Abstract
Tagebücher auf Intensivstationen werden meist von Familien und Pflegenden für Patient:innen mit Bewusstseinsstörungen geschrieben. In dem Tagebuch wird in laienverständlicher Sprache die Geschichte der Patient:innen anhand täglicher Berichte beschrieben. Patient:innen können später das Tagebuchbuch lesen und ihre Erfahrungen und Erlebnisse verarbeiten und ggf. anders bewerten. Intensivtagebücher senken die Risiken für psychosoziale Folgeschäden bei Patient:innen und Familien und sind mittlerweile weltweit verbreitet. Tagebücher haben unterschiedliche Zwecke und dienen auch der Kommunikation: Es werden Worte an eine Person geschrieben, die sie später hoffentlich lesen wird. Dies kann Familien darin unterstützen, verbunden zu bleiben und die Situation besser zu bewältigen. Gleichzeitig kann das Schreiben eines Tagebuchs auch von einigen Angehörigen und Pflegenden als Belastung empfunden werden, weil keine Zeit verfügbar ist oder es zu nahe scheint. Intensivtagebücher können als ein Mittel zur patienten- und familienzentrierten Versorgung genutzt werden.
Schlüsselwörter: Empathie, Familienzentrierte Versorgung, Post-Intensivbehandlungs-Syndrom, Bewältigung, Psychosoziale Unterstützung
Abstract
Diaries in intensive care units (ICU) are mostly written by families and nurses for patients with impaired consciousness. In the diary, the development of the patients is described in plain language by daily reports. Patients can read the diary later and process their experiences and, if necessary, reframe them differently. ICU diaries reduce the risks of psychosocial sequelae of patients and families and are now used worldwide. Diaries have different purposes and also serve as a communication tool: words are written to a person who will hopefully read them later. This can help families to stay connected and better cope with the situation. However, writing a diary can also be perceived as a burden by some relatives and nurses due to lack of time or because it seems to be too close. ICU diaries can serve as a tool for patient- and family-centered care.
Keywords: Coping, Family centered care, Postintensive care syndrome, Psychological adaptation, Psychosocial support
Hintergrund
Der Aufenthalt auf einer Intensivstation ist für viele Patient:innen eine existenzielle Erfahrung, die sie ihr Leben lang nicht vergessen werden. Trotz des allgemeinen Wechsels zu leichter bis fehlender Sedierung machen Patient:innen weiterhin Grenzerfahrungen zwischen Tod und Leben und erleben durch die lebensbedrohliche Erkrankung und invasiven Prozeduren Situationen zwischen Traum und Wirklichkeit [8]. Sie machen widersprüchliche, schwer zu verstehende Erfahrungen, wie Ängste und engmaschige Überwachungsprozeduren, fühlen sich gleichzeitig meist gut umsorgt und erleben doch auch Kommunikationsverluste [6]. Die Kommunikationsschwierigkeiten mit beatmeten Patient:innen sind wechselseitig und werden auch von Pflegenden berichtet [18]. Angehörige sind von einer kritischen Erkrankung ebenso mitbetroffen, erfahren sehr unterschiedliche Herausforderungen und weisen ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen auf; sie benötigen klare Informationen und eine verständliche Kommunikation [7, 13]. Eine Möglichkeit, die Kommunikation mit Patient:innen zu gestalten, sind Intensivtagebücher.
Intensivtagebücher
Intensivtagebücher sind Tagebücher, die von Angehörigen, Pflegenden und anderen Mitarbeiter:innen für Patient:innen während der kritischen Erkrankung geschrieben werden. Tagebücher sind eine Form der Kommunikation, die nicht wie Sprache unmittelbar geschieht, sondern langfristig ausgelegt ist und eher mit dem Briefeschreiben vergleichbar ist: Es wird jetzt ein Brief geschrieben und abgeschickt, den die andere Person einige Zeit später lesen wird. So kann eine Beziehung aufrechterhalten werden.
Das Konzept des Tagebuchs ist ähnlich: Patient:innen können das Tagebuch später lesen, wenn sie wieder kognitiv dazu in der Lage sind, um die Erinnerungslücken zu füllen, die Erfahrungen zu verstehen und zu lesen, was in anderen Menschen vor sich ging [1]. Intensivtagebücher wurden in Skandinavien in den 1980er-Jahren entwickelt [9] und sind mittlerweile weltweit verbreitet, etwa jede fünfte Intensivstation setzt diese patient:innen- und familienfreundliche Intervention um [5, 16, 17, 21, 23]. Der Schreibstil der Tagebücher ist einfach, laienverständlich und richtet sich direkt an die Patient:innen (siehe Beispiele in den Infoboxen 1–5).1 Inhaltlich werden meist die Geschichte und der Verlauf der Intensivversorgung beschrieben: Während Pflegende hier vor allem Interventionen und den Krankheitsverlauf beschreiben, nutzen Angehörige das Tagebuch für Berichte über ihre eigenen Eindrücke und Erfahrungen [24].
Infobox 1 Einträge für ein Intensivtagebuch – Beispiel 1
03.09.2021
Mein Liebster,
Du ahnst gar nicht, wie erschrocken ich war, als heute Mittag das Telefon klingelte und die Polizei dran war. Du bist im Krankenhaus! Und ich dachte, Du würdest nur mit dem Hund spazieren gehen, ich habe mich schon gefragt, wo Du bleibst. Ich bin dann gleich zu Dir gekommen und nun sitze ich an Deinem Bett und passe auf Dich auf. Die Schwestern waren so nett und haben mir dieses Tagebuch gegeben und gesagt, ich soll aufschreiben, was passiert ist. Ich weiß gar nicht, wo mir der Kopf steht und bin froh, dass ich schreiben kann.
Du bist mit Tobi spazieren gegangen und hast die große Runde gemacht. An der Straße bei den Müllers hat Dich ein Auto angefahren und Du bist in Müllers Garten gelandet. Die haben gleich den Notarzt gerufen und nun bist Du hier in der Uniklinik. Die Müllers haben sich um Tobi gekümmert, der hat ganz laut gejault, und dem Fahrer tut das alles schrecklich leid.
Auf jeden Fall haben Sie Dich ins Krankenhaus gebracht und erst einmal durchgecheckt. Du bist dann gleich operiert worden, die Lunge hat was abbekommen, der Kopf auch. Alle sagen, wir müssen abwarten, und das ist genau das, was ich am wenigsten kann.
Stefan und Sabine habe ich angerufen, die kommen auch nachher noch, aber für die Enkel ist das wohl noch zu früh, die können das ja gar nicht alles sehen. Ach, mein Knut, ich mache mir solche Sorgen um Dich, hier liegst Du nun mit all den Kabeln und in einem Koma, sagen sie. Ich soll gut mit Dir sprechen und Deine Hand halten und das tue ich doch sowieso. Ich bin hier und passe auf Dich auf!
Deine Doris
Infobox 2 Einträge für ein Intensivtagebuch – Beispiel 2
03.09.2021
Moin Herr Knutson,
mein Name ist Thomas, ich bin Fachkrankenpfleger und betreue Sie heute. Sie sind heute zu uns auf die Intensivstation gekommen. Sie hatten einen Unfall und wurden von einem PKW angefahren. Sie haben ein Schädel-Hirn-Trauma und verschiedene Knochenbrüche. Deswegen wurden Sie operiert und haben jetzt eine Art tiefe Dauernarkose, damit sich der Körper erholen kann und Sie sich nicht anstrengen müssen. Wir beobachten Sie dabei die ganze Zeit und haben Sie verkabelt, an den Monitor verbunden und zeichnen Ihre Vitalwerte auf. Ihre Werte sind stabil, aber Sie benötigen noch einige Medikamente zur Kreislaufunterstützung. Und nachher geht es nochmal ins CT, um den Kopf zu untersuchen.
Pfleger Thomas
Infobox 3 Einträge für ein Intensivtagebuch – Beispiel 3
03.09.2021
Guten Abend lieber Papa,
Mama hat uns angerufen und wir sind gleich ins Krankenhaus gekommen. Von dem Auto angefahren! Ich bin immer noch ganz zittrig und ich hoffe, Du kannst das irgendwann lesen. Die Ärzte sind sich nicht sicher, ob Du das alles wieder kannst, man muss noch abwarten. Auf jeden Fall siehst Du ziemlich verbeult aus und hast ganz viele blaue Flecken und Abschürfungen. Und die ganzen Maschinen! Es ist wirklich erschreckend und ich hoffe, dass Du das alles ganz schnell überlebst und dann wieder nach Hause kannst! Du musst doch mit Tobi spazieren gehen! Ich hab Dich lieb, Papa!
Infobox 4 Einträge für ein Intensivtagebuch – Beispiel 4
04.09.2021
Mein Liebster,
Du hast die Nacht gut überstanden und die Untersuchungen haben gezeigt, dass wohl noch Hoffnung besteht, zumindest hast Du keine schweren Verletzungen, haben sie gesagt. Die sind hier alle ganz nett, aber ich muss ständig raus und rein aus Deinem Zimmer, weil auch bei dem anderen Patienten viel zu tun ist. Das ist hier wie auf einem Bahnhof, rein und raus und ständig die Alarme und das Rufen. Vielleicht ganz gut, wenn Du schläfst! Zu Hause ist alles in Ordnung, ich bin mit Tobi spazieren gegangen, die Müllers haben sich gut um ihn gekümmert und er ist jetzt auch wieder bei ihnen. Ich habe Dir ein Bild auf den Tisch gestellt. Ich habe heute Nacht kein Auge zugemacht, so sehr habe ich mich um Dich gesorgt. Und ich habe Deinen Freunden Bescheid gegeben, ich soll Dich ganz lieb grüßen, aber sie kommen erst später. Und die Polizei hat angerufen und der Fahrer auch, es tut ihm leid und er wollte herkommen, aber das regt Dich nur auf und das ist besser so, wenn er nicht kommt.
Deine Doris
Infobox 5 Einträge für ein Intensivtagebuch – Beispiel 5
04./05.09.2021
Guten Abend Herr Knutson,
ich habe Sie heute Nacht betreut. Ihre Werte stabilisieren sich langsam aber Sie benötigen immer noch viele Schlafmittel, damit der Druck im Gehirn nicht steigt. Die Lunge wird langsam besser und die Werte der Beatmung auch. Wir haben in der Nacht das Licht gedimmt und Sie schön eingekuschelt, damit Sie gut schlafen können. Ich habe Sie gegrüßt von Ihrer Frau, die noch spät abends angerufen hat, aber ich weiß nicht, ob Sie das irgendwie wahrgenommen haben und vielleicht davon träumen?
Schlafen und träumen Sie gut!
Fachkrankenschwester Maria
Die Studienlage für den Nutzen von Intensivtagebüchern ist dynamisch. Eine Metaanalyse inkludierte 8 randomisierte kontrollierte Studien (RCT) und 2 kontrollierte Studien: Der Gebrauch von Intensivtagebüchern senkte in Vergleich zur üblichen Versorgung die Risiken für eine
posttraumatische Belastungsstörung (PTBS; 9 Studien, 1174 Patientinnen: Odds-Ratio [OR] = 0,69; 95%-Konfidenzintervall [95%-KI] 0,51–0,93; p = 0,01) bei homogener Studienlage (I2 = 0 %, p = 0,46),
Depression (6 Studien, 622 Patientinnen): OR = 0,56; 95%CI 0,37–0,85; p = 0,006 bei homogener Studienlage (I2 = 0 %, p = 0,49) sowie
nichtsignifikant für Angst (6 Studien, 622 Patientinnen): OR = 0,45; 95%CI 0,19–1,06; p = 0,07 bei heterogener Studienlage (I2 66 %, p = 0,01).
Die Autor:innen diskutieren die möglichen Auswirkungen von Tagebüchern auf die PTBS-Prävention und -Behandlung angesichts einer komplexen Situation mit bzw. ohne wahnhafte, erschreckende Erinnerungen, dem Einfluss sedierender, ggf. delirogen wirkender Medikamente, dem Lesen vs. Vermeiden eines Tagebuchs, Familienunterstützung, Kultur und dem Zeitpunkt des Lesens [29]. Bezüglich des Lesezeitpunkts konnten Tripathy et al. in einer randomisierten Studie mit 164 Patient:innen keine wesentlichen Unterschiede im Hinblick auf Angst, Depression und PTBS ermitteln, wenn das Tagebuch nach einem oder nach 3 Monaten gelesen wurde [30]. Eine weitere, im Jahr 2022 publizierte Metanalyse von 7 RCT konnte Effekte für PTBS, aber nicht für Angst oder Depression ermitteln [12].
Auch in Metasynthesen qualitativer Studien berichten die meisten Patient:innen von positiven Erfahrungen mit dem Tagebuch der Intensivstation, wie ein Verstehen des Erlebten, Verstehen des Genesungsprozesses, Kohärenz von Alpträumen, Bedeutung der Anwesenheit von Familie sowie eine Humanisierung von Gesundheitsfachkräften [4].
Bei Angehörigen ist die Evidenz widersprüchlich. Eine Metaanalyse konnte keine Effekte durch das Schreiben von Tagebüchern im Hinblick auf Angst, Depression und PTBS belegen [3]. In qualitativen Berichten und Metasynthesen wurde belegt, dass Angehörige vom Schreiben profitieren können. Es wurde
von einem effektiven Coping berichtet, da das Tagebuchschreiben den Angehörigen half mit ihren Emotionen umzugehen und diese im Tagebuch abzulegen;
von einer Selbstwirksamkeit, da die Angehörigen selbst durch das Tagebuchschreiben handeln und eine Aufgabe für den Patienten übernehmen konnten;
einer chronologischen Geschichte, da das Aufschreiben eine Geschichte zu formen ermöglicht und zum Verständnis der Situation beitragen kann [28].
Kritisch ist anzumerken, dass die Umsetzung von Tagebüchern eher heterogen erfolgt und eine Diskussion über mögliche Schäden der Intervention, wie die Stimulierung erschreckender Erinnerungen, Rückblenden oder emotionale Störungen, noch aussteht [31].
Mitarbeiter:innen schreiben Tagebücher aus vielfältigen Gründen, unter anderem um
zu dokumentieren, was während einer kritischen Krankheit passiert ist,
mögliche erschreckende Erfahrungen zu erklären,
PTBS zu verhindern oder
Pflege und Pflegetätigkeiten zu erklären und zu reflektieren [10, 27] und
den Patienten als individuelle Person anzusprechen [2, 10, 23, 25].
Tagebücher stellen damit eine Möglichkeit dar, Patient:innen über die organzentrierte Versorgung hinaus als individuelle Person anzusprechen und somit zu einer Humanisierung der Intensivversorgung beizutragen [11, 14, 20].
Das Tagebuch zur Kommunikation
Intensivtagebücher werden aus vielfältigen Gründen geschrieben und können auch zur Kommunikation genutzt werden. Es wird heute in dem Wissen geschrieben, dass Patient:innen das Geschriebene erst viel später lesen werden. Angehörige schreiben Tagebucheinträge, um mit Patient:innen in Verbindung zu bleiben, um die Geschehnisse zu erklären [22] oder auch als Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft, wenn Patienten versterben und sie das Geschehene bewältigen müssen [15]. Gerade in der Krise durch die Coronaviruserkrankung 2019 (COVID-19) wurde durch die Besuchsrestriktionen deutlich, dass die Gegenwart der Familie essenziell ist [19, 26]. Hier können Intensivtagebücher eine wichtige Rolle spielen.
Stimmen aus der pflegerischen Praxis
In Gesprächen mit Pflegefachpersonen einer neurochirurgischen und einer konservativen Intensivstation, auf denen das Schreiben der Tagebücher nicht routinemäßig, sondern von den Pflegefachpersonen individuell gestartet wird, stellte sich eine heterogene Einstellung zur Praxis des Schreibens dar.
„Kürzlich habe ich eine sehr junge Patientin aufgenommen. Sie war erst 19 Jahre alt und bekam im Verlauf eine Aspirationspneumonie und musste beatmet werden, Katecholamine, Sedierung … das ganze Programm halt. Ich hatte das Gefühl, ich möchte weiter mit ihr sprechen. Ihr die Dinge erklären, warum sie die ersten Tage ‚schlief‘ und was in der Zeit mit ihr geschehen ist. Mir hilft das, die Beziehung zwischen mir und der Patientin aufrecht zu erhalten. Es gibt dann nicht so einen Bruch zwischen eben noch miteinander gesprochen und dann nicht mehr.“
Eine andere Intensivfachpflegende berichtet über einen ebenfalls jungen Patienten mit einem schweren Verlauf einer COVID-19-Infektion.
„Ja, der kam wach und nicht invasiv beatmet auf Station, aber dann wurde er innerhalb von Stunden sehr schnell schwer krank, erst Bauchlage dann ECMO, Nierenersatztherapie … alles. Der kann doch später gar nicht nachvollziehen oder verstehen, was da passiert ist. Wir haben für ihn viel geschrieben und haben auch mit Einverständnis seiner Eltern Fotos von den Geräten gemacht, damit er später sieht, was das heißt, die ganzen Schläuche, Infusionen, Beatmung … Ich habe in dem Moment des Schreibens wirklich das Gefühl, dazu beizutragen, dass er das irgendwann begreifen und mit dieser Zeit abschließen kann.“
In den Gesprächen stellte sich heraus, dass das Schreiben von Intensivtagebüchern als ein Kontinuum in der Beziehungsgestaltung empfunden wird. Somit kann einem potenziellen Bedürfnis der Patient:innen nach Erklärungen einer Lebenssituation begegnet werden, das Tagebuchschreiben kann aber auch der pflegenden Fachperson Unterstützung in einer primär einseitig verschobenen Kommunikationssituation bieten.
Allerdings gibt es auch Pflegefachpersonen, die das Schreiben von Intensivtagebüchern vermeiden und dies nicht als positive, sondern eher als emotional herausfordernde Situation erleben.
„Mir ist das irgendwie zu dicht. Gerade bei jungen Patienten, die vielleicht in meinem Alter sind, kleine Kinder haben und einen Partner oder Partnerin oder Eltern, die völlig fassungslos am Bett stehen, ne, ich sehe mich da auch ein Stück selber und … ich weiß nicht … mir ist das zu persönlich. Ich kann für mich besser emotionalen Anstand halten, wenn ich nicht schreibe. Natürlich gehe ich meiner Arbeit mit viel Empathie nach, aber ich brauche einen gewissen Abstand, sonst nehme ich das mit nach Hause. Kann man ja eh bei einigen Fällen nicht vermeiden.“
Diese heterogene Einstellung scheint auch in manchen Fällen auf die Angehörigen zuzutreffen. So berichtet eine Intensivpflegende, dass der Vater eines Patienten selber nicht schreiben wollte oder vielleicht auch nicht konnte.
„Er sagte, ihm fehlen die Worte. Die Situation war für ihn im wahrsten Sinne unbeschreiblich. Aber er hat, wenn er da war, im Tagebuch gelesen und bekam das Gefühl, auf einer anderen Ebene als im klassischen Angehörigengespräch informiert und mitgenommen zu sein. Ich denke, das tat ihm gut.“
Viele Angehörige nehmen das Intensivtagebuch aber wie auch die Pflegenden selbst als Möglichkeit der Kommunikation und als Chronik der Ereignisse wahr. So können auch scheinbar kleine Veränderungen, „… heute hast Du das erste Mal die Augen für kurze Zeit aufgemacht“, dokumentiert und später gemeinsam erinnert und eingeordnet werden. Das Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit, so berichten die Pflegenden, kann durch die Aktivität des Schreibens für die Angehörigen gelindert werden.
Pflegende schildern berührende Momente, wenn, wie im Fall des jungen COVID-19-Patienten, die Tagebücher teilweise noch auf der Intensivstation von den Adressaten selbst gelesen werden.
„Ich weiß gar nicht, inwieweit er alles verstanden hat, aber ich konnte sehen, wie er anfing zu begreifen, was er durchgemacht hat. Die Bilder von der ECMO haben ihm bewusst gemacht, wie ernst die Situation war, da war er schon schockiert. Aber er konnte auch bei dem Bild vom ersten Sitzen an der Bettkante lächeln.“
Das Lesen oder Vorlesen von Tagebüchern noch auf der Intensivstation ist ein Angebot, das an einige, aber nicht an alle Patient:innen gerichtet wird. Einige Pflegende berichten von guten Erfahrungen. Durch ihre Präsenz können Dinge oder Situationen direkt er- oder geklärt werden.
„Bei manchen denke ich aber auch, es ist zu früh, die müssen erst mal physisch, kognitiv und mental gesünder und stärker werden. Aber wir sagen ihnen bei der Verlegung ja immer, dass sie sich, egal wie viel später, bei uns melden können, wenn sie Fragen haben.“
Klare Regeln des Schreibens für alle Beteiligten wurden als unabdingbar gefordert. So werden keine fachlich („… die OP gestern lief nicht so gut“) oder persönlich („… heute waren sie echt schlecht drauf“) bewertende Aussagen formuliert.
Eine Stationsleitung berichtet, dass es durchaus vorkommt, dass auch Angehörige sehr persönlich über betreuende Pflegefachpersonen schreiben: „Heute ist wieder Schwester XY da, unmöglich, die fasst Dich immer so grob an, völlig daneben …“ Sie betont, dass die Regeln bezüglich des Schreibens von Intensivtagebüchern für alle Beteiligten, die in und an dem Tagebuch schreiben, gelten müssen.
„Wir wissen, dass Angehörige in einer emotionalen Ausnahmesituation sind, aber so sollte ein gemeinsames und bis zum Zeitpunkt der Übergabe öffentlich einsehbares Tagebucheintragschreiben nicht gestaltet werden.“
Aus ihrer Sicht ist es hilfreich, die gültigen „Schreibregeln“ beim Start des Intensivtagebuchs zu erklären und einen Konsens zu finden. Überhaupt werden schon vorformulierte einleitende Worte, gegebenenfalls über die Station und den Zweck eines Intensivtagebuches, sowie eine kurze Legende, vielleicht mit ergänzenden Fotos von Geräten und Drainagen, als hilfreich empfunden.
„Ich muss dann nicht noch einen langen Text schreiben wieso, wie und warum ich oder wir das Tagebuch schreiben oder im Text auch noch die Geräte erklären. Ich kann mich dann auf den individuellen Text konzentrieren, das spart Zeit und erhöht meine Bereitschaft zu schreiben.“
Die Stimmen aus der pflegerischen Praxis zeigen unterschiedliche Haltungen gegenüber dem Schreiben des Tagebuchs, das als Hilfe in der empathischen Kommunikation, als Dialog mit Patient:innen und sich selbst oder auch als Belastung erlebt werden kann. Es ist in jedem Fall auch ein Mittel zur Reflexion der eigenen Professionalität.
Fazit für die Praxis
Die Intensivtagebücher werden von den meisten Pflegefachpersonen als unterstützend für die Patient:innen und deren Angehörigen eingeordnet. Auch die Vorteile eines adjuvanten Wegs der Kommunikation werden beschrieben.
Das Interesse an dem Thema ist groß, gepaart mit der Einstellung, dass das Schreiben eines Intensivtagebuchs für niemanden ein „Muss“ sein sollte, sondern ein einladendes Angebot an alle ist.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
S. Krotsetis, T.-M. Deffner und P. Nydahl geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Footnotes
Die Einträge sind in Anlehnung an reale Einträge von Dr. T. Deffner und Dr. P. Nydahl geschrieben, aber so sehr verändert, dass ein Bezug zu den realen Personen nicht mehr möglich ist. Quelle: www.intensivtagebuch.de
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