Infektionserkrankungen im palliativen Setting sind häufig und erfordern eine differenzierte Betrachtungsweise - insbesondere bei onkologischen Patienten. Dieser Artikel gibt einen Überblick über den Wissensstand sowie weitere Forschungsansätze, die dazu beitragen sollen, einen Konsens für das Management von Infektionen im Rahmen von fortgeschrittenen Krebserkrankungen zu entwickeln.
Rund 42 % der Patienten mit fortgeschrittenen Krebserkrankungen in der letzten Lebensphase entwickeln Infektionen [1]. Die Behandlung mit einer antimikrobiellen Therapie findet überwiegend in Akutkrankenhäusern statt. Enterobacteriaceae und Staphylococcus aureus sind hierbei die am häufigsten nachgewiesenen Erreger, Harn- und Atemwege stellen die häufigsten Infektionsherde dar. Die Entscheidung, ob Infektionen bei onkologischen Patienten in einem palliativen Krankheitsstadium behandelt werden sollen oder nicht, kann komplex sein und erfordert einen individuellen Ansatz.
Individuelle Therapiezieldefinition
Patienten im palliativen Setting leiden zumeist an klassischen Infektionskrankheiten wie einer Pneumonie oder einer Zystitis, hier sei auf die entsprechend gültigen aktuellen Leitlinien und deren Behandlungsempfehlungen verwiesen. Im klinischen Alltag gilt meist der Grundsatz "What gets measured, gets managed", weshalb man vor jeder Diagnostik das Therapieziel - und ob dieses realistisch erreicht werden kann - evaluieren sollte. Werden Therapieziele nicht formuliert und Handlungsentscheidungen erst nach umfassender Diagnostik getroffen, kann dies zu einer "road to nowhere" führen, in der das Therapieziel völlig aus den Augen gerät. Davon profitieren weder Patienten noch medizinisches Personal.
Auf einige Medikamente, die in anderen Phasen der Erkrankung sinnvoll waren, kann man in der Sterbephase naturgemäß verzichten. Hierzu gehören neben Antidepressiva, Antikoagulanzien, Chemotherapeutika oder anderen tumorspezifischen Medikamenten auch Diuretika, Insuline, Kardiaka, Kortikosteroide, Laxanzien, Sauerstoff, Blutprodukte sowie Antibiotika [2]. Hierbei ist jedoch zu betonen, dass der Terminus "palliativ" nicht automatisch mit "sterbend" gleichzusetzen ist und sowohl die Bedeutung als auch der Benefit einer frühen Integration von Palliative Care in führende Leitlinien Einzug gehalten haben [3, 4].
Einflussfaktoren des antimikrobiellen Therapieerfolgs
Die Indikation einer antimikrobiellen Therapie wird getroffen nach der Evaluation der Prognose des jeweiligen Patienten und einer möglichen reversiblen Ursache. Dass sich jemand im palliativen Setting befindet, bedeutet eben nicht einen Therapieverzicht auf allen Ebenen, sondern erfordert eine sorgfältige Betrachtung der Gesamtsituation. Dem gegenüber steht die Gefahr der Übertherapie. Eine Studie wies nach, dass 90 % der hospitalisierten Patienten mit fortgeschrittener Krebserkrankung eine Woche vor ihrem Tod antimikrobiell behandelt werden, wobei in einem Kollektiv von 3.884 Patienten nur 15 % dieser Patienten eine dokumentierte diagnostizierte Infektion hatten [5].
Grundsätzlich sollen bei allen Patienten mit einer Infektion zuerst der Schweregrad der Infektion und bestehende Komorbiditäten erfasst und dokumentiert werden. Ohne eine solche Erfassung und Dokumentation ist es nicht möglich, ein Therapieziel angemessen zu definieren. Eine Infektion kann zu einer drastischen Verschlechterung des Allgemeinzustandes (und ggf. der Prognose) führen, ohne dass die Prognose es rechtfertigt, von einem terminalen Ereignis zu sprechen. Ein wesentliches Element in der Entscheidungsfindung besteht folglich darin, die Komorbidität prognostisch adäquat einzuschätzen und diese Einschätzung von der Erhebung des Schweregrads der Infektion zu trennen.
Patientenautonomie als wesentliches Kriterium
Außerdem ist der Patientenwille zu berücksichtigen, denn die Betroffenen können zu jedem Zeitpunkt jegliche Therapie, auch ohne Angabe von Gründen, ablehnen. Insofern stellen Infektionserkrankungen für Patienten auch die Möglichkeit dar, lebensverlängernde Maßnahmen, was eine antimikrobielle Therapie durchaus darstellen kann, abzulehnen. Dies beinhaltet kommunikative Fertigkeiten sowie die Aufklärung von Patienten im Rahmen von Therapiezielen am Lebensende. Hier wird im klinischen Alltag zu selten das Gespräch gesucht.
Antimikrobielle Therapie zur Symptomlinderung
Metronidazol
Metronidazol kann bei geruchsbildenden Wunden sowohl lokal als auch systemisch angewendet werden. Systemisches Metronidazol wurde in einer sehr kleinen, randomisierten und kontrollierten Studie (n = 6) untersucht, die eine signifikante Geruchsreduktion nachwies (p < 0,01) [6]. Aufgrund des kleinen Patientenkollektivs und des hohen Risikos für Bias ist die Studie aber nicht als aussagekräftig zu bewerten [7].
Weitere kleine, deskriptive Fallberichte (n = 1-15) beschrieben eine Geruchsreduktion mit systemischem Metronidazol [8, 9, 10].
Erythromycin
Erythromycin wird wegen seines propulsiven Nebeneffektes zur raschen Entleerung des Magens zum Beispiel vor Notfallgastroskopien genutzt. Es existieren keine evidenzbasierten Empfehlungen für Patienten im palliativen Setting außerhalb dieser Indikation. Bei Gastroparese ist ein Therapieversuch möglich, falls andere Propulsiva wie Metoclopramid nicht effektiv sind.
Häufige Fallstricke bei Infektionserkrankungen
Beim Einsatz einer antimikrobiellen Therapie kann man über diverse Fallstricke stolpern. Dazu zählen einerseits Unterdosierung, Resistenzentwicklung und etwaige geringere Effektivität nach multiplen Gaben von gewissen Substanzklassen. Wesentlich im palliativen Setting ist es andererseits, die Linderung belastender Symptome in den Vordergrund zu stellen. Die kausale Therapie einer Infektion ist daher getrennt von der Symptomlinderung zu betrachten. Es gibt beispielsweise die evidenzbasierte Empfehlung, bei Patienten mit palliativem Therapieziel und Pneumonie Morphin zur symptomatischen Behandlung von Dyspnoe einzusetzen, wobei die Dosierung einschleichend erfolgen sollte [11].
Herausfordernd ist, dass Patienten im palliativen Setting aufgrund der malignen Erkrankung häufig erhöhte Werte des C-reaktiven Proteins (CRP) aufweisen und zusätzlich an Fatigue leiden, was eine Infektion verschleiern kann. Eine Möglichkeit, tumorbedingt erhöhte von infektbedingt erhöhten CRP-Werten zu unterscheiden, bietet der Laborparameter Procalcitonin als sogenannter Early-Sepsis-Parameter [12, 13]. Diese Möglichkeit steht jedoch eher für Patienten im Krankenhaus oder in stationären Einrichtungen offen und ist im niedergelassenen Bereich kaum praktikabel.
Für mobile Palliativteams oder im niedergelassenen Bereich tätige Ärzte besteht im Falle von Schluckschwierigkeiten die Option, gewisse antimikrobielle Therapien subkutan zu verabreichen. Eine Studie beschreibt die Möglichkeit, Ceftriaxon, Ertapenem oder Teicoplanin anzuwenden [14]. Für die subkutane Gabe existiert zwar noch wenig Evidenz und Erfahrung, sie kann sich aber lohnen, unter anderem, um potenziell vermeidbare Krankenhausaufenthalte zu reduzieren [15].
Insbesondere bei den sogenannten 4c-Antiinfektiva - nämlich bei Cephalosporinen, Clindamycin, Amoxicillin/Clavulansäure und Ciprofloxacin - ist an eine Störung der gastrointestinalen Flora und eine Selektion von Clostdridium difficile zu denken. Zudem ist zu berücksichtigen, dass eine Studie ein deutlich verringertes Überleben von Patienten mit nichtkleinzelligem Lungenkrebs, Melanom und anderen Tumorentitäten zeigte, sofern die Patienten vor Beginn einer Immuntherapie eine antimikrobielle Therapie erhalten hatten [16].
Im palliativen Setting sind Polypharmazie und etwaige Medikamenteninteraktionen stets zu berücksichtigen. Als Beispiel kann hier die Interaktion von serotonergen Substanzen wie Tramadol, rasch wirksamem Fentanyl, SSRI und Linezolid genannt werden. Das Reserveantibiotikum Linezolid hemmt den Serotoninabbau. Informationen zu den neuesten Entwicklungen zur strukturierten Dosisreduktion und Beendigung von Medikationen ohne Indikation finden Sie unter: www.deprescribing.org.
Das mögliche Auftreten eines nonkonvulsiven Status epilepticus unter Cephalosporinen der dritten und vierten Generation ist als weitere Komplikation zu bedenken, insbesondere bei eingeschränkter Nierenfunktion [17]. Als nonkonvulsiver Status werden nichtmotorische Anfallsleiden bezeichnet, deren Symptomatik sich vorwiegend in psychischen Beschwerden äußert, dazu zählen:
anhaltende Desorientiertheit,
Persönlichkeitsveränderungen,
geistige Retardierung sowie
Konzentrations- und Gedächtnisstörungen.
Fazit für die Praxis
Das Auftreten von Infektionserkrankungen im palliativen Setting von onkologischen Patienten ist häufig und die Behandlung stellt eine besondere Herausforderung dar. Aus klinisch-praktischer Sicht sind die wesentlichen Säulen der Entscheidungsfindung die Indikation für eine antimikrobielle Therapie, das Therapieziel, der Patientenwunsch sowie das Vermeiden unerwünschter Wirkungen und Interaktionen.
Univ. Prof. PD Dr. Dr. Eva Katharina Masel, MSc.
Klinische Abteilung für Palliativmedizin
Universitätsklinik für Innere Medizin I
Medizinische Universität Wien
Währinger Gürtel 18-20
1090 Wien, Österreich
eva.masel@meduniwien.ac.at
Historischer Exkurs.
Im Jahr 1900 lag die Kindersterblichkeit in Deutschland bei 20 %. Der Komponist Gustav Mahler, der von 1860 bis 1911 lebte, hatte 13 Geschwister, von denen sechs bereits im Kindesalter starben. Mahlers fünfjährige Tochter Maria (Putzi) verstarb tragischerweise an einer kombinierten Scharlach-Diphtherie-Infektion. Gustav Mahler selbst verstarb an den Folgen einer bakteriellen Endokarditis. Bedenkt man, dass der Brite Alexander Fleming das Penicillin im Jahr 1928 entdeckte und es 1942 als erstes Antibiotikum auf den Markt kam, wird einem - auch anhand der COVID-19-Pandemie - der rapide Fortschritt der medizinischen Forschung bewusst. Dennoch haben viele Pharmaunternehmen die Forschung an neuen antimikrobiellen Substanzen gestoppt. Viele Antibiotika wirken nicht mehr und eine solche Resistenzbildung kann gesundheitlich bedrohlich sein. Manche vergleichen die Gefahr von resistenten Keimen daher mit der Bedrohlichkeit des Klimawandels.
Literatur
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