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. Author manuscript; available in PMC: 2013 May 2.
Published in final edited form as: Dtsch Med Wochenschr. 2011 Feb 17;136(8):359–364. doi: 10.1055/s-0031-1272536

Medical decision making in symptoms of type 2 diabetes mellitus in general practice

W de Cruppé 1, O von dem Knesebeck 2, E Gerstenberger 3, C Link 3, L Marceau 3, J Siegrist 4, M Geraedts 1, J McKinlay 3
PMCID: PMC3641516  NIHMSID: NIHMS456689  PMID: 21332034

Abstract

Background

Patient and physician attributes influence medical decisions as non-medical factors. The current study examines the influence of patient age and gender and physicians' gender and years of clinical experience on medical decision making in patients with undiagnosed diabetes type 2.

Method

A factorial experiment was conducted to estimate the influence of patient and physician attributes. An identical physician patient encounter with a patient presenting with diabetes symptoms was videotaped with varying patient attributes. Professional actors played the “patients”. A sample of 64 randomly chosen and stratified (gender and years of experience) primary care physicians was interviewed about the presented videos.

Results

Results show few significant differences in diagnostic decisions: Younger patients were asked more frequently about psychosocial problems while with older patients a cancer diagnosis was more often taken into consideration. Female physicians made an earlier second appointment date compared to male physicians. Physicians with more years of professional experience considered more often diabetes as the diagnosis than physicians with less experience.

Conclusion

Medical decision making in patients with diabetes type 2 is only marginally influenced by patients' and physicians' characteristics under study.

Keywords: medical decision making, physician attributes, patient attributes, diabetes mellitus type 2, general practice

Einleitung

Diabetes mellitus ist laut der Internationalen Diabetes-Föderation mit hochgerechnet ca. 7,4 Millionen behandelter Patienten zwischen 18 und 79 Jahren in Deutschland im Jahr 2010 eine sehr häufige Erkrankung [8]. Der Bundesgesundheitssurvey belegt unterschiedliche Prävalenzraten für Geschlecht, Sozialschicht, geographische Region und eine generelle Zunahme mit dem Alter [13,14]. Die geschätzte Dunkelziffer nicht diagnostizierter Diabetiker schwankt je nach Messmethode zwischen 0,2 und 2% der Bevölkerung und die geschätzte jährliche Neuerkrankungsrate für Typ-2-Diabetes liegt zwischen 200000 und 500000 [7]. Stichtagserhebungen in deutschen hausärztlichen Praxen zeigen eine Prävalenz von 15,6% (Männer 18,5% und Frauen 13,7%) [6,9] und bestätigen die regionalen Unterschiede mit der niedrigsten standardisierten Diabetesrate bei Frauen in westdeutschen Praxen (9,2%) und der höchsten bei Männern in ostdeutschen Praxen (17,0%) [12].

Für die Versorgungspraxis ist die Kenntnis der unterschiedlichen Prävalenzraten einer Erkrankung hilfreich. Sie verdeutlichen, wie wahrscheinlich bei einem Patienten bezogen auf Geschlecht, Alter, Sozialstatus, Risikoprofil etc. mit einer bestimmten Erkrankung zu rechnen ist, und können damit zu effektivem und effizientem ärztlichen Handeln im Alltag beitragen. Dennoch muss auch bei Patienten mit Merkmalen einer niedrigen Prävalenzrate eine Erkrankung differenzialdiagnostisch berücksichtigt werden. Über unterschiedliche Prävalenzraten hinaus zeigen Untersuchungen aus dem englischsprachigen Raum, dass Ärzte diagnostische und therapeutische Entscheidungen auch bei gleichartig berichteten Beschwerdeangaben systematisch unterschiedlich treffen. Alter, Geschlecht, Schicht und Ethnie des Patienten sowie die ärztliche Berufserfahrung nehmen bei gleicher Symptomatik systematisch Einfluss auf die durchgeführte Behandlung. So konnte für die koronare Herzkrankheit (KHK) gezeigt werden, dass Frauen später, Männer invasiver, Patienten mit hohem Sozialstatus ausführlicher und farbige Patienten weniger intensiv behandelt werden [1, 2, 11]. Neuere Untersuchungen gehen neben Patienten- und Arztmerkmalen nun auch dem systematischen Einfluss unterschiedlicher Gesundheitssysteme auf ärztliche Entscheidungen nach [10, 15].

Der vorliegende Artikel stellt die Ergebnisse der deutschen Stichprobe einer experimentellen Studie zur ärztlichen Entscheidungsfindung bei Patienten mit undiagnostiziertem Diabetes mellitus Typ 2 vor, die in gleicher Weise in den USA und Großbritannien erhoben wurden [16]. Die Fragestellung lautet: Gibt es systematische Einflüsse des Arztgeschlechts, der ärztlichen Berufserfahrung, des Patientenalters und -geschlechts auf ärztliche Entscheidungen bei Patienten mit Symptomen eines undiagnostizierten Diabetes mellitus Typ 2 während der Erstkonsultation in einer Hausarztpraxis?

Methode

Studiendesign

Entsprechend der Fragestellung wurde ein erprobtes experimentelles Faktorendesign verwendet [2, 4], bei dem bekannte einflussnehmende Faktoren in videografierten Arzt-Patienten-Gesprächen experimentell systematisch variiert und die Videos Ärzten mit unterschiedlichen Merkmalen gezeigt werden. Für diese Studie wurden die Patientenmerkmale Alter (35 Jahre, 65 Jahre), Geschlecht (Mann, Frau) und Sozialstatus (Rechtsanwalt, Hausmeister) systematisch variiert, so dass es 8 verschiedene Patienten mit jedoch gleichen Symptomen gab. Bei den befragten Ärzten wurden 2 Merkmale, das Geschlecht und die Dauer der Berufserfahrung variiert, so dass 4 Schichtungsgruppen entstanden. Insgesamt wurde jede Patientenkombination zweimal erhoben, so dass 2 × 8 Patienten × 4 Ärzte, zusammen 64 Interviews, durchgeführt wurden.

Die videografierten “Patienten“ wurden von professionellen Schauspielern dargestellt, die alle die gleichen Beschwerden eines bisher undiagnostizierten Diabetes Typ 2 in einem identischen 6-minütigen anamnestischen Arzt-Patienten-Gespräch äußern. Das Video wurde aus der Perspektive eines Arztes, der an seinem Sprechzimmerschreibtisch sitzt, gedreht. Der jeweilige “Patient“ sitzt so vor dem Schreibtisch, dass Aussehen, Sprache, Mimik und Gestik klar zu sehen sind. Der “Arzt“ im Video ist dagegen nur als Stimme zu hören. Das für alle Patienten gleiche Gesprächsskript wurde mit Hausärzten entwickelt, um ein für die Praxis typisches Arzt-Patienten-Gespräch ohne körperliche Untersuchung darzustellen. Im Anamnesegespräch berichtet der Patient typische Symptome eines Diabetes, weitere ihm wichtige Beobachtungen und persönliche Lebensumstände (Tab. 1).

Tab. 1.

Angaben der Patienten in den Videos.

Diabetesbezogene Angaben:
verstärkter Durst
oft müde
vermehrtes Wasserlassen
häufiges Schlappheitsgefühl
moderates Übergewicht
unbeabsichtigte, leichte Gewichtsabnahme ohne Änderung des Essverhaltens
Symptomdauer ungefähr 5 bis 6 Monate mit schleichendem Verlauf
Nicht-diabetesbezogene Angaben:
seit 2 jahren nicht beim Arzt gewesen, jetzt vom Ehepartner geschickt
besorgt über mögliche Herzprobleme durch Krankheitsfall im sozialen Umfeld
trinkt viel Kaffee
aktueller Blutdruckwert 145/95 mmHg

Die teilnehmenden Hausärzte sahen je einen Videofall im eigenen Praxissprechzimmer. Danach wurden sie mit offen formulierten Fragen zu ihrem weiteren Vorgehen hinsichtlich Anamnese, körperlicher, apparativer und Laboruntersuchung, Verdachtsdiagnose und Wiedervorstellung des Patienten befragt. Sie waren dabei aufgefordert, den Patienten wie einen ihrer Patienten zu betrachten. 86% der Ärzte gaben nach dem Video an, dass der präsentierte Patient für sie sehr oder einigermaßen typisch für die eigene Praxis war. Die freien Antworten (kein Abfragen vorgegebener Möglichkeiten) wurden kodiert dokumentiert, nicht kommentiert und die Diagnose nicht mitgeteilt.

Studienpopulation

Es wurden 64 hausärztlich tätige Allgemeinmediziner und Internisten im Jahr 2005 und 2006 aus dem Ärztekammerbereich Nordrhein befragt, die in Deutschland ihr Studium abschlossen. Die Stichprobe wurde nach den Arztmerkmalen Geschlecht und Berufserfahrung geschichtet. Eine kürzere Berufserfahrung bedeutete weniger als 5 Jahre niedergelassen, eine längere bedeutete mehr als 15 Jahre niedergelassen zu sein. Die nach Zufallsprinzip ausgewählten Ärzte wurden schriftlich kontaktiert und telefonisch auf Einschlusskriterien und Teilnahmebereitschaft abgeklärt. Die Teilnahmerate betrug 78%. Das Interview inklusive der Videopräsentation dauerte ca. 20 Minuten, wofür die Teilnehmer eine Aufwandsentschädigung erhielten. Im Hinblick auf die Diabetiker-Versorgung gaben 52% der Teilnehmer an, am nordrheinischen Strukturvertrag zu Diabetes mellitus Typ 1 und 86% am Disease Managemet Programm Diabetes mellitus Typ 2 teilzunehmen. 98% waren diabetologisch geschulte Hausärzte und 7% (4 Praxen) diabetologische Fachpraxen.

Datenanalyse

Mit diesem randomisierten, experimentellen Design können unkonfundierte Haupteffekte (Unterschiede bei einem Faktor z.B. Berufserfahrung) und Interaktionen zwischen je zwei der variierten Faktoren, z.B. Geschlecht und Alter, auf die erhobenen Behandlungsentscheidungen bestimmt werden. Das Ausmaß der Effekte der Einzelfaktoren auf die ärztlichen Entscheidungen wurde mit ANOVA-Analysen berechnet, die Interaktionen zwischen zwei Faktoren mit dem ANOVA F-Test. In den Tabellen sind Mittelwerte und Signifikanzen dokumentiert.

Ergebnisse

Über alle 4 Arztgruppen hinweg zeigen sich im Mittel folgende ärztliche Entscheidungen (Tab. 2): 95% der Ärzte würden weitere anamnestische Angaben erheben; ebenso würden 95% eine körperliche Untersuchung durchführen. Als häufigste Verdachtsdiagnosen wurden genannt: psychische Störung (88%), Schilddrüsendysfunktion (66%), Diabetes mellitus (61%) und Tumorerkrankung (52%). Alle Ärzte würden eine apparative oder Laboruntersuchung anordnen; 17% ließen keinen Blutzuckerstoffwechsel bezogenen Laborwert bestimmen; alle würden den Patienten wieder einbestellen, im Schnitt binnen 3,7 Tagen.

Tab. 2.

Einflüsse des Patientengeschlechts und -alters auf diagnostische Entscheidungen bei Patienten mit Symptomen für Diabetes mellitus (n = 64), Berechnung mit ANOVA-Tests.

alle (n = 64) Mittel % Patientengeschlecht Patientenalter
Frauen (n = 32) % Männer (n = 32) % p 35 Jahre (n = 32) % 65 Jahre (n = 32) % p
zusätzliche Anamnesefragen 95 94 97 0,5677 100 91 0,0929

zur Krankenvorgeschichte 45 44 47 0,7979 38 53 0,2060

zur Familienanamnese 47 41 53 0,3248 44 50 0,6205

zum psychischen Befund 47 47 47 1,0000 50 44 0,5967

zu psychosozialen Problemen 45 44 47 0,7979 59 31 0,0286

zu Diabetessymptomen 17 22 12 0,3248 12 22 0,3248

körperliche Untersuchung am Vorstellungstag 95 91 100 0,0929 97 94 0,5677

Abdomen 30 25 34 0,4443 31 28 0,7979

Blutdruck messen 39 41 38 0,8099 47 31 0,2341

vollständige körperliche Untersuchung 52 59 44 0,1053 50 53 0,7411

Herz-Lunge 39 34 44 0,4443 41 38 0,7979

Diagnose psychische Störung 88 94 81 0,0540 94 81 0,0540

Diabetes mellitus 61 56 66 0,4115 56 66 0,4115

Schilddrüsenerkrankung 66 72 59 0,2150 62 69 0,5316

Tumorerkrankung 52 47 56 0,4115 28 75 0,0002

apparative und Laboruntersuchungen anordnen 100 100 100 100 100

EKG 91 94 88 0,3248 91 91 1,0000

Nüchternblutzucker oder HbA1c oder oraler Glukosetoleranztest 39 28 50 0,0993 34 44 0,4721

Spontanblutzucker 44 50 38 0,4001 50 38 0,4001

keine Bestimmung eines Blutglukosestoffwechselwertes 17 22 12 0,3725 16 19 0,7650

gro ß es Blutbild 89 84 94 0,2653 84 94 0,2653

Leberwerte 81 75 88 0,1670 78 84 0,4846

TSH 72 75 69 0,5677 72 72 1,0000

Nierenwerte 81 78 84 0,5677 75 88 0,2568

Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit 53 53 53 1,0000 50 56 0,6406

Wiedervorstellung vereinbaren 100 100 100 100 100

Tage bis zur Wiedervorstellung 3,7 4,0 3,4 0,3534 4,2 3,2 0,0924

Schaut man auf Unterschiede bei den Entscheidungen in Abhängigkeit der Patientenmerkmale (Geschlecht und Alter in Tab. 2), so zeigen sich zwei signifikante Differenzen (p < 0,05). Psychosoziale Probleme würden etwa doppelt so häufig bei den jüngeren Patienten erhoben und die Verdachtsdiagnose Tumorerkrankung wird bei älteren Patienten fast dreimal so oft angegeben. Tab. 3 zeigt die Unterschiede in Abhängigkeit der Arztmerkmale Geschlecht und Berufserfahrung. Ärztinnen bestellen Patienten signifikant früher (p < 0,05), nämlich nach 2,9 Tagen, wieder ein, als männliche Ärzte (4,5 Tage).

Tab. 3.

Einflüsse des Arztgeschlechts und der Berufserfahrung auf diagnostische Entscheidungen bei Patienten mit Symptomen für Diabetes mellitus (n = 64), Berechnung mit ANOVA-Tests.

Arztgeschlecht Berufserfahrung
Männer (n = 32) % Frauen (n = 32) % p ≤ 5 Jahre (n = 32) % ≥ 15 Jahre (n = 32) % p
zusätzliche Anamnesefragen 94 97 0,5677 94 97 0,5677

zur Krankenvorgeschichte 47 44 0,7979 56 34 0,0801

zur Familienanamnese 44 50 0,6205 50 44 0,6205

zum psychischen Befund 44 50 0,5967 41 53 0,2930

zu psychosozialen Problemen 41 50 0,4443 41 50 0,4443

zu Diabetessymptomen 16 19 0,7411 19 16 0,7411

körperliche Untersuchung am Vorstellungstag 94 97 0,5677 94 97 0,5677

Abdomen 25 34 0,4443 31 28 0,7979

Blutdruck messen 38 41 0,8099 47 31 0,2341

vollständige körperliche Untersuchung 50 53 0,7411 47 56 0,3248

Herz-Lunge 31 47 0,2060 38 41 0,7979

Diagnose psychische Störung 84 91 0,3248 88 88 1,0000

Diabetes mellitus 56 66 0,4115 50 72 0,0611

Schilddrüsenerkrankung 69 62 0,5316 66 66 1,0000

Tumorerkrankung 50 53 0,7833 59 44 0,1751

apparative und Laboruntersuchungen anordnen 100 100 100 100

EKC 84 97 0,0540 84 97 0,0540

Nüchternblutzucker oder HbA1c oder oraler Glukosetoleranztest 31 47 0,2341 34 44 0,4721

Spontanblutzucker 53 34 0,2100 44 44 1,0000

keine Bestimmung eines Blutglukosestoffwechselwertes 16 19 0,7650 22 12 0,3725

gro ß es Blutbild 94 84 0,2653 91 88 0,7080

Leberwerte 75 88 0,1670 75 88 0,1670

TSH 75 69 0,5677 72 72 1,0000

Nierenwerte 75 88 0,2568 78 84 0,5677

Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit 47 59 0,3528 59 47 0,3528

Wiedervorstellung vereinbaren 100 100 100 100

Tage bis zur Wiedervorstellung 4,5 2,9 0,0166 3,5 3,9 0,5894

Für ein tiefer gehendes Verständnis der Einflüsse wurden Inter-aktionseffekte je zweier Merkmale der Patienten und Ärzte analysiert. Hierbei zeigen sich drei signifikante Effekte (p < 0,05) bei Merkmalen, die bereits in den bivariaten Analysen mindestens eine Tendenz zu Unterschieden (p < 0,1) zeigten. Psychosoziale Probleme und die Verdachtsdiagnose psychische Störung werden nach Patientenalter und -geschlecht unterschiedlich erfragt (Tab. 4). Die Verdachtsdiagnose Diabetes mellitus wird insgesamt von Ärzten mit längerer Berufserfahrung tendenziell öfter geäußert. Ärzte mit längerer Berufserfahrung äußern diese Verdachtsdiagnose jedoch signifikant häufiger bei den jüngeren Patienten (81%) als Ärzte mit kürzerer Berufserfahrung (31%). Bei den älteren Patienten gibt es diesen Unterschied nach dem Merkmal Berufserfahrung nicht (Tab. 5).

Tab. 4.

Signifikante Interaktionseffekte zwischen Patientengeschlecht und -alter (n = 64), Berechnung mit ANOVA-F-Test.

Patientenmerkmale
35 Jahre, weiblich 65 Jahre, weiblich 35 Jahre, männlich 65 Jahre, männlich p
Anteil Patienten, denen die Ärzte Fragen zu psycho-sozialen Problemen stellen 38% 50% 81% 12% 0,0020

Anteil Patienten mit Verdachtsdiagnose einer psychischen Störung 88% 100% 100% 62% 0,0004

Tab. 5.

Signifikanter Interaktionseffekt zwischen arztlicher Berufserfahrung und dem Patientenalter (n = 64), Berechnung mit ANOVA-F-Test.

Arzt mit > 15 Jahren Berufserfahrung bei 35-jährigen Patienten Arzt mit < 5 Jahren Berufserfahrung bei 35-jährigen Patienten Arzt mit > 15 Jahren Berufserfahrung bei 65-jährigen Patienten Arzt mit < 5 Jahren Berufserfahrung bei 65-jährigen Patienten p
Anteil Patienten mit Verdachtsdiagnose Diabetes mellitus 81% 31% 62% 68% 0,0179

Diskussion

Die vorliegende Studie untersucht Unterschiede der ärztlichen Entscheidung bei Patienten mit Symptomen eines undiagnostizierten Diabetes mellitus in Abhängigkeit nicht-medizinischer Einflussfaktoren in der hausärztlichen Versorgung. Insgesamt zeigt sich kein Anhalt für eine systematische Beeinflussung der Entscheidungen durch die untersuchten Merkmale, jedoch gibt es einzelne signifikante Variationen, die nachfolgend diskutiert werden.

Das Patientenalter nimmt insofern Einfluss, als bei älteren Patienten signifikant häufiger eine Tumorerkrankung differenzialdiagnostisch in Betracht gezogen und tendenziell ein früherer Wiedervorstellungstermin vereinbart wird. Bei jüngeren Patienten wird tendenziell öfter eine psychische Störung differenzialdiagnostisch erwogen und es werden signifikant häufiger psychosoziale Probleme eruiert. Hiermit folgen die Ärzte in ihrer Entscheidung höheren Prävalenzraten von Tumorerkrankungen bei Älteren und häufigeren psychosomatischen Erkrankungen bei jüngeren Patienten. Das Patientengeschlecht zeigt einen tendenziell signifikanten Unterschied, wobei männliche Patienten öfter vollständig körperlich untersucht und Glukosestoffwechselparameter bestimmt werden, wohingegen bei Frauen tendenziell öfter eine psychische Störung erwogen wird. Damit unterscheiden sich diese Ergebnisse von einer methodisch sehr ähnlichen Untersuchung zur koronaren Herzerkrankung, in der eine deutliche Richtung der ärztlichen Entscheidungen zuungunsten der Behandlung der Patientinnen festzustellen war [3]. Einen signifikanten, geschlechtsspezifischen Unterschied gibt es auf Arztseite. Ärztinnen bestellen ihre Patienten, unabhängig von deren Alter und Geschlecht, bereits nach 2,9 Tagen wieder ein, die männlichen Ärzte erst nach 4,5 Tagen. Da Ärztinnen und Ärzte nicht von anderen Verdachtsdiagnosen ausgehen, ist diese Entscheidung deutlich abhängig vom nicht-medizinischen Einflussfaktor Arztgeschlecht. Möglicherweise verweist dieser Unterschied darauf, dass Ärztinnen und Ärzte ihre Behandlungsentscheidungen und auch ihre Beziehung zum Patienten unterschiedlich gestalten, wie dies eine Studie beispielsweise zum Verordnungsverhalten von Medikamenten in Deutschland aufgezeigt hat [5]. Aus unserer Sicht regt dieses Ergebnis an, verstärkt solche Entscheidungsunterschiede zu untersuchen.

Auch die Analyse der Interaktion zwischen Berufserfahrung und Patientenalter zeigt einen signifikanten Unterschied. Bei älteren Patienten geben aus beiden Arztgruppen (mit < 5 Jahren und mit > 15 Jahren Berufserfahrung) ca. zwei Drittel der Ärzte diese Verdachtsdiagnose an, passend zur höheren Prävalenzrate. Bei jüngeren Patienten bedenken 81% der Ärzte mit längerer Berufserfahrung und nur 31% der weniger erfahrenen diese Differenzialdiagnose. Dies geht keinesfalls damit einher, dass die erfahreneren Ärzte seltener psychische Störungen bedenken würden. Vielmehr könnte es verdeutlichen, dass mit längerer Berufserfahrung in der ärztlichen Entscheidung populationsbezogene Prävalenzen und individuelle Symptomkonstellationen einerseits und andererseits psychosomatische und somatische Diagnosemöglichkeiten gleichzeitig berücksichtigt werden. Spezifisch auf den Diabetes bezogen kann auch die Frage nach dem Stellenwert der diabetologischen Fortbildung problematisiert werden. Aufgrund der Zunahme der Erkrankung in allen Bevölkerungsteilen wäre zu überprüfen, ob in den letzten Jahren dieser Fortbildung die entsprechende Bedeutung zugewachsen ist.

Das Stellen der richtigen Diagnose, initial als Verdachtsdiagnose im Sinne einer Arbeitshypothese, ist Ziel und Herausforderung im ärztlichen Handeln. Wie ist das Ergebnis, dass 39 der 64 Ärzte (61%) Diabetes mellitus als Verdachtsdiagnose angeben, zu bewerten? Zunächst ist daran zu erinnern, dass die Angabe einen Mittelwert aus den 4 Schichtungsgruppen darstellt und nicht den Mittelwert aus der Grundgesamtheit aller Hausärzte. Das Studiendesign ist so angelegt, dass Unterschiede zwischen Entscheidungen in Abhängigkeit der kontrollierten Merkmalen aufgedeckt werden und ist nicht ausgelegt auf die repräsentative Häufigkeitsbestimmung von Behandlungsentscheidungen, etwa im Sinne leitlinienkonformer Schritte. Betrachtet man dennoch die ärztlichen Entscheidungen in diesen 4 Gruppen zusammen, zeigt sich, dass 61% die Diagnose Diabetes angeben, aber 83% zumindest einen Blutglukosestoffwechselparameter bestimmen. Oder anders betrachtet, 39% aller Ärzte benennen nicht die Verdachtsdiagnose Diabetes, doch 16% der 39% führen eine Nüchternblutzuckerbestimmung durch, die im Weiteren die Diagnose möglicherweise aufdeckt. Die erhobenen Angaben zeigen, dass die Behandlungspraxis nicht immer einem idealtypischen Algorithmus entspricht. Auch muss daran erinnert werden, dass die Symptompräsentation der Patienten durch praktizierende Hausärzte so formuliert wurde wie sich Patienten in der Alltagspraxis zumeist präsentieren. Das Video zeigt also keine idealtypische Beschwerdepräsentation, sondern die Symptome wurden mit anderen, dem Patienten wichtigen Beobachtungen und mit persönlichen Eigenheiten verwoben. Zudem ist mit diesem Erstkontakt für alle Ärzte die Behandlungsepisode nicht abgeschlossen, jeder würde den Patienten zur weiteren Behandlung wieder einbestellen. Aus diesen Gründen trifft diese Studie keine verallgemeinerbare Aussage zur Qualität der ärztlich diagnostischen Vorgehensweise insgesamt.

Die methodischen Stärken dieser Untersuchung liegen angesichts der aufwendig kontrollierten Experimentalanordnung in ihrer hohen internen Validität. Methodenkritisch zu beachten sind jedoch Aspekte der externen Validität, wie praxisnah und realistisch die videografierten Patienten und die Untersuchungssituation waren. Dies zu gewährleisten, diente die Skripterstellung mit Praktikern, die Befragung in der eigenen Sprechzimmersituation, der Hinweis den Patienten wie einen der eigenen Praxis zu betrachten und sich wie in der eigenen Sprechstunde zu verhalten, z.B. Notizen zu machen. 86% der Ärzte gaben zudem an, dass der gesehene Patient sehr oder einigermaßen typisch für Ihre Praxispatienten war, so dass wir insgesamt von einer guten externen Validität ausgehen. Bei der Interpretation der Befunde ist darüber hinaus einschränkend zu berücksichtigen, dass die Stichprobengröße mit N = 64 relativ gering und die Anzahl der durchgeführten Signifikanztests relativ hoch ist.

Fazit

Patientenalter und -geschlecht haben in der hausärztlichen Erstdiagnose bei Diabetes mellitus nur geringen Einfluss auf die Behandlung. Unterschiede im angegebenen Spektrum der Verdachtsdiagnosen variieren gemäß altersspezifischen Prävalenzraten. Arztmerkmale nehmen punktuell Einfluss. Ärzte mit längerer Berufserfahrung beziehen bei jüngeren Patienten mit niedrigerer Prävalenzrate öfter einen Diabetes in ihre Differenzialdiagnose ein. Der Unterschied zwischen Ärztinnen und Ärzten beim Zeitpunkt des nächsten Patientenkontaktes regt an, geschlechtsspezifische Unterschiede im Behandlungsstil weiter zu erforschen.

Konsequenz für Klinik und Praxis

  • Ärztliche Entscheidungen orientieren sich einerseits an der Prävalenz einer Erkrankung, andererseits richten sie sich nach dem Beschwerdebild und der Lebenssituation des einzelnen Patienten.

  • Diese beiden Perspektiven bei ärztlichen Entscheidungen bewusst zu berücksichtigen, ist Notwendigkeit und Herausforderung für den Praxisalltag.

Danksagung

Dieses Projekt wurde vom National Institute on Diabetes, Digestive, and Kidney Diseases, National Institutes of Health (DK 66425) finanziert. Wir danken der Ärztekammer und Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein für die gewährte Unterstützung und den teilnehmenden Ärztinnen und Ärzten für ihre Mitarbeit.

Footnotes

Autorenerklärung: Die Autoren erklären, dass sie keine finanziellen Verbindungen mit einer Firma haben, deren Produkte in dem Beitrag eine wichtige Rolle spielen (oder mit einer Firma, die ein Konkurrenzprodukt vertreibt).

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RESOURCES