daraus ein hochbelastetes Helfer:innensystem und eine große Versorgungsnotwendigkeit in den Einrichtungen. Eine intensivere Vernetzung und Zusammenarbeit der involvierten Institutionen bzw. Helfer:innensysteme und einer Weiterentwicklung des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Angebots wäre wünschenswert, um den steigenden psychiatrischen Behandlungsbedarf bei Kindern und Jugendlichen adäquat begegnen zu können.

Zusatzmaterial online

Zusätzliche Informationen sind in der Online-Version dieses Artikels (10.1007/s40211-022-00419-y) enthalten.

Schlüsselwörter: Behandlungsbedarf, Industrieviertel, Kinder- und Jugendhilfe

Einleitung

Die Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Standort Hinterbrühl (KJPP Hinterbrühl) des NÖ Landesklinikum Baden-Mödling versorgt gemeinsam mit einer dislozierten Ambulanz und einer Tagesklinik für Jugendliche am Standort Wiener Neustadt in ihrem Einzugsgebiet 773.264 Personen [1]. Das Einzugsgebiet erstreckt sich über das südliche Niederösterreich (Industrieviertel) sowie für stationäre Aufnahmen über das nördliche Burgenland. In diesem Einzugsgebiet werden von der NÖ Kinder- und Jugendhilfe fremduntergebrachte Kinder und Jugendliche in 24 Wohngemeinschaften/Einrichtungen [2] betreut.

In dem vorliegenden Artikel wird eine Bedarfserhebung von kinder- und jugendpsychiatrischen und (psycho)therapeutischen Behandlungen bei im Industrieviertel untergebrachten Kindern und Jugendlichen in präsentiert.

Dies dient mehreren Zielen: (1) Abbildung der Notwendigkeit von kinder- und jugendpsychiatrischen Interventionen für diese spezielle Patient:innengruppe, an der KJPP Hinterbrühl und der dislozierten Außenstelle Wr. Neustadt, (2) damit verbundene Ableitungen für den Klinikalltag und das betroffene Helfer:innensystem und (3) ein möglicher Anstoß zur erhöhten Bereitschaft zur Schaffung von bereichsübergreifenden Kooperationen.

Diese Erhebung ist Teil einer Forschungs- und Wissenschaftsinitiative der KJPP Hinterbrühl sowie des Karl Landsteiner Instituts für psychosoziale Medizin, Psychotherapie und Kindheitsforschung in Kooperation mit dem Kindernetzwerk.

Hintergrund

Auf den akuten psychiatrischen Versorgungsbedarf und die chronische kinder- und jugendpsychiatrische Unterversorgung von Kindern und Jugendlichen in Österreich bzw. europaweit wird seit Jahren von Expert:innen hingewiesen. Außerdem zeigt sich ein zunehmender Trend zu vermehrten stationären Behandlungen in den KJP in den letzten zehn Jahren [3, 4]. In Österreich sind Bundesländerspezifisch sehr heterogene Versorgungsstrukturen zu verzeichnen [3]. In ganz Niederösterreich fehlt es an 40, und davon im Industrieviertel an 30 der vorgesehen stationären kinder- und jugendpsychiatrischen Betten. Im Burgenland wird derzeit keine stationäre kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung durchgeführt und wird aus diesem Grund durch die KJPP Hinterbrühl und die KJP Graz mitversorgt [5, 6]. Dem Gegenüber steht das Wissen, über einen steigenden kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgungsbedarf, der durch die Pandemie nochmals befeuert wurde, und die KJPs im vergangenen Jahr über deren Grenzen hinaus gefordert hat [7]. Zusätzlich gibt es eine eklatante Unterversorgung im niedergelassenen Bereich. So werden weniger als die Hälfte der vorgesehenen Kassenpraxen betrieben, wodurch ein Vakuum in der Versorgungssituation entsteht, das nicht durch KJP Ambulanzen aufgefangen bzw. abgedeckt werden kann [8, 9].

Die Covid-19 Pandemie treibt den steigenden Versorgungsbedarf zusätzlich an und bringt mit monatelanger sozialer Distanzierung und Isolation von Kindern und Jugendlichen weitere Belastungsfaktoren mit sich. Vor der Pandemie konnten Wagner et al. [10] in einer groß angelegten nationalen Studie zeigen, dass psychische Störungen mit einer Halbjahresprävalenz von 23,93 % und eine Lebenszeitprävalenz von 35,82 % bei österreichischen Kindern und Jugendlichen auftreten. Während die Pandemie weiterhin anhält, berichten Ravens-Sieberer et al. [11], dass es zu einem signifikanten Anstieg an psychischen Problemen und Angstsymptomen bei deutschen Kindern und Jugendlichen kommt. Auch Pieh et al. [12] zeigen eine hohe Belastung bei österreichischen Kindern und Jugendlichen mit hohen Werten für Depression (55 %), Angst (47 %)- und Essstörungen (59,5 %).

In der kinder- und jugendpsychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung wird ein multimodales, transdisziplinäres Behandlungskonzept verfolgt. Je nach Art und Ausprägung der Erkrankungen können unter Berücksichtigung von biopsychosozialen Aspekten unterschiedliche Interventionen in die individuelle Behandlungsplanung einfließen [13]. Psychotherapeutische Interventionen, Psychopharmakotherapie, Funktionelle Therapien und bewegungstherapeutische Ansätze, sowie Sozio- und Milieutherapeutische Interventionen stellen dabei wichtige Behandlungselemente dar. Aufgrund von teilweise fehlenden empirischen Wirksamkeitsstudien kommen hierbei mitunter nicht evidenzbasierte, Interventionen zur Anwendung und zeigen die Notwendigkeit verstärkter Forschung im kinder- und jugendpsychiatrischen Setting auf [14]. In vorangegangenen Studien zeigt sich ein erhöhtes Risiko an psychischen Erkrankungen, Suizidalität und Substanzmissbrauch bei fremduntergebrachten Kindern und Jugendlichen [15]. Potenziell vorangegangene traumatische Erfahrungen, als auch die Fremdunterbringung, welche ein weiteres kritisches Lebensereignis darstellen kann, erhöht die Vulnerabilität und die Wahrscheinlichkeit einer psychischen Erkrankung dieser Kinder und Jugendlichen [16]. Des Weiteren erfahren fremduntergebrachte Kinder und Jugendliche im Vergleich zu anderen Kindern und Jugendlichen dreimal so häufig eine psychopharmakologische Behandlung [17].

Die psychosoziale Versorgung von fremduntergebrachten Kindern und Jugendlichen erfolgt in der Praxis oft in ungeordneten Bahnen. Eine gute Vernetzung, persönliches Engagement und Wissen scheinen dabei wichtige Faktoren [18]. Institutionalisierte Kooperationen und eine enge Vernetzung der einzelnen Versorgungseinrichtungen und Bereiche sind teilweise nur unzureichend vorhanden. Dabei stellen Kooperationen und Übergänge in der Behandlung in der kinder-, und jugendpsychiatrischen Versorgung relevante Faktoren dar und sind für die nachhaltige Wirksamkeit der Behandlung von großer Bedeutung [3]. Eine enge Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendhilfe (KJH) ist in der kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung notwendig. Die Zugänge der beiden Bereiche sind jedoch allein schon auf Grund der unterschiedlichen Professionen unterschiedlich geprägt und bringen ein unterschiedliches Verständnis von Störungen im Kindes-, und Jugendalter sowie deren Behandlungsbedürftigkeit mit sich [19]. Zusätzlich kam es am Beispiel von Niederösterreich in den letzten Jahren zu einer Veränderung von Versorgungsstrukturen innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe (KJH) und zu einer Kürzung der Unterstützungsmöglichkeiten in vollstationären Unterbringungseinrichtungen [20].

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die KJP Versorgung in (Nieder‑)Österreich von Kindern, wohnhaft in Einrichtungen der KJH, vor großen Herausforderungen steht, die nach neuen und innovativen Lösungsmöglichkeiten über die einzelnen Bereiche hinweg verlangen.

Methoden

Der Erhebungszeitraum fand zwischen November 2020 bis Februar 2021 statt. Zu diesem Zweck wurden 24 Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen per E‑Mail kontaktiert und 20 Einrichtungen nahmen an der Erhebung teil. Folgende Daten wurden mittels Fragebogen zu allen Kinder und Jugendlichen mit psychiatrischen Auffälligkeiten (N = 270) erhoben: Altersgruppe, Obsorge, psychiatrische Diagnosen, aktuelle Psychopharmakaeinnahme, derzeitige kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung, Anzahl bisheriger stationärer Aufenthalte in einer KJPP, aktuelle Therapien, zusätzlich empfohlene Therapien und Vernetzungsnotwendigkeit. In der vorliegenden Studie wird von einem multi-modalen Behandlungsmodell ausgegangen und damit alle darin einschließenden Interventionen berücksichtigt. Der ausgefüllte Fragebogen wurde in Form einer aufbereiteten Excel-Datenliste an die Leitungspersonen der WGs versendet und danach zu einem Datensatz verarbeitet. Es erfolgte eine gemeinsame Besprechung mit den teilnehmenden Einrichtungen zur Diskussion der Ergebnisse bzw. zur Klärung von noch offenen Fragen.

Für die Datenauswertung wurde IBM SPSS Statistics 25 [21] verwendet. Es erfolgte eine reine deskriptive Auswertung mittels Häufigkeitsverteilungen um ein genaueres Bild des Versorgungsbedarfs zu erhalten.

Stichprobe

In den 20 Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen des Industrieviertels waren zum Befragungszeitpunkt insgesamt 439 Kinder und Jugendliche untergebracht. Von diesen 439 untergebrachten Kindern und Jugendlichen zeigen 270 (62 %) psychiatrische Auffälligkeiten (psychiatrische Diagnosen, psychopharmakologische Behandlung, kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung im ambulanten oder stationären Setting, therapeutischen Behandlungen und zusätzlich empfohlener Therapien) welche in weiterer Folge die untersuchte Stichprobe darstellen. Hinsichtlich der Altersverteilung der psychiatrischen Auffälligkeiten (N = 270) finden sich in der Altersgruppe der 11- bis 14-jährigen der größte Anteil mit 38,9 %, gefolgt von der Altersgruppe der 15- bis 18-jährigen mit 37,8 %. Bei 220 Kindern und Jugendlichen wurde eine bzw. mehrere kinder- und jugendpsychiatrischen Diagnosen nach ICD-10 angeführt. Dabei wurden keine Primärdiagnosen und Komorbiditäten angegeben, sondern die Diagnosen pro Kind und Jugendlichen aufgelistet. Dabei zeigt sich bei 19 % (n = 53) ein komplexes psychiatrisches Störungsbild mit drei oder mehr Diagnosen (Tab. 1). Bei 28,5 % der auffälligen Kinder und Jugendlichen (N = 270) liegt die Obsorge bei der Kinder- und Jugendhilfe und bei 68,9 % liegt sie im innerfamiliären Kreis. Bei 2,6 % wurden keine genaueren Angaben gemacht.

Altersverteilung Diagnoseverteilung
Alter Häufigkeit Prozent Häufigkeit Prozent
0–6 9 3,3 1. Diagnose 96 35,6
7–10 46 17 2. Diagnose 71 26,3
11–14 105 38,9 3 Diagnosen oder mehr 53 19,6
15–18 102 37,8 Keine Angabe 50 18,5
≥ 19 8 3
Gesamt 270 100 270 100
Diagnose Häufigkeit Prozent
F20 Schizophrenie 4 1,0
F32 Depressive Episode 18 4,3
F40 Phobische Störungen 2 0,5
F41 Andere Angststörungen 5 1,2
F42 Zwangsstörung 1 0,2
F43 Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen 83 20,0
F45 Somatoforme Störungen 3 0,7
F50 Essstörungen 2 0,5
F51 Nichtorganische Schlafstörungen 1 0,2
F60 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen 14 3,4
F70–79 Intelligenzstörung 19 4,4
F80–F89 Entwicklungsstörungen 83 18,8
F90 Hyperkinetische Störungen 50 12,0
F91 Störungen des Sozialverhaltens 14 3,4
F92 Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen 33 7,9
F93 Emotionale Störungen des Kindesalters 23 5,5
F94 Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend 44 10,6
F95 Ticstörungen 3 0,7
F98 Andere Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend 12 2,9
Unbekannt 2 0,5
Gesamt 416 100

Ergebnisse

Insgesamt weisen von 439 der untergebrachten Kinder 62 % (N = 270) kinder- und jugendpsychiatrische Auffälligkeiten auf. Von diesen 270 psychiatrisch auffälligen Kindern und Jugendlichen befinden sich zum Untersuchungszeitpunkt 200 (74 %) in einer laufenden kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung und 55 (20,4 %) werden zurzeit nicht psychiatrisch jedoch therapeutisch behandelt. Zu 8 (3 %) wurden keine genaueren Angaben gemacht. Bei 7 Kinder und Jugendlichen wurde zum Befragungszeitpunkt keine Notwendigkeit eines psychiatrischen und/oder (psycho-) therapeutischen Behandlungsbedarfs von Seiten der Einrichtungen angegeben. In mindestens einer (psycho-)therapeutischen Behandlung befinden sich 215 (80 %) Kinder und Jugendliche. Bei insgesamt 89 (44,5 %) der Kinder und Jugendlichen wird zumindest eine zusätzliche (psycho-)therapeutische Intervention empfohlen (siehe Tab. 2). Bei 18 (6,6 %) Kinder und Jugendlichen, welche aktuell keine Therapie besuchen, wurde eine Therapieempfehlung ausgesprochen.

Therapeutische Interventionen Aktuelle Zusätzlich empfohlene
Häufigkeit Prozent Häufigkeit Prozent
Psychotherap. Verfahren Psychotherapie (nicht näher bezeichnet) 149 38,9 21 20,0
Familientherapie 15 3,9 17 16,2
Gruppentherapie 24 6,3 5 4,8
Sexualtherapie 1 0,3 4 3,8
Traumatherapie 4 1,0 1 1
Antiaggressionstraining 1 1
Skillstraining 1 1
Soz. Kompetenztraining 1 1
Musiktherapie 9 2,3 4 3,8
Klinisch-psycholog. Behandlung 1 0,3 2 1,9
Funktionelle Therapie/bewegungstherap. Angebote Ergotherapie 69 18,0 21 20,0
Logopädie 31 8,1 9 8,6
Physiotherapie 24 6,3 2 1,9
Heilpädagogisches Voltigieren/Reiten 37 9,7 7 6,7
Bewegungstherapie (therapeutisches Klettern) 2 1,9
Sozio- und Milieutherapie 2 1,9
Sonstiges Lerntraining (Aufmerksamkeits- und Teilleistungstraining) 7 1,8 3 2,9
Erziehungsberatung 2 1,9
Trauerbegleitung 5 1,3
Klangschalentherapie 7 1,8
Gesamt 383 100,0 105 100,0

Von jenen kinder- und jugendpsychiatrisch Behandelten (n = 200) werden 92 (46 %) ambulant an einer KJPP, 71 (35,5 %) bei einer:m niedergelassenen Fachärzt:in, und 37 (18,5 %) konsiliarpsychiatrisch versorgt. Weiters werden 149 (74,5 %) Kinder und Jugendliche psychopharmakologisch behandelt. Zu 9 Personen (3,3 %) gab es keine genaueren Angaben. Nach der Anzahl der stationären Aufenthalte an einer Kinder- und Jugendpsychiatrie befragt, weisen 131 (48,5 %) der Kinder und Jugendlichen keinen Aufenthalt, 90 (33,3 %) ein bis zwei Aufenthalte, 37 (13,7 %) mehr als zwei Aufenthalte auf und bei 12 (4,4 %) wurde keine Angabe gemacht.

Hinsichtlich der Verteilung der kinder- und jugendpsychiatrisch auffälligen Kindern und Jugendlichen in den KJH-Einrichtungen benötigen in sechs von 20 WGs alle und in weiteren fünf Einrichtungen 80–97 % der untergebrachten Kinder und Jugendlichen, nach Angabe der Betreuungseinrichtungen, eine Behandlung. Das bedeutet, dass der Behandlungsbedarf der zu betreuenden Kinder und Jugendlichen bei fast der Hälfte der Einrichtungen zwischen 80–100 % liegt. Nach dem Vernetzungsbedarf innerhalb des Helfer:innensystems pro Kind/Jugendlichen befragt, zeigte sich bei 233 (86,3 %) Kindern und Jugendlichen die Notwendigkeit eines regelmäßigen Austausches zwischen Therapeut:innen, WG, sozialem System und anderen Helfer:innen. Bei einem:r (0,4 %) täglich, bei 64 (27 %) 1–2 ×/Woche, bei 104 (44,6 %) 1–2 ×/Monat, bei 24 (10,3 %) seltener als einmal im Monat, bei 23 (9,9 %) nie und bei 19 (8,1 %) wurde keine genauere Angabe gemacht.

Diskussion

In der vorgestellten Bedarfserhebung einer KJP Versorgungsnotwendigkeit in stationären KJH-Einrichtungen im Industrieviertel, findet sich eine hohe Anzahl an Kindern und Jugendlichen mit kinder- und jugendpsychiatrischen Auffälligkeiten (62 %). Im Vergleich dazu zeigt sich eine Prävalenzrate von 23,92 % für psychische Erkrankungen bei 10–18-jährigen österreichischen Jugendlichen/Schüler:innen [10]. Bereits in der groß angelegten Ulmer Heimkinderstudie wurde eine ähnliche Entwicklung berichtet, in welcher 59,9 % der befragten Kinder und Jugendlichen die Kriterien einer ICD-10 Diagnose erfüllten [22]. Die Pandemie scheint eine Negativentwicklung von Krankheitsverläufen noch zusätzlich zu fördern [12]. Dies und die Tatsache, dass 81 % der psychiatrisch auffälligen Kinder und Jugendlichen über mindestens eine klinische Diagnose nach ICD-10 verfügen, stellt sowohl die KJP als auch die KJH Einrichtungen vor große Herausforderungen und deckt sich mit bereits vorangegangen Ergebnissen [23].

Mit der Einführung des neuen Normkostenmodells, ist eine derartig hohe Bedürftigkeit der Kinder und Jugendlichen und ein damit einhergehender hoher Behandlungsbedarf finanziell nicht abgedeckt und stellt damit die einzelnen Einrichtungen vor schwierige (Betreuungs‑) Situationen [24]. Eine enge Kooperation mit der betreuenden Einrichtung wird durch dortige fehlende Ressourcen massiv erschwert und eine entsprechende KJP-Behandlung verzögert bzw. behindert. Über die Hälfte der Kinder und Jugendlichen werden auch psychopharmakologisch behandelt und neben eines KJP Behandlungsbedarfs zeigt sich die Notwendigkeit eines komplexen therapeutischen Behandlungsplans. Dies weist wiederum deutlich daraufhin, dass eine multiprofessionelle und integrative Betreuung und Behandlung für diese Kinder und Jugendlichen wichtig und notwendig sind, um nach bereits erschwerten Lebensbedingungen, eine bessere Entwicklung fördern zu können. Dies erfordert eine enge Kooperation der KJPP mit den niedergelassenen KJP und anderen Helfer:innen im extramuralen Bereich, und der KJH, um neben der medizinischen Behandlung, die Bewältigung des Alltages und die Lebensqualität dieser vulnerablen Kinder und Jugendlichen fördern zu können.

Ausblick

Um in weiterer Zukunft die steigende Anzahl an zu versorgenden Patient:innen in der KJP professionell und gut bewältigen zu können, bedarf es einer trägerspezifischen Weiterentwicklung von kooperativen Konzepten zwischen der KJP, der KJH, den Sozialversicherungsträgern und den für psychisch Belastete zuständige Institutionen [25]. Es bedarf unter anderem einer stärkeren Berücksichtigung von traumaspezifischen Aspekten und Angeboten um überinstitutionell sensibel auf diese vulnerable Population reagieren zu können [26]. Die Aufnahme von „stationsäquivalenten Leistungen“ in den Katalog der Krankenhausleistungen, wie es in der BDR bereits stattgefunden hat, würde weitere, teilweise niederschwelligere Behandlungsformen ermöglichen. Dabei seien Alternative Konzepte, die es den Kindern und Jugendlichen ermöglicht (mehr) im familiären Umfeld zu verbleiben wie z. B. Home-treatment [27], nachgehende, integrative Versorgung [28], ambulante Schnittschnellen in Rehabilitationszentren oder in KJH-Einrichtungen nur einige genannte Beispiele. Mut zu neuen Projekten, Finanzierungsklarheit und die Bereitschaft über verschiedene Einrichtungen hinweg zu kooperieren, könnte wesentliche Vorteile mit sich bringen. Die KJP-Versorgung könnte dabei ein Teilaspekt einer Milieutherapeutischen Behandlung darstellen. Die steigende stationäre KJP-Behandlungsbedürftigkeit Kinder und Jugendlicher könnte sich reduzieren, die Einrichtungen selbst entlastet werden und Behandlungsbedarf rascher erkannt und behandelt werden.

Limitationen

Die vorliegenden Ergebnisse sind Teil eines Evaluationsprozesses und auf einem sehr niederschwelligen Niveau. Unberücksichtigt bleibt dabei der gesamte Versorgungsbereich der häuslichen Erziehung, als auch die Versorgungsnotwendigkeit der Kinder und Jugendlichen mit Fluchthintergrund (dies Bedarf einer gesonderten Auseinandersetzung). Eine ausführlichere Evaluation des gesamten kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlungsbedarfs von Kindern und Jugendlichen, welche von der KJH betreut werden, wäre erstrebenswert, ist jedoch im Rahmen des Klinikalltages dzt. nicht bewältigbar.

Supplementary Information

Acknowledgments

Danksagung

Wir danken allen Einrichtungen für die gute Kooperation und den regen Austausch im Zuge der Erhebungen. Außerdem dem gesamten Team, im Speziellem Robert Zimmel und Brigitte Winter, ohne deren Engagement diese Erhebung nicht möglich gewesen wäre.

Förderung

keine Finanzierung oder Förderung wurde erhalten

Interessenkonflikt

D. Weindl, J. Peper-Bösenkopf, T. Mares und J. Noske geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Footnotes

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Literatur

  • 1.Noske J. Unveröffentlichtes Arbeitspapier zu Versorgungszahlen der 3 KJPP Abteilungen in NÖ, lt. Einwohnerstatistik. Stand: 29. Febr. 2020.
  • 2.Kinder und Jugendhilfe Niederösterreich. Heimkatalog. Internes unveröffentlichtes Dokument. Stand: Mai 2019.
  • 3.Fliedl R, Ecker B, Karwautz A. Kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung 2019 in Österreich – Stufen der Versorgung, Ist-Stand und Ausblick. Neuropsychiatr. 2020;34:179–188. doi: 10.1007/s40211-020-00374-6. [DOI] [PMC free article] [PubMed] [Google Scholar]
  • 4.Plener PL, Groschwitz RC, Franke C, Fegert JM, Freyberger HJ. Die stationäre psychiatrische Versorgung Adoleszenter in Deutschland. Z Psychiatr Psychol Psychother. 2015;63:181–186. doi: 10.1024/1661-4747/a000238. [DOI] [Google Scholar]
  • 5.Fliedl R, Hartl C, Karwautz A. Ist-Stand der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Versorgung 2018. Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. 2018.. https://oegkjp.at/2018-ist-stand-der-versorgung. Zugegriffen: 3. Okt. 2021.
  • 6.Karwautz A, Purtscher-Penz AK, Hochgatterer P, Kienbacher C. Child and adolescent psychiatry in Austria. Eur Child Adolesc Psychiatry. 2015;24:359–360. doi: 10.1007/s00787-014-0657-1. [DOI] [PubMed] [Google Scholar]
  • 7.Schmid R. COVID-19-Pandemie verschärft Behandlungsdefizite massiv. Pädiatrie. 2021;33:56–57. doi: 10.1007/s15014-021-3824-0. [DOI] [Google Scholar]
  • 8.Hartl C, Karwautz A. Zehn Jahre Kinder- und Jugendpsychiatrie in Österreich: ein neues ärztliches Sonderfach in den Strukturen des Gesundheitswesens. Neuropsychiatr. 2017;31:103–111. doi: 10.1007/s40211-017-0235-0. [DOI] [PubMed] [Google Scholar]
  • 9.Volksanwaltschaft. Sonderbericht der Volksanwaltschaft. Kinder und ihre Rechte in öffentlichen Einrichtungen. 2017. https://volksanwaltschaft.gv.at/downloads/evrov/Sonderbericht_Kinderrechte_2017.pdf. Zugegriffen: 3. Okt. 2021.
  • 10.Wagner G, Zeiler M, Waldherr K, Philipp J, Truttmann S, Dür W, et al. Mental health problems in Austrian adolescents: a nationwide, two-stage epidemiological study applying DSM-5 criteria. Eur Child Adolesc Psychiatry. 2017;26:1483–1499. doi: 10.1007/s00787-017-0999-6. [DOI] [PMC free article] [PubMed] [Google Scholar]
  • 11.Ravens-Sieberer U, Kaman A, Erhart M, Devine J, Schlack R, Otto C. Impact of the COVID-19 pandemic on quality of life and mental health in children and adolescents in Germany. Eur Child Adolesc Psychiatry. 2021;25:1–11. doi: 10.1007/s00787-021-01726-5. [DOI] [PMC free article] [PubMed] [Google Scholar]
  • 12.Pieh C, Plener PL, Probst T, Dale R, Humer E. Mental health in adolescents during COVID-19-related social distancing and home-schooling. SSRN Journal. 2021 doi: 10.2139/ssrn.3795639. [DOI] [Google Scholar]
  • 13.Remschmidt H, Mattejat F. The component model of treatment in child and adolescent psychiatry: theoretical concept and empirical results. Eur Child Adolesc Psychiatry. 2001;10(Suppl 1):26–45. doi: 10.1007/s007870170005. [DOI] [PubMed] [Google Scholar]
  • 14.Warnke A, Lehmkuhl G. Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Deutschland. Die Versorgung von psychisch kranken Kindern, Jugendlichen und ihren Familien; mit 13 Tabellen. Stuttgart: Schattauer; 2011. [Google Scholar]
  • 15.Engler AD, Sarpong KO, van Horne BS, Greeley CS, Keefe RJ. A systematic review of mental health disorders of children in foster care. Trauma Violence Abuse. 2022;23:255–264. doi: 10.1177/1524838007304406. [DOI] [PubMed] [Google Scholar]
  • 16.Dubois-Comtois K, Bussières E-L, Cyr C, St-Onge J, Baudry C, Milot T, Labbé A-P. Are children and adolescents in foster care at greater risk of mental health problems than their counterparts? A meta-analysis. Child Youth Serv Rev. 2021;127:106100. doi: 10.1016/j.childyouth.2021.106100. [DOI] [Google Scholar]
  • 17.Lohr WD, Jones VF. Mental health issues in foster care. Pediatr Ann. 2016;45:e342–e348. doi: 10.3928/19382359-20160919-01. [DOI] [PubMed] [Google Scholar]
  • 18.Tatzer E, Klicpera D, Mayr U, Fliedl R. Planung eines landesweiten Versorgungsnetzwerks am Beispiel Niederösterreich. Paediatr Paedolog. 2017;52:33–38. doi: 10.1007/s00608-017-0464-2. [DOI] [Google Scholar]
  • 19.Fegert JM, Petermann F. Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie versus Kinder- und Jugendhilfe. Kindh Entwickl. 2014;23:135–139. doi: 10.1026/0942-5403/a000139. [DOI] [Google Scholar]
  • 20.Volksanwaltschaft. Stellungnahme der Volksanwaltschaft zu GZ GS6-G-1000/065-2020. 2020. https://volksanwaltschaft.gv.at/downloads/6qras/stellungnahme-der-va-zur-novelle-noe-kinder-und-jugendhilfeeinrichtungsverordnung-_07-12-2020-1.pdf. Zugegriffen: 3. Okt. 2021.
  • 21.IBM Corp. IBM SPSS statistics for windows, version 25.0. Armonk: IBM Corp.; 2017. [Google Scholar]
  • 22.Schmid M, Goldbeck L, Nuetzel J, et al. Prevalence of mental disorders among adolescents in German youth welfare institutions. Child Adolesc Psychiatry Ment Health. 2008;2:1–8. doi: 10.1186/1753-2000-2-2. [DOI] [PMC free article] [PubMed] [Google Scholar]
  • 23.Scozzaro C, Janikowski TP. Mental health diagnosis, medication, treatment and placement milieu of children in foster care. J Child Fam Stud. 2015;24:2560–2567. doi: 10.1007/s10826-014-0058-6. [DOI] [Google Scholar]
  • 24.Niederösterreichisches Landesgesetzblatt. Änderung der NÖ Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungsverordnung (NÖKJHEV). NÖGBL. Nr. 19/2020. 2020. 2020. https://www.ris.bka.gv.at/eli/lgbl/NI/2020/19/20200220. Zugegriffen: 3. Okt. 2021.
  • 25.Noske J, Thun-Hohenstein L. Kooperation zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie und Kinder- und Jugendhilfe mit speziellem Schwerpunkt auf die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in sozialpädagogischen Wohnformen. Neuropsychiatr. 2021;35:9–16. doi: 10.1007/s40211-020-00378-2. [DOI] [PMC free article] [PubMed] [Google Scholar]
  • 26.Kerns SEU, Pullmann MD, Negrete A, Uomoto JA, Berliner L, Shogren D, Silverman E, Putnam B. Development and implementation of a child welfare workforce strategy to build a trauma-informed system of support for foster care. Child Maltreat. 2016;21:135–146. doi: 10.1177/1077559516633307. [DOI] [PubMed] [Google Scholar]
  • 27.Winters NC, Metz WP. The wrap around approach in systems of care. Psychiatr Clin North Am. 2009;32:135–151. doi: 10.1016/j.psc.2008.11.007. [DOI] [PubMed] [Google Scholar]
  • 28.Boege I, Schepker R, Herpertz-Dahlmann B, Vloet TD. Hometreatment – eine effektive Alternative zu konventionellen Behandlungsformen? Z Kinder Jugendpsychiatr Psychother. 2015;43:411–423. doi: 10.1024/1422-4917/a000377. [DOI] [PubMed] [Google Scholar]

Associated Data

This section collects any data citations, data availability statements, or supplementary materials included in this article.

Supplementary Materials


Articles from Neuropsychiatrie are provided here courtesy of Nature Publishing Group

RESOURCES