Abstract
Die Kneipp-Therapie umfasst die fünf naturheilkundlichen Elemente Wasser, Bewegung, Ernährung, Heilkräuter und Lebensordnung. Als traditionelles Verfahren hat sie sich in der Selbstbehandlung zu Hause bewährt, sie wird als ganzheitliches Therapiekonzept aber auch im ärztlich-internistischen Praxisalltag vielfach sowohl zur Prävention als auch zur Therapie von Funktionsstörungen und bei der Behandlung organischer Erkrankungen und Leiden angewendet. Während naturheilkundliche und komplementärmedizinische Verfahren in der Bevölkerung und in der Ärzteschaft eine hohe Akzeptanz erfahren und gerade die Bewegungs- und Ernährungstherapie bereits zu großen Teilen in die konventionelle Medizin integriert ist, stellt die Implementierung evidenzbasierter Medizin (EbM) in der internistischen Praxis jedoch für die Kneipp-Therapie eine große Herausforderung dar. Dies gilt besonders auch für die Kneippsche Hydrotherapie. Anders als in den 1980er- und 1990er-Jahren, in denen die Kneipp-Therapie aufgrund zahlreicher präklinischer, humanphysiologischer sowie einiger klinischer Studien als wissenschaftlich galt, ergibt sich aus dem Perspektivenwechsel in der Medizin hin zu EbM ein Forschungsdefizit im Bereich klinischer Studien. Der Forderung nach wissenschaftlichen Belegen für die Wirksamkeit stehen ein Mangel an belastbaren Daten und eine insgesamt heterogene Studienlage bzw. Studienqualität gegenüber. Bereits vorliegende Studien weisen jedoch auf positive oder signifikante Effekte hin, sodass weitere Forschungsaktivitäten unbedingt erforderlich sind. Einige dieser Studien werden in diesem Beitrag dargelegt.
Schlüsselwörter: Kneipp-Prävention, Hydrotherapie, Gesundheitsförderung, Klassische Naturheilverfahren, Evidenzbasierte Medizin
Abstract
Kneipp therapy comprises the five naturopathic elements of water, exercise, nutrition, medicinal herbs and order of life. As a traditional method, it has been proven in self-treatment at home, but as a holistic therapy concept it is also used in many medical practices both for the prevention and therapy of functional disorders and in the treatment of organic diseases and ailments. While naturopathic and complementary medical procedures are highly accepted by the population and the medical profession, and exercise and nutrition therapy in particular are already largely integrated into conventional medicine, the implementation of evidence-based medicine (EbM) in internal medicine practice represents a major challenge for Kneipp therapy. This is especially true for Kneipp hydrotherapy. Unlike in the 1980s and 1990s, when Kneipp therapy was scientifically recognized due to numerous preclinical, human physiological and some clinical studies, the change of perspective in medicine towards EbM has resulted in a research deficit in the field of clinical trials. The demand for scientific evidence is contrasted by a lack of reliable data and an overall heterogeneous study situation or study quality; however, existing studies point to positive or significant effects, so that further research activities are urgently necessary. Some of these studies are presented in this article.
Keywords: Kneipp prevention & control, Hydrotherapy, Health promotion, Naturopathy, Evidence-based medicine
Die Kneipp-Therapie ist heute im deutschen Gesundheitswesen fest verankert. Zu ihren fünf Wirkprinzipien zählen
Temperaturreize durch Wasseranwendungen,
gesunde Bewegung,
vollwertige und pflanzenbasierte Ernährung,
Heilung durch Kräuter sowie
ein geordneter Lebensrhythmus.
Gerade Bewegung und Ernährung sind durch Studien wissenschaftlich gut begründet und gehören inzwischen auch in der konventionellen Behandlung zum Standard, insbesondere zur Vorbeugung und Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und anderen Zivilisationsleiden sowie Atemwegsinfekten. Historisch betrachtet ist es aber besonders die Hydrotherapie, die das Konzept gegenüber anderen ganzheitlichen Gesundheitskonzepten der heutigen Zeit so einzigartig macht, hinzu kommen die hervorgehobene Bedeutung der Pflanzenheilkunde und der Ordnungstherapie. Viele Schulmediziner*innen setzen Kneipp-Anwendungen komplementär ein; Kneipp-Verfahren wie die Hydro‑, Bewegungs- oder Ernährungstherapie gehören auch in zahlreichen Rehabilitations- und Kureinrichtungen zum Kanon der Regelversorgung1.
Insbesondere hinsichtlich der Kneippschen Hydrotherapie besteht Forschungsbedarf
Erfreulicherweise sind Forschungsaktivitäten in diesem Bereich in den letzten Jahren sukzessiv angestiegen und zeigen deutliche Hinweise auf die Wirksamkeit. Ebenso hat das Interesse an praktischen Anwendungen von Kneipp-Therapie-basierten naturheilkundlichen Strategien in unterschiedlichsten Altersklassen, Lebenswelten und Settings zugenommen. Dennoch fehlt es nach wie vor an ausreichend belastbaren Daten, und es gibt bislang so gut wie keine Forschungsförderung vonseiten der öffentlichen Hand. Besonders unzureichend erforscht ist die Kneippsche Hydrotherapie, die als Reiz- bzw. Regulationstherapie bei zahlreichen Indikationen eingesetzt wird. Zum Behandlungsspektrum gehören akute und chronische Erkrankungen, die Stärkung des Immunsystems, aber auch die Abhärtung gegen Stress und Erhöhung der Resilienz sowie im Allgemeinen die Verbesserung der Lebensqualität. Aktuell wird von verschiedenen Forscherteams untersucht, ob naturheilkundliche Therapieansätze auch bei Long-COVID (COVID „coronavirus disease“) hilfreich sein können.
Sebastian Kneipp – Namensgeber der Kneipp-Therapie
Sebastian Kneipp (1821–1897; Abb. 1) wurde weltweit als „Wasserdoktor“ bekannt und berühmt, jedoch hat er schon zu Lebzeiten ein umfassendes naturheilkundliches Therapiekonzept weiterentwickelt, das heute der traditionellen europäischen Medizin (TEM) zugeordnet wird. Untergliedert in die fünf Elemente Hydrotherapie, Bewegungstherapie, Ernährungstherapie, Phytotherapie und Ordnungstherapie reicht das Behandlungsspektrum der Kneipp-Therapie von der Prävention und Behandlung gesundheitlicher Beschwerden bis hin zur ergänzenden Therapie schwerer Erkrankungen. Gerade im Angesicht zunehmender Zivilisationskrankheiten und Multimorbidität bei älteren Menschen kommt ihr nicht nur aus medizinischer, sondern auch aus ökonomischer Sicht eine wichtige Rolle in der Gesundheitsversorgung zu. Gleichzeitig wünschen sich rund drei Viertel der Bevölkerung laut repräsentativen Umfragen eine ärztliche Versorgung, die auch naturheilkundliche und komplementärmedizinische Methoden einbezieht.

Die Errungenschaften des bayerischen Priesters und Laienheilers Sebastian Kneipp wurden im Jubiläumsjahr „Kneipp 2021“ bundesweit gewürdigt. Im Jahr 2022 feiert der Kneipp-Bund e. V. nun sein 125-jähriges Bestehen. Gegründet wurde der Bundesverband für Gesundheitsförderung und Prävention im Jahr 1897 kurz nach Kneipps Tod. Unter dem Dachverband des Kneipp-Bunds existieren heute in Deutschland rund 500 Kneipp-Vereine und 700 zertifizierte Einrichtungen (Kindertagesstätten, Schulen, Seniorenheime, Kur- und Badebetriebe, Gästehäuser; [1]). Rund 200.000 Menschen kommen so regelmäßig mit dem Kneippschen Gesundheitskonzept in Berührung. Im Dezember 2015 wurde das „Kneippen – traditionelles Wissen und Praxis nach der Lehre Sebastian Kneipps“ von der Deutschen UNESCO-Kommission in das „Bundesweite Verzeichnis Immaterielles Kulturerbe“ aufgenommen [2].
Ausgangspunkt von Kneipps intensiver Auseinandersetzung mit der Naturheilkunde und einer ganzheitlich orientierten Lebensweise waren seine eigenen Erfahrungen: Als der 28-jährige Theologiestudent an einer schweren Lungenerkrankung, vermutlich Lungentuberkulose, erkrankte, stieß er bei eigenen Recherchen in der Universitätsbibliothek auf ein kleines Büchlein von Johann Siegmund Hahn (1696–1773) über die Heilkraft und Wirkung des frischen Wassers [3]. Daraufhin unternahm Kneipp mehrmals wöchentlich kurze Tauchbäder in der winterkalten Donau und setzte die Wasseranwendungen zu Hause mit Bädern und Güssen fort – mit positivem Heilerfolg.
Über viele Jahre eignete sich Kneipp ein fundiertes Wissen über Gesundheit und Krankheit an
Über viele Jahre hinweg eignete er sich anschließend ein fundiertes Wissen über Gesundheit und Krankheit mit ihren Symptomen an und behandelte erfolgreich Menschen, die an Cholera und Tuberkulose erkrankt waren. Stets betonte er die Wichtigkeit ausreichender körperlicher Betätigung, einer einfachen und natürlichen Kost und geordneten Lebensführung. Neben den Wasseranwendungen setzte Kneipp bevorzugt Heilpflanzen zur Prävention und Therapie bei hilfesuchenden Mitmenschen ein. Mit der Einführung der Kurierfreiheit in Bayern arbeitete Kneipp ab den 1880er-Jahren verstärkt mit der Ärzteschaft zusammen und legte so das wissenschaftliche Fundament für die Fortführung seiner Arbeit. Seine Erfahrungen fasste er in mehreren Werken zusammen; das berühmteste Buch, Meine Wasserkur [4], erschien 1886 und wurde zusammen mit dem Buch So sollt ihr leben [5] innerhalb kürzester Zeit als Bestseller in vierzehn Sprachen übersetzt.
Positive Effekte der Kneippschen Hydrotherapie
Eine Forschergruppe der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München legte im Oktober 2020 eine Übersichtsarbeit vor, die die Ergebnisse klinischer Studien im Zeitraum 2000–2019 zu den Effekten der Kneipp-Therapie zusammenfasst [6]. Die systematische Übersichtsarbeit bestätigt, dass es für die positive Wirksamkeit der kneippschen Hydrotherapie allein oder in Kombination mit anderen Elementen bei zahlreichen Symptomen in verschiedenen Patientenkollektiven wissenschaftliche Belege gibt. Einschränkend ist anzumerken, dass bei der Literaturrecherche nahezu jede Art von Studie berücksichtigt wurde, unabhängig davon, ob veröffentlicht oder nicht, ob kontrolliert oder unkontrolliert. Gemäß standardisierten Qualitätskriterien nach dem Quality Assessment Tool for Quantitative Studies des Effective Public Health Practice Project (EPHPP-QAT; [7]) galten 3 Studien als „stark“, 13 als „moderat“ und 9 als „schwach“. Neun der insgesamt 25 eingeschlossenen Quellen, darunter 14 kontrollierte und davon wiederum 13 randomisierte Studien mit Kontrollgruppendesign, berichteten zum Teil signifikante Veränderungen nach Kneipp-Therapie im Gruppenvergleich bei chronisch-venöser Insuffizienz, Hypertonie, leichter Herzinsuffizienz, menopausalen Beschwerden und Schlafstörungen sowie in Bezug auf verbesserte Immunparameter bei gesunden Probanden. Vier weitere randomisierte, kontrollierte Studien (RCT) zeigten im Hinblick auf Depression und Angst bei Patientinnen mit Mammakarzinom und klimakterischen Beschwerden sowie in Bezug auf die Lebensqualität bei Postpoliosyndrom, erkrankungsbedingte polyneuropathische Beschwerden und die Inzidenz von Erkältungsepisoden bei Kindern keine signifikanten Gruppenunterschiede. Elf weitere, aber unkontrolliert durchgeführte Studien berichteten Verbesserungen bei allergischen Symptomen, Dyspepsie, Lebensqualität, Herzratenvariabilität, Infekten, Hypertonie, Wohlbefinden, Schmerz und polyneuropathischen Beschwerden.
Das LMU-Forscherteam empfiehlt in seinem Fazit, dass bei zukünftigen Studien stärker auf eine methodisch sorgfältige Studienplanung geachtet werden sollte, um zuverlässigere Aussagen zu ermöglichen.
Kurz vor der Finalisierung und Einreichung bei einem Peer-Review-Journal steht eine aktuelle Übersichtsarbeit speziell zur Kneippschen Hydrotherapie. Verfasst wird die Arbeit von Forscher*innen des Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charité – Universitätsmedizin Berlin gemeinsam mit Kollegen der Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin, Evang. Kliniken Essen-Mitte (KEM), und des Instituts für Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung der Technischen Universität (TU) München. Diese Studie wurde anlässlich des 200. Geburtstags von Sebastian Kneipp im Jahr 2021 initiiert und vom Bundesgesundheitsministerium im Rahmen des Jubiläumsjahrs „Kneipp 2021“ gefördert. Die qualitativ hochwertige Übersichtsarbeit schließt RCT zur Prävention und Therapie ein; die Ergebnisse werden voraussichtlich noch 2022 veröffentlicht2.
Geringere Infektanfälligkeit bei Kindern
Die Wirkung hydrotherapeutischer Kneipp-Armgüsse (Abb. 2) auf sekretorisches Immunglobulin A (sIgA) und klassische Erkältungssymptome sowie die Durchführbarkeit dieses Verfahrens bei Kindern im Alter von 3 bis 6 Jahren untersuchte eine 2021 veröffentlichte nichtrandomisierte, kontrollierte, explorative klinische Mixed-methods-Pilotstudie der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Es konnte eine geringere Anfälligkeit für Infektionen des Atemtrakts durch kneippsche Hydrotherapie bei 30 Kindern im Alter von 3 bis 6 Jahren identifiziert werden [8]. Eine weitere nichtrandomisierte, kontrollierte, explorative klinische Mixed-methods-Studie mit 38 Kindern im Alter von 3 bis 6 Jahren zur Wirkung der Kaltwasserhydrotherapie auf die Immunstimulation wies eine Reduzierung von Fehltagen in Kindertagesstätten bei der Interventionsgruppe über die Interventionszeit nach [9]. Die Kaltwasserhydrostimulation nach Kneipp reduzierte in der Interventionsgruppe insgesamt die Fehltage im Kindergarten. Infektionen der unteren Atemwege traten seltener auf.

Einfluss serieller Kaltwasserreize bei chronisch-obstruktiver Lungenerkrankung
Patient*innen mit chronisch-obstruktiver Lungenerkrankung (COPD) leiden häufig unter Erkrankungsverschlimmerungen, die durch Infektionen der Bronchien verursacht werden. Eine prospektive, kontrollierte klinische Studie der Universität Jena aus dem Jahr 2007 untersuchte die Wirkung serieller Kaltwasserreize (Kneippscher Oberguss) auf die Lungenfunktion, die Immunabwehr und die Lebensqualität von Erwachsenen mit chronisch-obstruktiver Bronchitis (COPD). Hierfür wurden 20 Patient*nnen mit COPD (17 Männer, 3 Frauen) in einem Durchschnittsalter von 64 Jahren eingeschlossen. Sie erhielten eine 10-wöchige Behandlung mit 3 kalten Güssen und 2 kalten Waschungen des oberen Teils des Körpers (Eigenbehandlung) je Woche. Gemessen wurden die Parameter Lungenfunktion, Blutgase, Routinelabor, Experimentallabor (Interleukine, Lymphozyten), maximaler exspiratorischer Fluss („peak expiratory flow“ [PEF]), Lebensqualität und Infektionen der Atemwege. Die Infektionshäufigkeit war während der Nachsorge niedriger als vor und während der Therapie. Die Lebensqualität nach der Behandlung wurde bei allen Teilnehmenden als gut eingeschätzt. (Abb. 3). Fazit der Studie war, dass wiederholte Kältereize (Güsse) die Häufigkeit von Atemwegsinfekten günstig beeinflussen und das subjektive Wohlbefinden verbessern können, da sie eine immunologische Antwort verursachen [10].

Hydrotherapeutische Thermalbehandlung bei chronischer Herzinsuffizienz
Dass die Thermalhydrotherapie die Lebensqualität und die hämodynamische Funktion bei Patient*innen mit chronischer Herzinsuffizienz verbessert, zeigte eine Studie aus dem Jahr 2003 [11]. Sie hat bestätigt, dass eine nichtpharmakologische periphere Vasodilatation mit thermischer Therapie mittels Warmwasserbädern und Sauna positive Effekte bei chronischer Herzinsuffizienz hat und die Lebensqualität verbessert. Die zusätzlichen kurzen seriellen Kaltwasserreize der Kneippschen Hydrotherapie führten zu verlängerter Gefäßerweiterung und Anpassungsreaktionen. Untersucht wurden 15 Patient*innen (5 Männer, 10 Frauen, Durchschnittsalter 64,3 Jahre) mit leichter chronischer Herzinsuffizienz, die randomisiert einer 6‑wöchigen intensiven Hydrotherapie zu Hause oder einer 6‑wöchigen Restriktion in einer Cross-over-Interventionsstudie zugeteilt wurden. Lebensqualität und herzinsuffizienzbezogene Symptome wurden mithilfe eines validierten Fragebogens erhoben. Das hydrotherapeutische Programm bestand in einer strukturierten Kombination täglicher äußerlicher Warm- und Kaltwasseranwendungen zu Hause.
Mit Hydrotherapie wurden eine signifikante Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit und der Stimmung sowie eine signifikante Verringerung der mit Herzinsuffizienz verbundenen Symptome festgestellt. Die Herzfrequenzen im Ruhezustand und bei 50-Watt-Belastung wurden durch die Hydrotherapie signifikant gesenkt. Die hydrotherapeutische Behandlung wurde gut angenommen und es wurden keine relevanten Nebenwirkungen beobachtet.
Kneipp-Pflegestudie zeigt: Anwendungen sind Zuwendungen
Eine vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) geförderte Studie des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP) in Kooperation mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin und dem Kneipp-Bund e. V. im Zeitraum 2010–2015 zeigte, dass Kneipp-Anwendungen und Naturheilkunde in der Pflege sinnvoll sind und von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen zunehmend nachgefragt werden. Untersucht wurden in einer Langzeitbeobachtung Aspekte der Gesundheit und Lebensqualität von Bewohner*innen bzw. Aspekte der Gesundheit, Lebensqualität und Arbeitssituation des Pflegepersonals in den Senioreneinrichtungen. Nachgewiesen wurde die Wirksamkeit von naturheilkundlichen Pflegekonzepten anhand eines Vergleichs von zertifizierten Kneipp-Pflegeeinrichtungen mit Pflegeheimen ohne Kneipp-Angebot. Die Studie hat gezeigt, dass sich Naturheilverfahren gut in den Pflege-Alltag integrieren lassen und sich auch positiv auf die Gesundheit von Pflegebedürftigen und Pflegenden auswirken können (Abb. 4 und 5). So wurden in den an der Studie beteiligten Kneipp-Seniorenheimen weniger Bedarfsmedikamente eingesetzt als in Einrichtungen ohne Kneipp-Angebot. Das herausfordernde Verhalten demenzkranker Bewohner*innen ließ sich durch die Anwendung naturheilkundlicher Verfahren reduzieren, was wiederum für das Pflegepersonal eine Entlastung bedeutete. In beiden Vergleichsgruppen zeigte sich, dass sich das persönliche Wohlbefinden und damit die Lebensqualität der Bewohner*innen mit einer höheren Anzahl pflegerischer Anwendungen im Monat verbesserten [12].


Kneipp-Kur-Kohortenstudie mit 1-Jahres-Follow-up – Auswirkungen einer standardisierten Komplextherapie auf Schmerz, Lebensqualität und Medikamentenverbrauch
Eine gut standardisierte Komplextherapie („Kneipp-Kur“) kann möglicherweise eine mindestens ein Jahr anhaltende Langzeitwirkung hinsichtlich Schmerz, Lebensqualität und Medikamentenverbrauch haben. Dies zeigte eine prospektive Kohortenstudie aus dem Jahr 1999 mit insgesamt 6 definierten Zeitpunkten zu Beginn, während und am Ende der Kur sowie mit 3 schriftlichen Follow-ups 3, 6 und 12 Monate nach Ende der Kur [13]. Durchgeführt wurde die Studie mit 363 Patienten (248 ambulant, 115 stationär, etwa zur Hälfte im Alter zwischen 40 und 60 Jahren, zur Hälfte über 60 Jahre, überwiegend mit Erkrankungen des Bewegungssystems und/oder des Herz-Kreislauf-Systems) in 4 Badearztpraxen in Bad Wörishofen. Die Intervention erfolgte in Form einer individuell adaptierten Therapiekombination aus den Komponenten Hydro‑, Bewegungs‑, Phyto‑, Ernährungs- und Ordnungstherapie sowie, soweit erforderlich, Fortsetzung der erkrankungsspezifischen medikamentösen Behandlung (Abb. 6).

Die Bedeutung einzelner Komponenten ist bei Betrachtung eines komplexen Therapiekonzepts sekundär
Die erhobenen Parameter zum Schmerzausmaß, mehrere Aspekte der subjektiven Befindlichkeit und der Medikamentenverbrauch besserten sich im Kurverlauf signifikant und blieben über den Nachbeobachtungszeitraum auf diesem Niveau. Die Studie kam zu dem Schluss, dass für die Beurteilung der klinischen Relevanz einer komplexen Therapiemaßnahme wie einer 3‑ bis 4‑wöchigen Kur die Frage nach der Bedeutung des spezifischen Effekts einzelner Komponenten sekundär ist; im Vordergrund steht die Frage nach der Relevanz des gesamten Therapiekonzepts. Die vorgelegten Ergebnisse wiesen auf eine möglicherweise mindestens 1 Jahr anhaltende Langzeitwirkung hin [13].
Medizin-Nobelpreis 2021: Entdeckungen von Temperatur- und Berührungsrezeptoren
Schon Sebastian Kneipp wusste, wie lebenswichtig es für uns Menschen ist, Wärme, Kälte und Berührungen zu spüren. Pünktlich zu seinem 200. Geburtstag erhielten im Jahr 2021 zwei Wissenschaftler den Medizin-Nobelpreis für ihre Entdeckung, wie unser Nervensystem Wärme, Kälte und mechanische Reize wahrnimmt. Der US-amerikanische Sinnesphysiologe David Julius nutzte das aus Chilischoten gewonnene Alkaloid Capsaicin, das zu den schärfsten Substanzen zählt, um einen Sensor in den Nervenenden der Haut zu identifizieren, der auf Hitze reagiert. Ardem Patapoutian, ein libanesisch-amerikanischer Molekularbiologe und Neurowissenschaftler, verwendete druckempfindliche Zellen, um eine neue Klasse von Sensoren zu entdecken. Diese reagieren auf mechanische Reize in der Haut und in den inneren Organen. Die beiden Preisträger identifizierten damit entscheidende Lücken in unserem Verständnis des komplexen Zusammenspiels zwischen unseren Sinnen und der Umwelt. In Bezug auf die Kneipp-Therapie verbesserten die beiden Preisträger mit ihrer Entdeckung unser Verständnis, wie Reizübermittlung auf unserer Haut stattfindet und wie unser Organismus auf Kneipp-Anwendungen reagiert [14].
Resümee
Während in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Kneipp-Therapie als wissenschaftlich gut untersucht galt, sind nach heutiger Sichtweise im Sinne der evidenzbasierten Medizin (EbM) deutlich mehr klinische Studien an Patient*innen notwendig. Trotz des gestiegenen Interesses an Forschungstätigkeiten besteht besonders in Bezug auf die kneippsche Hydrotherapie erheblicher Nachholbedarf. Nach wie vor ungeklärt bleibt beispielsweise die Frage, wie lange eine Wasserkur bei verschiedenen Erkrankungen angewendet werden sollte, um effektiv zu wirken, und wie häufig die Anwendungen fortgesetzt werden müssen, um einen Erfolg herbeizuführen. Wünschenswert wäre auch eine Studie, die das Zusammenwirken der fünf kneippschen Elemente in einer Langzeitstudie untersucht. Das Potenzial der Kneipp-Kur bei Post-COVID-Betroffenen ist dabei ein wesentlicher und aktuell dringlicher Aspekt.
Dagegen liegen in den Bereichen Ernährungs‑, Bewegungs- und Ordnungstherapie schon wesentliche wissenschaftliche Erkenntnisse vor. Es gilt heute als belegt, dass die seelische Gesundheit und der Faktor Resilienz eine wichtige Rolle bei der Gesunderhaltung und beim Gesundwerden spielen. Da aber gerade bei psychischen Erkrankungen in den letzten zehn Jahren eine alarmierende Zunahme zu verzeichnen war und die hohe Nachfrage nach psychiatrischen und psychotherapeutischen Gesundheitsleistungen das Gesundheitswesen und die Sozialversicherung vor große Herausforderungen stellt, kommt der Prävention und Gesundheitsförderung in den Familien, in Kindertagesstätten und Schulen, am Arbeitsplatz oder im Seniorenheim eine immer bedeutsamere Rolle zu. Für alle genannten Lebenswelten gibt es Kneipp-Angebote zum Kennenlernen und Durchführen.
In Bezug auf die kneippsche Hydrotherapie zeigen sich in vielen Studien deutliche Hinweise auf positive Behandlungseffekte bei verschiedenen Erkrankungen. Aus diesen Erkenntnissen resultiert berechtigterweise die Forderung nach weiteren, auch öffentlich finanzierten qualitativ hochwertigen Studien, die den von der EBM geforderten Standards entsprechen.
Fest steht, dass die Kneipp-Therapie ein wissenschaftlich begründbares, komplexes ganzheitliches Therapiekonzept ist. Zukünftige Studien mit genügend Aussagekraft, die methodisch sorgfältig geplant werden, um Verzerrungen von Studienergebnissen zu vermeiden, und die zum Nachweis der Wirksamkeit herangezogen werden können, wären nicht nur im Sinne unserer PatientInnen, sondern auch aus medizinischer Sicht eine wertvolle Grundlage, um bestmögliche patientenorientierte Entscheidungen zu treffen.
Fazit für die Praxis
Die Kneipp-Hydrotherapie allein oder in Kombination verbessert die erkrankungsbezogene Lebensqualität und hilft signifikant bei chronisch-venöser Insuffizienz, Hypertonie, leichter Herzinsuffizienz, menopausalen Beschwerden und Schlafstörungen.
Kneipp-Kaltgüsse helfen Patient*innen mit chronisch-obstruktiver Lungenerkrankung durch Reduktion der Atemwegsinfekte und Besserung des subjektiven Wohlbefindens.
Kneipp-Hydrotherapie lindert bei Kindern im Alter von 3 bis 6 Jahren Infektionen der Atemwege und reduziert Fehltage der Kinder in Kindertagesstätten.
Kneipp-Angebote lassen sich gut in Pflegeeinrichtungen anwenden und verbessern den Gesundheitszustand von Pflegebedürftigen und Pflegepersonal.
Eine klassische Kneipp-Kur in einem Kneipp-Kurort oder Heilbad kann den Gesundheitszustand bis zu einem Jahr signifikant verbessern.
Biographies
Dr. med. Lutz Ehnert
L. Ehnert ist hausärztlicher Internist, Arzt für Naturheilverfahren, Kneipp-Badearzt und Palliativmediziner in Bad Nauheim und Vorsitzender des Kneipp-Bunds Landesverband Hessen e. V.
Caroline Geiser
C. Geiser ist gesundheitspolitische Referentin des Kneipp-Bunds e. V., Berliner Büro.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
L. Ehnert und C. Geiser geben an, dass kein Interessenkonflikt aufgrund wirtschaftlicher oder persönlicher Verbindungen zu Unternehmen der Gesundheitswirtschaft (z. B. Arzneimittel- oder Medizinprodukteindustrie), kommerziell orientierten Auftragsinstituten oder Versicherungen besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren*innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Footnotes
Eine Übersicht über die 53 staatlich anerkannten Kneipp-Kurorte bietet der Verband Deutscher Kneippheilbäder und Kneippkurorte, www.kneippverband.de/heilbaeder-kurorte (abgerufen am 22.08.2022).
Stand bei Redaktionsschluss 24.08.2022.
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Literatur
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