Kürzlich wurde eine neue gemeinsame Leitlinie der amerikanischen und europäischen Diabetesgesellschaften zum Typ-1-Diabetes veröffentlicht [1]. Dr. Andreas Liebl vom Diabetes- und Stoffwechselzentrum an der Fachklinik Bad Heilbrunn stellte einen Auszug der wichtigsten Empfehlungen vor.
Besteht Verdacht auf einen Typ-1-Diabetes, empfehlen die Leitlinienautoren, für die Diagnosestellung nach einem bestimmten Algorithmus vorzugehen. Zunächst sollen Autoantikörper getestet werden. "Definitiv nicht empfohlen sind Inselzellantikörper oder gar Insulinautoantikörper", betonte Liebl, sondern vielmehr GAD-, und wenn das nicht reicht, IA2- und zuletzt Zink-Transporter-8-Antikörper. Sind diese positiv, liege mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ein Typ-1-Diabetes vor. Nicht vergessen sollte man aber, dass ca. 5-10 % der erwachsenen Betroffenen keine derartigen Autoimmun-Antikörper haben.
Ist das der Fall, sei das Alter ein wichtiger Prädiktor. Bei Personen unter 35 Jahren sollte man einen MODY-Diabetes in Betracht ziehen. Liegen entsprechende Hinweise vor, dass es sich um einen MODY handeln könnte, ist ein Test auf C-Peptid indiziert. Bei Werten über 200 pmol/l ist ein genetischer Test auf monogenetischen Diabetes erforderlich. Werte unterhalb dieser Grenze deuten wiederum auf einen Typ-1-Diabetes hin. Besteht kein Verdacht auf MODY und gibt es Anzeichen für einen Typ-2-Diabetes, so sei die Klassifizierung unklar - gleiches gilt für Personen ohne Autoantikörper über 35 Jahre. In beiden Fällen sollen aber Therapieentscheidungen getroffen werden, ggf. sei ein Versuch einer Therapie ohne Insulin angebracht. Der C-Peptid-Test soll auch bei nach > drei Jahren weiter unklarer Klassifikation in Betracht gezogen werden. Hier gäbe es andere Grenzen: Werte < 200 pmol/l bedeuten einen Typ-1-Diabetes, > 600 pmol/l weist auf einen Typ-2-Diabetes hin. Liegt der Test bei 200-600 pmol/l so gibt es wiederum keine klare Diagnose und die Messung des C-Peptids sollte nach > 5-jährigem Verlauf erneut erwogen werden.
Patientenschulung ist zentrales Thema
Für das Management einer neu manifestierten Erkrankung empfehlen die Leitlinienautoren, die Patienten zu schulen und sie, falls erforderlich, psychologisch zu unterstützen. Die Glukose sei zu monitoren, wobei die Leitlinie explizit das kontinuierliche Glukose-Monitoring (CGM) als Standard für die meisten Erwachsenen mit Typ-1-Diabetes empfiehlt. "Das mag uns Deutschen jetzt nicht so sensationell erscheinen, weltweit ist das aber ein mutiges Statement", sagte Liebl. Es gäbe kein anderes größeres Industrieland, in dem Menschen, die mehrfach Insulin spritzen, automatisch eine Kostenübernahme für CGM-Geräte bekommen. Patienten sollten trotz CGM aber auch wissen, wie sie ihren Blutzucker blutig selbst messen. Insulin soll im Repertoire bleiben und Betroffene sollen lernen, wie sie Hyper- oder Hypoglykämien erkennen, darauf richtig reagieren bzw. diesen vorbeugen können.
Die Psyche im Auge behalten
Die Vorgehensweise bei Patienten, die schon länger mit ihrem Typ-1-Diabetes leben, aber nicht gut eingestellt sind, folgt wieder einem Algorithmus: Man solle Ursachen für die schlechte Einstellung finden, den Betroffenen nochmals schulen und erneut in Betracht ziehen, ihm psychologische Unterstützung zukommen lassen. Die Leitlinienautoren empfehlen weiterhin, Optionen für die Verbesserung des Outcomes zu diskutieren und, wenn nötig, den Erkrankten zu einem Diabetesspezialisten zu überweisen. Der Patient solle außerdem ein CGM angeboten bekommen, falls dies noch nicht erfolgt ist. Wünscht er keine Änderung der Insulintherapie, solle man mit der Behandlung fortfahren und ihn weiterhin durch Schulungen unterstützen. Möchte der Betroffene die Insulintherapie wechseln, sollte diese entsprechend der Umstände angepasst werden.
20-40 % aller Menschen mit Typ-1-Diabetes entwickeln psychologische Probleme, betonte Liebl - ein Grund, warum in der Leitlinie immer wieder auf psychologische Unterstützung eingegangen wird. Zwei besonders kritische Zeitpunkte seien dabei die Diagnose selbst und sobald Komplikationen auftreten.
Die Leitlinie listet zudem weitere mögliche Therapien bei Typ-1-Diabetes auf: darunter Metformin, GLP-1-Rezeptoragonisten und SGLT-2-Inhibitoren. Außerdem beinhaltet die Publikation eine Übersicht zu Transplantationen.
Nicht alle Empfehlungen ließen sich 1:1 auf Deutschland übertragen, schloss Dr. Liebl. "Die Leitlinie bietet aber eine gute Grundlage", sagte er.
Quelle: Diabeteskongress 2022 (DDG) in Berlin und online; Session: Leitlinie Typ-1-Diabetes; Vortrag: ADA guideline Type 1 diabetes
Studien mit oralem Insulin und Probiotikum.
Wo steht die Primärprävention des Typ-1-Diabetes?
Etwa 1 % der Neugeborenen mit hohem HLA-Risiko hat ein - im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung - 25-fach erhöhtes Risiko, einen Typ-1-Diabetes zu entwickeln. Möglicherweise kann man dem mit Maßnahmen der Primärprävention entgegensteuern. Eine der ersten Studien in diese Richtung rekrutiert zurzeit Teilnehmer.
Neugeborene aus der Allgemeinbevölkerung haben ein durchschnittliches Risiko für einen Typ-1-Diabetes (T1D) von 0,4 %. Gibt es allerdings einen bzw. zwei Verwandte ersten Grades mit Diabetes in der Familie, steigt es auf 5 % bzw. 30 %, erinnerte Prof. Dr. Anette-Gabriele Ziegler vom Helmholtz Zentrum München. Haben die Kinder jedoch zusätzlich ein hohes HLA-Risiko, so steigt das Risiko, eine Inselautoimmunität zu entwickeln, für Neugeborene aus der allgemeinen Bevölkerung auf 5 % und für solche mit einem Verwandten ersten Grades mit Diabetes auf 15 %. Es stelle sich nun die Frage, ob man hier primärpräventiv ansetzen könne, um zu verhindern, dass eine Autoimmunität auftritt, so die Referentin.
Risikoscore erlaubt genauere Stratifizierung
Um solche Studien in der Allgemeinbevölkerung durchführen zu können, brauche es eine genauere Risikostratifizierung. Mithilfe eines genetischen Risikoscores (GRS), der an der prospektiven TEDDY-Kohorte getestet wurde, ließe sich das Ganze quantifizieren. Das Ergebnis: Kinder aus der Allgemeinbevölkerung mit einem hohen HLA-Risiko und einem GRS über 14,4 hatten ein Risiko > 10 %, bis zum Alter von sechs Jahren eine Inselautoimmunität zu entwickeln. "Das heißt, dass wir sogar in der Allgemeinbevölkerung nach der Geburt eine Hochrisikogruppe identifizieren können", betonte Ziegler. Das erlaube es erstmals, Primärpräventionsstudien in der Allgemeinbevölkerung durchzuführen.
Konkret wird das auf der GPPAD*-Plattform umgesetzt: Forschende identifizierten Neugeborene und junge Kinder mit einem erhöhten T1D-Risiko, indem sie sie auf 47 Einzelnukleotid-Polymorphismen testeten. Insgesamt nahmen mehr als 300.000 Neugeborene in verschiedenen europäischen Ländern teil. Die Auswertung ergab, dass 1,3 % ein gesteigertes T1D-Risiko aufwiesen, das 25-fach höher war als in der Durchschnittsbevölkerung. Diesen Kindern wird die Teilnahme an Primärpräventionsstudien angeboten.
Probiotikum verändert Mikrobiom drastisch
Eine Studie mit oralem Insulin zur Desensibilisierung läuft zurzeit, eine weitere, die SINT1A**-Studie, rekrutiert seit April 2021 Teilnehmer. Darin sollen die betroffenen Kinder täglich und bis zum ersten Lebensjahr das Probiotikum Bifidobacterium infantis zum potenziellen Verhindern einer Autoimmunität oder ein Placebo erhalten. Die Kinder werden bis zum 7. Lebensjahr weiter beobachtet, insgesamt wollen die Autoren mehr als 1.100 Teilnehmer einbeziehen. Studienendpunkte umfassen Inselautoimmunität, Zöliakie und Allergie. Bei B. infantis handelt es sich um einen aktiven Bakterienstamm, so die Expertin, der sich kolonisiert und das Mikrobiom drastisch verändert. Auch nach Absetzen der Therapie bleibt diese Veränderung eine Zeit lang erhalten.
Alter und Umwelteinflüsse als Risikofaktoren
Neben der Genetik spiele das Alter bei der Entwicklung des T1D eine entscheidende Rolle. So trete eine Inselautoimmunität in den ersten beiden Lebensjahren bei hohem genetischem Risiko viel häufiger auf als im späteren Leben. Auch Umweltfaktoren sind bedeutsam - unter anderem frühe Infektionen mit respiratorischen Viren. Verschiedene Studien deuten darauf hin, dass auch eine SARS-CoV2-Infektion die Häufigkeit von Diabetes beeinflussen könnte, schloss die Referentin.
* Global Platform for the Prevention of Autoimmune Diabetes
** Supplementation with B. Infantis for Mitigation of Type 1 Diabetes Autoimmunity
Quelle: Diabeteskongress 2022 (DDG) in Berlin und online; Session am 25.5.2022: Gestationsdiabetes und darüber hinaus; Vortrag: Genetische Prädisposition und Umweltfaktoren bei der Pathogenese des Typ-1-Diabetes
Diesen und weitere Artikel finden Sie in unserem Kongressdossier zum Diabeteskongress von springermedizin.de: https://go.sn.pub/cCJyvn
Empfehlungen zu CKD und Hypertonie.
Herz und Niere schützen - was geht, bitte umsetzen
Chronischen Nierenerkrankungen Einhalt gebieten und den Blutdruck senken - das sind nur zwei der vielen Ziele bei der Therapie von Diabetespatienten mit entsprechenden Begleiterkrankungen. In verschiedenen Leitlinien werden diese Punkte adressiert. Dr. Ludwig Merker, Diabetologie Neandertal in Erkrath, fasste in seinem Vortrag wichtige Aspekte der ESC- und KDIGO-Guidelines zusammen.
In den aktuellen "2021 ESC Guidelines on cardiovascular disease prevention in clinical practice" empfehlen die Autoren Patienten mit chronischer Nierenerkrankung (CKD) - mit und ohne Diabetes - ein geeignetes Screening auf atherosklerotisch-kardiovaskuläre Erkrankungen (ASCVD) und auf eine Progression einer Nierenerkrankung, inklusive Veränderungen bei der Albuminausscheidung. Für Menschen mit Diabetes und CKD spiele auch die Proteinzufuhr eine Rolle, erinnerte Dr. Ludwig Merker: So rät die "2020 KDIGO* Diabetes Management in CKD Guideline" zu einer Aufnahme von nur 0,8 g Protein/kg Körpergewicht/Tag.
Wenig Natrium, nicht rauchen und mediterran essen
Die KDIGO-Leitlinie empfiehlt eine Natriumaufnahme von < 2 g für Personen mit Diabetes und CKD. Die Evidenz für eine Senkung des Blutdrucks sei hoch, schwach falle sie für die Verringerung kardiovaskulärer Erkrankungen, des Schlaganfallrisikos und der Progression einer CKD aus. Zudem sollten Ärzte ihren Patienten dazu raten, mit dem Rauchen aufzuhören.
Die Empfehlung der ESC-Leitlinie in Bezug auf den Lebensstil falle etwas deutlicher aus: So raten die Experten unter anderem, sich gesund bzw. mediterran zu ernähren, gesättigte durch ungesättigte Fettsäuren zu ersetzen, den Salzkonsum zu reduzieren, eine pflanzliche Ernährung mit reichlich Fasern zu bevorzugen, den Alkoholkonsum auf maximal 100 g pro Woche zu beschränken und mindestens einmal pro Woche fettigen Fisch zu essen. Die Empfehlung für den Rauchstopp erscheint auch hier - und zwar unabhängig von dem Argument, dass dies zu einer Gewichtszunahme führen könnte. Denn: Eine Zunahme des Körpergewichts kann die Vorteile eines Nikotinverzichts in Bezug auf das ASCVD-Risiko nicht verringern.
Auch die körperliche Aktivität findet in beiden Leitlinien ihren Platz: Während die Experten in den KDIGO-Guidelines Patienten mit CKD zu einer moderat-intensiven Bewegung für 150 Minuten pro Woche raten (oder zumindest entsprechend der eigenen kardiovaskulären/physischen Toleranz), empfehlen die ESC-Leitlinien 150 bis 300 Minuten moderat-intensive oder 75-150 Minuten intensive körperliche Aktivität pro Woche. "Das was geht, bitte umsetzen", so Merker.
Therapieziele individuell definieren
In Bezug auf die glykämische Kontrolle sei ein HbA1c-Zielkorridor zwischen 6,5 % und 7,5 % empfehlenswert, allerding immer mit individualisierter Zielsetzung und Therapie. Die Blutdruckzielwerte liegen bei ≤ 120/80 mmHg aber: eine individuelle Anpassung an das Ausmaß der Proteinurie, Begleiterkrankungen und Therapiesicherheit sei erforderlich. Weiterhin sei das LDL-Cholesterin je nach Risiko zu senken und eine spezifische medikamentöse Therapie anzubieten. Wichtig: "Nein, Metformin schädigt nicht die Niere", betonte der Referent; beachten müsse man aber die eGFR-Werte, denn schon bei einer eGFR < 45 muss die Dosis reduziert werden. Liegt ein hohes Risiko bzw. eine klinisch relevante renale Erkrankung vor, sollen entsprechend der Nationalen Versorgungs-Leitlinie Typ-2-Diabetes nach individueller Bewertung und gemeinsamer Entscheidungsfindung z. B. Metformin plus SGLT-2-Hemmer oder GLP-1-Rezeptoragonisten zum Einsatz kommen. Regelmäßige Kontrollen von eGFR und Urin-Albumin-Creatinin-Ratio (UACR) seien empfehlenswert, schloss Merker.
* Kidney Disease: Improving Global Outcomes
Quelle: Diabeteskongress 2022 in Berlin und online; Session 26.5.22, Vortrag: Leitlinien zur Nephropathie und Hypertonie bei Diabetes mellitus