Für die zunehmende Zahl von an Long- bzw. Post-Covid-Syndrom Erkrankten fehlen bisher im Bereich der westlichen Medizin spezifische Therapiestrategien. Konzepte der chinesischen Arzneimitteltherapie, die sich bereits bei der Behandlung postinfektiöser Syndrome, z. B. nach Epstein-Barr-Virus(EBV)-Infektionen, bewährt haben, können effektiv für die Therapie von Long‑/Post-Covid-Syndromen modifiziert werden. In dieser Arbeit werden Konzepte für die häufigsten Symptomkomplexe diskutiert, unter besonderer Berücksichtigung spezieller Formen von Covid-19-Folgezuständen wie Fatigue-Syndromen. Zu deren Behandlung wird das Therapiekonzept für eine Disharmonie des kleinen Yang (Shaoyang) mit Variationen des „kleinen Bupleurum-Dekokts“ (Xiao Chaihu Tang) vorgestellt.
Therapieoptionen bei Post-Covid-Syndrom
Die unter Long-Covid- bzw. Post-Covid-Syndrom zusammengefassten Krankheitssymptome, welche nach einer SARS-CoV-2-Infektion persistieren oder neu auftreten [1], können ebenso nach Covid-19-Erkrankungen wie nach symptomarmen oder blanden Infektionen mit den bekannten Varianten von SARS-CoV‑2 auftreten. Bei erheblich schwankenden Häufigkeitsangaben sind vermutlich 10–20 % der Infizierten betroffen [2] und auch geimpfte Personen sind nicht ausgenommen. Der bisher ungeklärten Pathogenese entsprechend stehen der naturwissenschaftlichen Medizin spezifische Therapieoptionen noch nicht zur Verfügung.
Die auftretenden Störungen halten teilweise mehrere Monate an
Zu den häufigsten Beschwerden zählen Schwächezustände, respiratorische, psychoemotionale Störungen sowie kognitive und sensorische Defizite. Seltenere Komplikationen sind Endotheliitis, embolische Prozesse und Vaskulitiden. Die auftretenden Störungen halten teilweise mehrere Monate an.
Angesichts des mittlerweile verbesserten Impfstatus der Bevölkerung und generell milderer Covid-19-Verläufe der seit Frühjahr 2022 dominierenden Omikron-Infektionen tritt die Problematik von Long‑/Post-Covid-Erkrankungen zunehmend in den Vordergrund. Deshalb wird der Schwerpunkt dieser Arbeit auf der Erörterung von Therapieoptionen mit chinesischer Arzneitherapie bei Folgezuständen von SARS-CoV-2-Infektionen liegen.
Covid-19 aus Sicht der chinesischen Medizin – Delta- und Omikron-Varianten
Mit den nunmehr dominierenden Omikron-Varianten und dem Umstand, dass mittlerweile die Mehrheit der Bevölkerung bei uns gegen Corona-Viren geimpft ist, werden veränderte Symptomkonstellationen und Krankheitsverläufe beobachtet.
2.1 Pathogene Faktoren, Krankheitsmuster und Symptomatik
Die in der Regel milder als zuvor verlaufenden Infektionen mit den Omikron-Varianten sind meist durch Symptome gekennzeichnet, wie sie von Affektionen durch äußere Wind-Hitze bzw. äußere Wind-Kälte bekannt sind.
Bei den aktuell selteneren schweren Verläufen ist die Symptomatik der Betroffenen weiterhin gekennzeichnet von einer Affektion des Inneren durch epidemisches Nässe-Toxisches mit den daraus folgenden Blockaden der Transport- und Transformationsfunktionen der Mitte und des Zang Lunge.
2.2 Pathophysiologie (Traditionelle Chinesische Medizin, TCM) möglicher Residuen während des postakuten Krankheitsverlaufs
Qi-Defizite der Funktionskreise Lunge und Milz sowie Störungen der Transport- und Transformationsfunktion des Qi können als Folge der Affektion durch Nässe-Pathogene und Akkumulationen von Nässe und Schleim im Rahmen einer Covid-19-Erkrankung persistieren, nicht selten begleitet von Blockaden der Sinnesöffnungen durch Schleim, die an diversen kognitiven Defiziten beteiligt sind.
Blut-Stasen können während der Akuterkrankung oder postinfektiös entstehen und zu verschiedenen Gefäß- und Entzündungskomplikationen führen.
Toxische Stagnation mit Hitze, die sich während der Akuterkrankung in schweren Fällen entwickelt, kann zu anhaltendem Säfte-Verlust und Yin-Defizit führen.
Schwere Krankheitsverläufe können generell in ein Defizit der Yin- bzw. Yang-Aspekte des Funktionskreises Niere münden.
Long bzw. Post-Covid – Krankheitsmuster in der chinesischen Medizin (CM)
In der Rekonvaleszenzphase nach einer SARS-CoV-2-Infektion sind vor allem folgende Symptomkomplexe von Bedeutung:
respiratorische Störungen wie (Belastungs‑)Dyspnoe und Husten,
psychophysische Schwächezustände, u. a. Chronic-Fatigue-Syndrome (CFS) – depressive Episoden, Unruhezustände, Angststörungen,
neurologische Störungen, kognitive und sensorische Defizite,
Gefäßerkrankungen wie Apoplexien, Thromboembolien und Vaskulitiden [4].
Die nach den Kriterien der CM dabei vorwiegend auftretenden Krankheitsmuster sind Folgende:
3.1 Qi-Defizit der Funktionskreise (FK) Lunge und Milz
Symptomatik:
Spontane Atemnot bzw. Kurzatmigkeit bei leichten Anstrengungen, persistierender Husten, Tagschweiße, Müdigkeit und Schwäche, Schweregefühl, Antriebsarmut
Zunge: blass, gedunsen, Pulse: leer, evtl. kurz
Arzneitherapie:
Bei Defizit des Lungen-Qi, besonders bei älteren Menschen mit begleitendem Säftedefizit kann das „Dekokt zur Stützung des FK Lunge“ (Bufei Tang) als Grundrezeptur dienen:
Ginseng Rx (Renshen)
Astragali Rx (Huangqi)
Rehmanniae Rx praeparata (Shudihuang)
Schisandrae Fr (Wuweizi)
Asteris Rx (Ziwan)
Mori Cx (Sangbaipi)
Für ein Qi-Defizit der FK Milz und Lunge sind Variationen folgender Rezeptur angezeigt: „Dekokt der 6 Edlen“ (Liu Junzi Tang):
Ginseng Rx (Renshen) bzw. Codonopsis Rx (Dangshen)
Atractylodis macrocephalae Rhiz (Baizhu)
Poria (Fuling)
Glycyrrhizae Rx (Gancao)
Citri reticulatae pericarpium (Chenpi)
Pinelliae Rhiz (Banxia)
Diese Rezeptur eignet sich auch zur Behandlung einer begleitenden Nässe-Symptomatik, evtl. ergänzt durch weitere Nässe umwandelnde und kanalisierende Arzneien.
Alternativ kann das „Pulver mit Ginseng, Poria und Atractylodis macrocephalae“ (Shenling Baizhu San) verwendet bzw. modifiziert werden:
Ginseng Rx (Renshen)
Atractylodis macrocephalae Rhiz (Baizhu)
Poria (Fuling)
Glycyrrhizae Rx (Gancao)
Dioscoreae Rhiz (Shanyao)
Lablab semen (Biandou)
Nelumbinis Sm (Lianzi)
Coicis Sm (Yiyiren)
Amomi xanthioidis Fr (Sharen)
Platycodi Rx (Jiegeng)
3.2 Gleichzeitiges Qi- und Yin-Defizit
Symptomatik:
Kurzatmigkeit und Schwäche, Müdigkeit
Trockener (Reiz‑)Husten sowie weitere Trockenheitszeichen, evtl. subfebrile Temperaturen bei gerötetem, trockenem Zungenkörper
Arzneitherapie:
Bei dominierendem Yin-Defizit sind Modifikationen des „Glehnia- und Ophiopogonis-Dekokts“ (Shashen Maidong Tang) geeignet:
Glehniae Rx (Beishashen)
Ophiopogonis Rx (Maimendong)
Polygonati odorati Rhiz (Yuzhu)
Mori Fol (Sangye)
Trichosanthis Rx (Tianhuafen)
Lablab Sm (Biandou)
Glycyrrhizae Rx (Gancao)
Wenn zusätzlich Zeichen eines Qi-Defizits bestehen, kann die Rezeptur modifiziert und mit Qi ergänzenden Arzneien aus Abschn. 3.1 kombiniert werden.
Cave
Kontraindikation für Trichosanthis Rx (Tianhuafen) bei Frauen im gebärfähigen Alter!
Modifikationen:
Bei Säfte-Defizit: mit Panacis quinquefolii Rx (Xiyangshen), Adenophorae Rx (Nanshashen), Schisandrae Fr (Wuweizi)
Bei starkem Husten ohne Expektorat: mit Armeniacae Sm (Xingren), Stemonae Rx (Baibu), Asteris Rx (Ziwan)
3.3 Schleim blockiert den Funktionskreis Lunge
Die Pathogenese postinfektiös persistierender Schleim-Befunde folgt in der Regel folgenden Wegen:
Blockaden der Qi-Transformation in der Mitte und der Transportfunktion des Lungen-Qi führen zu Kälte-Schleim.
Das Eintrocknen von Säften durch einen Hitze-Prozess während der akuten Covid-19-Erkrankung führt zu Hitze-Schleim.
Arzneitherapie bei Kälte-Schleim:
Symptome:
Husten mit Auswurf (farblos), evtl. mit Atemnot, thorakales Druck- bzw. Engegefühl, Verschlimmerung im Liegen
Zunge geschwollen und blass mit feuchtem weißen Belag
Basisrezeptur zur Stützung und Harmonisierung der Mitte sowie zur Umwandlung und Eliminierung von Schleim:
„Dekokt der 6 Edlen“ (Liu Junzi Tang, s. Abschn. 3.1)
Modifikationen:
Bei starkem Husten und Schleimauswurf mit Armeniacae Sm (Xingren), Platycodi Rx (Jiegeng), Magnoliae Cx (Houpo)
Zur Hustenstillung, Schleimlösung und Lösung von Verdauungsblockaden – besonders bei älteren Erkrankten – mit dem „Dekokt der 3 Samen zur Erhaltung der Eltern“ (San Zi Yang Qin Tang): Perillae Fr (Zisuzi), Sinapis albae Sm (Baijiezi), Raphani Sm (Laifuzi)
Arzneitherapie von Hitze-Schleim:
Symptome:
Dyspnoe, thorakales Druckgefühl, Husten mit gelbem bzw. gelb-grünem, zähem Expektorat
Zunge gerötet mit gelbem Belag
Zur Hustenstillung und Lösung des Schleim-Befundes durch Kühlung und Befeuchtung der Säfte kann das „Pulver mit Fritillaria und Trichosanthes“ (Beimu Gualou San) als Basis dienen:
Fritillariae cirrhosae Bulb (Chuanbeimu)
Trichosanthis Fr (Gualou)
Trichosanthis Rx (Tianhuafen)
Poria (Fuling)
Citri reticulatae pericarpium (Chenpi)
Platycodi Rx (Jiegeng)
Cave
Trichosanthis Rx (Tianhuafen) bei Frauen im gebärfähigen Alter kontraindiziert.
Modifikation:
Starker Hustenreiz: mit Armeniacae Sm (Xingren), Eriobotryae Fol (Pipaye)
Alternatives Therapieprinzip zur Lösung des Schleim-Befunds: Kombination von Kühlen und Befeuchten mit der Umwandlung des Schleims durch scharfe Arzneien:
„Pille, die das Qi klärt und Schleim transformiert“ (Qingqi Huatan Wan):
Pinelliae Rhiz (Banxia)
Citri reticulatae pericarpium (Chenpi)
Poria (Fuling)
Glycyrrhizae Rx (Gancao)
Scutellariae Rx (Huangqin)
Trichosanthis Sm (Gualouren)
Arisaematis Rhiz (Tiannanxing)
Armeniacae Sm (Xingren)
Aurantii Fr immaturus (Zhishi)
Zingiberis Rhiz recens (Shengjiang)
Modifikationen:
Zur Hustenstillung mit Platycodi Rx (Jiegeng), Eriobotryae Fol (Pipaye)
Zur verstärkten Lösung zähen gelben Schleims mit Fritillariae thunbergii Bulb (Zhebeimu)
3.3.1 Störungen des Sensoriums und kognitive Defizite
Rezente Störungen der Sinneswahrnehmungen werden in der chinesischen Medizin meist als Ansammlung von Nässe bzw. Schleim interpretiert, durch welche die Sinnesöffnungen blockiert werden. Wenn z. B. ein zugrunde liegendes Qi-Defizit mit dem „Dekokt der 6 Edlen“ (Liu Junzi Tang, s. 3.1) behandelt wird, kann die Rezeptur durch Arzneien zur Umwandlung der Nässe-Störung wie Acori Rhiz (Shichangpu), Agastachis Hb (Huoxiang) sowie Arzneimittel zur Klärung des Sensoriums wie Polygalae Rx (Yuanzhi) und Polygoni multiflori Cl (Yejiaoteng) ergänzt werden. Im Falle von Xue-Stasen kann bei dieser Problematik Curcumae longae Tb (Yujin) hilfreich sein.
Kognitive Defizite wie Denk- und Konzentrationsstörungen und Wortfindungsstörungen können ebenfalls als Akkumulation trüben Schleims interpretiert und behandelt werden.
3.4 Blut- bzw. Xue-Stase
Bei Gefäßkomplikationen, jedoch auch bei restriktiven Ventilationsstörungen während oder nach einer SARS-CoV-2-Infektion können Blut-Stasen eine wichtige Rolle spielen und unter Umständen zusätzlich zu den o. g. Störungen auftreten.
Symptome:
Belastungsdyspnoe, thorakales Druckgefühl
Livide Verfärbungen der Zunge bzw. gestaute Unterzungenvenen, rauer Puls
Kognitive Defizite können als Akkumulation trüben Schleims interpretiert und behandelt werden
Arzneitherapie zur Lösung von Xue-Stasen, zur Befreiung des energetischen Flusses im Brustraum und zur Klärung entzündlicher Prozesse – Modifikationen von:
„Stasen aus der Versammlungshalle des Xue vertreibendes Dekokt“ (Xuefu Zhuyu Tang)
Persicae Sm (Taoren)
Carthami Fl (Honghua)
Angelicae sinensis Rx (Danggui)
Chuanxiong Rhiz (Chuanxiong)
Paeoniae Rx rubra (Chishaoyao)
Achyranthis bidentatae Rx (Niuxi)
Bupleuri Rx (Chaihu)
Platycodi Rx (Jiegeng)
Aurantii Fr (Zhike)
Rehmanniae Rx (Shengdihuang)
Glycyrrhizae Rx (Gancao)
Cave
In der Schwangerschaft kontraindiziert.
Modifikationen:
Zur akzentuierten Lösung von Xue-Stasen u. a. im Thorax mit Salviae miltiorrhizae Rx (Danshen), Corydalidis Rhiz (Yanhusuo), Curcumae longae Tub (Yujin), Olibanum (Ruxiang)
Zur Erleichterung der Qi-Zirkulation im Thorax evtl. in Kombination mit dem „Dekokt mit Trichosanthis fructus, Allii bulbus und Pinelliae rhizoma“ (Gualou Xiebai Banxia Tang): Trichosanthis Fr (Gualou), Allii macrostemonis Bulb (Xiebai), Pinelliae Rhiz (Banxia)
Zur Lösung von thorakaler Qi-Stagnation und Xue-Stasen alternativ oder in Kombination mit dem „Salvia-Trank“ (Danshen Yin): Salviae miltiorrhizae Rx (Danshen), Amomi xanthioidis Fr (Sharen), Santali albi lignum (Tanxiang)
Schwäche, Müdigkeit und Chronic Fatigue Syndrome (CFS)
Eine Reihe von Betroffenen leidet nach SARS-CoV-2-Infektion noch an Beschwerden, die vom Chronic Fatigue Syndrome (CFS/bzw. ME/CFS – Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome) bekannt sind [3, 5, 7, 8,10]. Bei bisher nicht geklärter Pathogenese der Krankheit entwickelt sie sich oft nach Virusinfektionen, ist als Multisystemerkrankung anzusehen und durch neuroimmunologische Dysregulation und Störungen des Energiestoffwechsels gekennzeichnet.
Besonders häufig nach SARS-CoV-2-Infektionen geschilderte CFS-Symptome sind (entsprechend dem „Canadian Consensus Document“ [9]):
Psychoemotionale Erschöpfung bzw. Erschöpfbarkeit: konstant erniedrigtes Energieniveau, plötzliche Schwächeattacken, die z. T. durch physische, kognitive bzw. emotionale Belastungen getriggert werden – charakteristisch dabei: Ausmaß und Dauer der Erschöpfung (oft auch die Verschlimmerung weiterer Symptome) sind deutlich gravierender, als es der jeweilige Trigger normalerweise erwarten ließe (PENE – „post-exertional neuroimmune exhaustion“ bzw. PEM – „post-exertional malaise“)
Gestörter Schlaf-Wach-Rhythmus mit Müdigkeit am Tage und nächtlichen Schlafstörungen
Antriebsarmut, depressive Symptomatik, Unruhezustände
Vegetative Symptomatik wie Herz-Kreislauf-Dysregulation, Störungen der Verdauung, des Appetits, der Schweißsekretion und des Temperaturempfindens
Gelenk- und Muskelschmerzen, neu aufgetretene Kopfschmerzen
Neurologische Störungen: kognitiv-emotionale Überlastung und sensorische Defizite
Immunologische Manifestationen: rezidivierende Infektsymptomatik, Intoleranzreaktionen
4.1 Diagnostische Aspekte der Symptomatik eines postinfektiösen ME/CFS nach den Kriterien der chinesischen Medizin
An ME/CFS Erkrankte leiden unter einer Reihe von typischen Symptomen, die durch die klassischen Muster der Konstellationen Qi-Defizit, Blockade der Mitte, des FK Lunge und des Sensoriums durch Nässe bzw. Schleim nicht adäquat beschrieben werden:
PENE/PEM (s. oben): Die Erschöpfung nach kognitiver, emotionaler bzw. physischer Anstrengung ist bei den Betroffenen oft so plötzlich, gravierend und langanhaltend, dass sie der üblichen Charakteristik eines Schwächezustands bei defizienten aktiven Energien (Qi) nicht entspricht. Vielmehr ähnelt der Verlauf den abrupten Wechseln von Symptomen, wie sie von einer Disharmonie im kleinen Yang (Shaoyang im Sinne des „Shanghanlun – Abhandlung über Erkrankungen durch Kälte“/Zhang Zhongjing, 2. Jh.) bekannt sind.
Die neurokognitiven Störungen wie Konzentrationsstörungen, Gefühl, benebelt zu sein, etc., die oft als Brain Fog bezeichnet werden, treten typischerweise im Rahmen von Anstrengungen jeglicher Art auf. Die üblicherweise bei Nässe- und Schleim-Störungen die Symptomatik lindernde Dynamik wirkt also hier verschlimmernd und weist ebenfalls auf eine Regulationsstörung hin.
Die von an ME/CFS Erkrankten geschilderte vegetative Symptomatik wie Störungen gastrointestinaler Funktionen, der Schweißsekretion und des Temperaturempfindens tritt ebenfalls häufig bei einer Störung im Shaoyang auf.
Auch Personen mit chronifizierten Epstein-Barr-Virus(EBV)-Infektionen leiden oft unter vergleichbaren Symptomen. Dementsprechend gilt eine EBV-Infektion als häufiger Auslöser für ME/CFS-Erkrankungen. Nach diversen eigenen erfolgreichen Behandlungsverläufen bei chronisch Kranken mit EBV-Infektionen lag es nahe, das Behandlungskonzept einer Harmonisierung des Shaoyang auch bei ME/CFS-Erkrankten im Rahmen von Post-Covid anzuwenden.
4.2 Verwendung des „kleinen Bupleurum-Dekokts“ (Xiao Chaihu Tang) bei ME/CFS nach Infektionen mit dem Corona-Virus
Disharmonie des Yang minor (kleines Yang, Shaoyang):
Schon im „Inneren Klassiker des Gelben Fürsten“ (Huangdi Neijing) wurde als Voraussetzung der harmonischen Funktion des öffnenden (großes Yang, Taiyang) und schließenden (Überstrahlung des Yang, Yangming) Prinzips die besondere Bedeutung der angelpunktartigen Funktion des kleinen Yang (Shaoyang) betont. Eine Störung im Shaoyang kann einerseits die Harmonisierung zwischen dem Inneren und Äußeren im Organismus und andererseits die Regulation des Aufsteigens des klaren Qi und des Absenkens des Trüben behindern. Eingedrungene Pathogene können nicht effektiv eliminiert werden. Die häufig resultierende Symptomatik ist gekennzeichnet durch Dysregulation von Wärme und Kälte (plötzlich wechselndes Temperaturempfinden, bitterer Mundgeschmack, Halstrockenheit), durch blockierte bzw. geschwächte Funktionen der Mitte (Appetitverlust, Völlegefühl, Übelkeit, evtl. Schwäche, Antriebslosigkeit) und durch gestörte Transformation von Flüssigkeiten mit Akkumulation von Schleim bzw. Nässe (Schwindel, feuchter Zungenbelag) sowie durch Stagnationen des Qi (Spannungsgefühle, saitenförmiger Puls). Charakteristisch für dieses Krankheitsmuster sind die oft abrupten Wechsel der Symptomatik.
In diesen Fällen ist die in der „Abhandlung über schädigende Kälte“ (Shanghan Lun) erstmals genannte Rezeptur „kleines Bupleurum-Dekokt“ (Xiao Chaihu Tang) angezeigt:
Bupleuri Rx (Chaihu)
Scutellariae Rx (Huangqin)
Pinelliae Rhiz (Banxia)
Zingiberis Rhiz recens (Shengjiang)
Ginseng Rx (Renshen)
Glycyrrhizae Rx (Gancao)
Jujubae Fr (Dazao)
Anmerkungen:
Ginseng Rx (Renshen) wird häufig ersetzt durch Codonopsis Rx (Dangshen).
Die Rezeptur wird im Ursprungstext zwar zunächst im Kontext verschiedener Stadien des Verlaufs einer Erkrankung durch Kälte-Pathogene (Han) angegeben, doch hat sich der Umfang der möglichen Indikationen seitdem erheblich erweitert, insbesondere bei Erkrankungen, die mit plötzlichem Symptom-Shift und Funktionsstörungen des Energie- und Temperaturhaushalts einhergehen.
Die Post-Covid-Schwäche-Symptomatik zeigt auffällige Ähnlichkeiten zu Verläufen nach EBV-Infektionen
Die bei Post-Covid-Patienten häufig auftretende Schwäche-Symptomatik zeigt auffällige Ähnlichkeiten zu ME/CFS-Verläufen nach Infektionen mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV; [3, 5, 8]). In einer kleinen Studie bei Personen mit Post-Covid-Symptomen fanden sich bei Antikörper-Screenings signifikant häufig Hinweise auf klinisch relevante Co-Infektionen von SARS-CoV‑2 und EBV [6]. Diese mögliche Assoziation und die auffällige Ähnlichkeit der jeweiligen postinfektiösen ME/CFS-Symptomatik legen es nahe, den bei der Therapie chronisch Erkrankter nach EBV-Infektionen bewährten Ansatz der Harmonisierung des Shaoyang auch bei an Post-Covid-Syndrom Leidenden anzuwenden.
Bei der Anwendung des „kleinen Bupleurum-Dekokts“ ist zu beachten, dass vorübergehend eine mäßig ausgeprägte, an einen akuten Infekt erinnernde Symptomatik (z. B. subfebrile Temperaturen, Hitzeempfinden, Schnupfen, Schleimhusten) auftreten kann, was als Begleiterscheinung der Elimination des pathologischen Prozesses anzusehen ist und mit einer Verbesserung des Allgemeinzustands und der Kraftreserven einhergeht.
In Erweiterung der Angaben im Ursprungstext kann eine Shaoyang-Störung auch längere Zeit nach dem ursprünglichen Infektereignis noch eine Rolle spielen und erfolgversprechend mit Modifikationen des „kleinen Bupleurum-Dekokts“ behandelt werden.
Auswahl möglicher Modifikationen der Rezeptur bei Post-Covid-Symptomatik:
Bei Dyspnoe bzw. thorakalem Druckgefühl mit Trichosanthis Fr (Gualou), Platycodi Rx (Jiegeng)
Bei Schleimhusten mit Magnoliae Cx (Houpo), Belamcandae Rhiz (Shegan) oder Platycodi Rx (Jiegeng), Trichosanthis Fr (Gualou), Fritillariae thunbergii Bulb (Zhebeimu)
Bei trockenem Husten mit Schisandrae Fr (Wuweizi), Fritillariae cirrhosae Bulb (Chuanbeimu), Armeniacae Sm (Xingren)
Bei Nässe-Symptomatik mit Magnoliae Cx (Houpo), Atractylodis Rhiz (Cangzhu), Poria (Fuling)
Bei Halsschmerzen mit Lonicerae Fl (Jinyinhua), Forsythiae Fr (Lianqiao)
Bei sensorischen Defiziten und mentalen Störungen mit Acori graminei Rhiz (Shichangpu), Agastachis Hb (Huoxiang), Polygalae Rx (Yuanzhi), Polygoni multiflori Cl (Yejiaoteng)
Bei Anzeichen für Xue-Stasen siehe Abschnitt „Xue-Stasen“
Das beschriebene Therapiekonzept hat sich nach Erfahrungen des Autors als ähnlich hocheffektiv erwiesen wie bei Fatigue-Syndromen im Rahmen chronischer Infektionen mit dem Epstein-Barr-Virus.
4.3 Entscheidungskriterien für die Anwendung des „kleinen Bupleurum-Dekokts“ bei Long‑/Post-Covid-Erkrankungen
Empfehlenswert bei:
Neu aufgetretener ME/CFS-Symptomatik nach gesicherten oder vermuteten SARS-CoV-2-Infektionen
Hinweisen auf eine vorbestehende Infektion mit EBV
Auftreten typischer Symptome einer Störung des Shaoyang
Auffälliger Wechselhaftigkeit von Symptomatik und bzw. Temperaturempfinden
Plötzlichem Auftreten von psychophysischen Erschöpfungssymptomen („Crash“, PENE)
Relative bzw. absolute Kontraindikationen:
Vorsicht bei Erkrankten mit arteriellem Hypertonus und Kopfschmerzen durch emporschlagendes Leber-Yang.
Kontraindikation: „falsche Hitze“ bei Yang-Defizit im FK Niere mit wechselndem Temperaturempfinden bei verlangsamten und erschöpften, untergetauchten oder oberflächlichen Pulsen
Vorsicht bei Erkrankten mit gravierendem Yin-Defizit wegen der Möglichkeit eines emporlodernden Feuers
Schlussbemerkung
Die chinesische Medizin kann für die zunehmende Zahl von an Long und Post-Covid Erkrankten mit respiratorischen Symptomen, mit sensorisch-mentalen Defiziten sowie an Chronic-Fatigue-Syndrom (ME/CFS) Leidenden, für die im Bereich der etablierten westlichen Medizin spezifische Therapieansätze bisher nicht verfügbar sind, sehr effektive Behandlungskonzepte bereitstellen.
Dr. med. Christian Thede
(geb. 1960), Arzt für Allgemeinmedizin, Praxis für Chinesische Medizin seit 1993, Dozent für Chinesische Medizin bei der SMS, ehemaliger Dozent der Ärztekammer Hamburg sowie ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Witten-Herdecke, Mitglied im Prüfungsausschuss Akupunktur der Ärztekammer Schleswig-Holstein, Mitautor des Buches Leitfaden Chinesische Rezepturen.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
C. Thede gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Footnotes
Dieser Artikel wurde genderneutral verfasst.
Literatur
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