Zusammenfassung
Als psychische Erkrankungen sind Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) sowohl in der DSM-V wie auch in der ICD 11 der Gruppe der neuronalen und mentalen Entwicklungsstörungen eingeordnet. ASS sind Störungen, die ausnahmslos in der frühen Kindheit beginnen. Eine valide, frühzeitige Diagnosestellung ist Grundvoraussetzung für die Bereitstellung angemessener Behandlungs- und Förderleistungen sowie jeder Versorgungsplanung bezüglich aller relevanter Bereiche wie Therapie und Frühförderung. Auf Basis eines partizipativ angelegten wissenschaftlich begleiteten Entwicklungsprozesses zur Verfassung von Empfehlungen einer ersten Bayerischen Autismus-Strategie in 2018 bis 2021 wurden Prinzipien, Ziele, Handlungsfelder und Maßnahmen zur Optimierung der Versorgung von Menschen mit ASS und deren Angehörigen erarbeitet. Dabei zeigt sich vor allem ein Bedarf an Sensibilisierung zu ASS, der weiteren Generierung und Bereitstellung von Wissen zu ASS, am Ausbau von fachspezifischen Angeboten zur Früherkennung, Beratung und Diagnostik sowie ein flächendeckender Zugang zu Frühförderung und Therapie.
Schlüsselwörter: Autismus-Spektrum-Störung, Früherkennung, Frühförderung, Diagnostik, Therapie
Abstract
As mental illnesses Autism spectrum disorders (ASD) in DSM–V and ICD – 11 are classified under the category of neuronal and mental disorders. ASD manifests itself them selves in early childhood. A valid, early diagnosis is a basic prerequisite for the provision of appropriate treatment and support services as well as any care planning in all relevant areas such as therapy and early intervention. On the basis of a participatory, scientific developmental process for the formulation of recommendations for the first Bavarian ASD strategy from 2018 to 2021, principles, goals, fields of action and measures for optimizing the care for people with ASD and their relatives were defined. It became clear that there is a need, in particular, to raise awareness of ASD, further generation and provision of knowledge about ASD, expansion of specialized services for early detection, counseling and diagnostics, as well as comprehensive access to early support and therapy.
Key words: autism spectrum disorder, early detection, early intervention, diagnosis, therapy
Die richtige Diagnose ist das Fundament jeder Behandlung – eine Einleitung
Als psychische Erkrankung sind Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) sowohl im DSM–V wie auch der ICD 11 der Gruppe der neuronalen und mentalen Entwicklungsstörungen zugeordnet. ASS sind Störungen, die ausnahmslos in der frühen Kindheit beginnen. Seit dem Jahr 2000 veröffentlichte Untersuchungen belegen eine deutlich höhere Verbreitung von Autismus und assoziierten Störungen als zuvor angenommen. Die Prävalenz der ASS liegt bei 0,9–1,1% der Bevölkerung 1 . Neben den psychisch-gesundheitlichen Einschränkungen für die Betroffenen stehen auch die gesundheitsökonomischen Kosten in der Diskussion – es besteht ein signifikanter Zusammenhang zu einer späten Diagnosestellung 2 . ASS gehen mit einer hohen Anzahl von komorbiden psychischen Störungen einher. Die Diagnostik von ASS stellt einen komplexen Prozess dar, welcher nach Empfehlungen der S3 LL Diagnostik 1 im Rahmen eines multiprofessionellen Teams erfolgen sollte.
Die S3 LL stellt ebenso fest, dass die Diagnosestellung ein hohes Spezialwissen erfordert und mit einem intensiven Ressourceneinsatz einhergeht. Die Folgen einer nicht korrekten Diagnosestellung werden als weitreichend beschrieben und wirken sich auf die Entwicklung und Prognose der betroffenen Personen aus. Eine mit Hilfe der Erkennung von Frühwarnzeichen empfohlene frühzeitige Abklärung einer möglichen ASS-Diagnose ist für die Einleitung entsprechender Therapie unabdingbar und sollte so früh als möglich in der Entwicklung des Kindes erfolgen. Dadurch könne laut S3 LL positiv Einfluss auf die weitere Entwicklung genommen werden und einer möglichen lebenslangen Beeinträchtigung der Teilhabe aufgrund der Erkrankung und der damit verbundenen Angewiesenheit auf Hilfe und Unterstützung entgegengewirkt werden 1 .
Die S3 LL stellt einen dringenden Verbesserungsbedarf bezüglich der frühzeitigen, zeitnahen und korrekten Diagnose von ASS in Deutschland fest 1 . Studien zur administrativen Prävalenzen lassen vermuten, dass viele Menschen mit einer ASS entweder nicht oder falsch diagnostiziert werden.
In mehreren EU-Ländern hat man sich dazu entschlossen für Menschen mit ASS und deren Angehörigen spezifische Versorgungsangebote zu etablieren bzw. mit Hilfe eines landesweiten Strategieentwicklungsplanes das jeweilige Versorgungssystem entsprechend auf die Bedarfe dieser Zielgruppe auszurichten. Ein entsprechendes Vorhaben beabsichtigt auch der Freistaat Bayern. Über ein dazu etabliertes Entwicklungsprojekt (2018 bis 2021) wurden Versorgungsempfehlungen erarbeitet.
Methodisches Vorgehen
Die Erarbeitung von Versorgungsempfehlungen für den Freistaat Bayern erfolgte über einen Beteiligungsprozess von ausgewiesenen Fachexperten und Vertretern der Selbsthilfe (Angehörige und Betroffene) unter Berücksichtigung der bestehenden Versorgungsstrukturen (Leistungsträger, Leistungserbringer und Interessensgruppen). Es wurde ein an die qualitative Sozialforschung angelehnter Zugang gewählt. Ziel der Vorgehensweise sollte die Erhebung und Diskussion der jeweiligen Perspektiven sein, um mögliche Handlungsempfehlungen daraus abzuleiten. Um dies abbilden zu können, wurde auf eine qualitative Gruppenbefragung, angelehnt an die Methode der Fokusgruppen-Diskussionen, zurückgegriffen. Des Weiteren sollte der Ansatz der partizipativen Forschung als Grundlage für die Gestaltung eines Beteiligungsprozesses dienen. Anhand eines konkreten Projektablaufplanes mithilfe von Projektmeilensteinen wurden die jeweiligen Prozessergebnisse dargelegt und ein offener und lösungsorientierter Diskurs befördert. Die über das o. g. Vorhaben erarbeiteten Empfehlungen wurden maßgeblich durch multidisziplinär zusammengesetzte Projektgruppen (PGen) erarbeitet, welche sowohl die gesamte Lebensspanne sowie das gesamte Autismus-Spektrum berücksichtigten. Die PGen arbeiteten in drei wesentlichen Schritten: Erhebung der aktuellen Versorgungssituation (IST), Beschreibung der angestrebten Versorgungssituation (Soll) sowie Darstellung der sich daraus ableitenden Versorgungsempfehlungen. Die Ergebnisse der einzelnen PGen (PG-Angehörige, PG-Autisten, PG Forschung, PGen- Vor-, Im-, Nach dem Erwerbsleben) wurden in der PG-Versorgungsgrundsätze zusammengeführt. Diese legte die Ergebnisse der PG-Lenkung zur abschließenden Diskussion bzw. Konsentierung vor. Die PGen wählten jeweils Moderator:innen, welche zusammen mit der Projektleitung/-koordination maßgeblich den Gesamtprozess koordinierten und die Clusterung der Empfehlungen in Handlungsfelder, in Prinzipien und allgemeine Versorgungsempfehlungen vorbereiteten. Die Ergebnisse wurden abschließend über die PG-Lenkung diskutiert und konsentiert. Einzelne Empfehlungen wurden von den Prozessbeteiligten mit den Merkmalen ‚Handlungsfeld übergreifend‘ und ‚besonders hervorzuheben‘ deklariert und als Prinzipien formuliert.
Die Ergebnisse der PGen wurden zudem mit Resultaten aus einer bayernweiten Online-Befragung, einer Befragung von wenig und nicht sprechenden autistischen Personen, einer Fachtagung in der Hanns-Seidel-Stiftung und einem Online-Forum, welche weitere Beteiligungsmöglichkeiten am Projekt darstellten, abgeglichen. Zudem wurden die Empfehlungen anhand der Vorgaben der UN-BRK mit Forderungen der WHO zu Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), dem Aktionsplan-Inklusion Bayern (Arbeitsfassung Mai 2019), mit Empfehlungen durch bereits existierende Autismus-Strategien in Europa sowie mit exemplarisch ausgewählten, wissenschaftlichen Erkenntnissen reflektiert. Abschließend wurden die Empfehlungen strukturiert und in Handlungsfelder integriert. Die dem Vorhaben zu Grunde gelegte Projektstruktur umfasste die Projektgruppenarbeit als zentrales Arbeitsinstrument (siehe Abb. 1 ) für die Entwicklung von Eckpunkten für Empfehlungen.
Abb. 1.

Projektstruktur (Quelle: Witzmann M, Kunerl E. Im Abschlussbericht: Empfehlungen für eine Autismus-Strategie Bayern. 2018. S. 53).
Insgesamt waren über 100 Teilnehmer:innen als Vertreter:innen aus verschiedensten Institutionen und Fachbereichen sowie der Selbsthilfe an der Entwicklung der Empfehlungen beteiligt. Die erarbeiteten Empfehlungen umfassen die Handlungsfelder: ‚Aufklärung‘, ‚Wissenserweiterung‘, ‚Aus-, Fort- und Weiterbildung‘, ‚Autismus spezifische Gesundheitsfürsorge über die Lebensspanne‘ sowie ‚Teilhabe über die Lebensspanne‘. Zu allen Handlungsfeldern wurden Empfehlungen und Maßnahmen formuliert, welche dem Abschlussbericht ‚Empfehlungen für eine Bayerische Autismus-Strategie‘ zu entnehmen sind 3 .
Im Weiteren wird hier der Fokus auf die Maßnahmeempfehlungen im Handlungsfeld ‚Autismus spezifische Gesundheitsfürsorge über die Lebensspanne‘, also zur gesundheitlichen Versorgung insbesondere auf Früherkennung, Diagnostik, Therapie und psychiatrische Versorgung gelegt. Dies stellt somit einen Auszug aus dem Gesamtempfehlungsbericht dar, welchen die Autor:innen thematisch gewählt haben. Die Clusterung der Empfehlungen zu den Kontexten Diagnostik, Therapie und psychiatrische Versorgung erfolgte induktiv, entsprechend den Ergebnissen der o.g. PGen und wurde seitens der Projektleitung/-koordination mit den Moderator:innen der PGen entwickelt.
Ergebnisse – Empfehlungen zur Stärkung der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit ASS
Wie oben aufgezeigt, wurden den Empfehlungen allgemeine Prinzipien als Versorgungsgrundsätze vorangestellt. Die Prinzipien umfassen z. B.:
Partizipation von autistischen Menschen und deren Angehörigen gemäß dem Grundsatz ‚nicht über uns, ohne uns‘ 4
Berücksichtigung des gesamten autistischen Spektrums mit seinem vielfältigen Erscheinungsbild und den verschiedenen psychiatrischen Komorbiditäten über die gesamte Alterspanne und für alle Geschlechtszugehörigkeiten.
Die im Beteiligungsprozess formulierten Prinzipien zeigen große Nähe zu bestehenden Versorgungsgrundsätzen im Bereich der psychiatrischen Versorgung(splanung) auf. Im Rahmen der Empfehlungen der Gesamtstrategie ASS bilden diese auch die Grundlage für die weitere Entwicklung von Versorgungsangeboten außerhalb des Gesundheitssystems, wie der Bildung oder der sozialen und beruflichen Rehabilitation.
Diesen Prinzipien folgend wurden die Leitziele eines gesellschaftlichen Bewusstseinswandels im Umgang mit ASS, sowie einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität der Bürger:innen mit ASS und ihren Angehörigen formuliert 3 .
Die Empfehlungen zur Stärkung der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit ASS wurden unter Bezugnahme der Resolution WHA 67/8 formuliert, welche einleitend die Notwendigkeit beschreibt, Gesundheitssysteme so zu gestalten, dass sie für Menschen mit Behinderung, Entwicklungsstörungen oder psychischen Erkrankungen uneingeschränkt zugänglich sind 5 . Entsprechend nimmt auch die UN-BRK im Artikel 25 der barrierefreien Gesundheitsversorgung dazu Stellung. Sie betont, dass diese im Rahmen der Gesundheitssorge durch geeignete Maßnahmen zu gewährleisten sei, und dass Menschen mit Behinderung Zugang zu Gesundheitsdiensten, einschließlich gesundheitlicher Rehabilitation, die die unterschiedlichen Bedürfnisse von Frauen und Männern berücksichtigen, gewährleisten müssen.
Empfehlung 1 – somatische gesundheitliche Versorgung
Zahlreiche Studien bestätigen, dass der Zugang zu allgemeiner Gesundheitsversorgung für autistische Menschen deutlich erschwert ist, sie aber gleichzeitig ein erhöhtes Gesundheitsrisiko haben. In der Literatur wird beschrieben, dass autistische Menschen und deren Familien mit vielen Barrieren im Gesundheitswesen konfrontiert sind [vgl. 6]. Hierzu zählen unter anderem die für die Betroffenen schwierige Kontaktaufnahme und Kommunikationsgestaltung. Auch die Angst vor Stigmatisierung oder ungehört zu bleiben, wird hier aufgeführt [vgl. 6]. Weitere Studien weisen darauf hin, dass Menschen mit ASS im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung im Durchschnitt ein höheres Mortalitätsrisiko haben [7]. Bei Erwachsenen mit ASS und zusätzlicher Lernbehinderung ist die Lebenserwartung noch deutlicher reduziert. Im Vordergrund stehen hier nicht die komorbiden psychischen Störungen, sondern Herz-Kreislauf- und Darmerkrankungen.
Dass für die allgemeine Gesundheitsversorgung von autistischen Personen Handlungsbedarf besteht, wird auch in anderen europäischen Autismus-Strategien, wie von Schottland oder Frankreich thematisiert. Als spezifische Maßnahme wird die Ausweitung des Wissens von Fachkräften aus dem Gesundheitswesen gefordert.
Empfehlung 2 – Diagnostikressourcen aufbauen
Die Früherkennung und -diagnostik sind Kernaufgaben des Gesundheitssystems, denn die frühe Erkennung und korrekte Diagnostizierung der ASS bilden die Grundlage für die spezifische Zuweisung und Inanspruchnahme von Leistungen, insbesondere der Einleitung gezielter therapeutischer Maßnahmen. Die Möglichkeiten einer validen Diagnostik für ASS sollten auf der Grundlage der S3-Leitline ‚Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter, Teil 1: Diagnostik‘ 1 dringend und vorrangig verbessert werden. Bisher liegen nur begrenzte empirischen Studien zur Versorgungssituation von Menschen mit ASS oder deren Angehörigen bei Verdacht auf ASS in Deutschland vor. Nichtsdestotrotz ist nachvollziehbar, dass bei einer Prävalenz von 1% die geringe Anzahl an Diagnosezentren, welche Wartezeiten von bis zu zwei Jahren aufweisen, nur einen Bruchteil des Bedarfs decken können. Neben den möglichen psychisch-gesundheitlichen Folgen sind auch hohe ökonomische Folgekosten einer späten Diagnosestellung zu erwarten 2 .
Zu Früherkennung und Diagnostik
Die ‚ Written Declaration on Autism ‘ des europäischen Parlaments, welche sich für eine europaweite Autismus-Strategie ausspricht, weist darauf hin, dass es derzeit keine Heilung für Autismus gebe, „dass (aber) eine frühzeitige und intensive Intervention dazu beitragen kann, die Symptome von Autismus zu bewältigen und den Grad der Unabhängigkeit von Menschen mit Autismus signifikant zu verbessern“ (8). Die AWMF S-3 Leitlinie Therapie geht ebenfalls auf die Frühförderung ein und formuliert hierzu Empfehlungen 9 ). In fast allen existierenden europäischen Autismus-Strategien werden Früherkennung und Frühförderung als wesentlich benannt. Bezugnehmend zur Diagnostik und Autismus bestätigt die Resolution WHA 67/8, „dass wahrscheinlich noch mehr Personen in der Gesellschaft und in Gesundheitseinrichtungen unerkannt oder nicht korrekt identifiziert werden“ 5 ). Deshalb wird empfohlen, bei Bedarf die Kapazitäten des Gesundheitssystems auszuweiten. Dass in Deutschland die Diagnostik spät erfolgt, wird in der AWMF S-3 Leitlinie Diagnostik betont, die einen „dringende[n] Verbesserungsbedarf bezüglich der frühzeitigen, zeitnahen und korrekten Diagnose von Autismus-Spektrum-Störungen in Deutschland“ feststellt 1 . Dies wird auch in einer Studie aus 2019 bestätigt 10 . Die S-3 Leitlinie Diagnostik empfiehlt, die Diagnostik durch spezialisierte, interdisziplinäre Teams an spezialisierten Fachstellen durchführen zu lassen, um die Validität der Diagnose zu verbessern und die notwendige Diagnostik komorbider Erkrankungen, die Differentialdiagnostik und empfohlene Verlaufsdiagnostik durchführen zu können [vgl.1]. Empfehlungen und Maßnahmen zur Verbesserung der Diagnostik sind zentraler Bestandteil in allen europäischen Autismus-Strategien 3 .
Folgende zentralen Ergebnisse wurden im Handlungsfeld ‚Früherkennung und Diagnostik‘ im Rahmen der Entwicklung von Empfehlungen für eine Autismus-Strategie-Bayern für das Gesundheitssystem zusammengefasst:
An bestehenden medizinisch-psychologisch-pädagogischen Einrichtungen der Primär- (‚U‘-Untersuchungen, Schuleingangsuntersuchungen, Frühförderstellen, niedergelassene Kinder – und Jugendpsychiatern und Psychiatern) und der Sekundärversorgung (wie Psychiatrische Institutsambulanzen, Sozialpädiatrische Zentren, ausgewählte Fachpraxen) soll ein valides, evidenzbasiertes Screening zur Früherkennung vorgehalten werden.
an den Fachkrankenhäusern der Kinder-/Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie sollen spezialisierte Fachstellen zur Diagnostik bei Kindern und Erwachsenen erweitert bzw. geschaffen werden. Die Diagnostik soll interdisziplinär angelegt sein und sowohl die Diagnostik von Komorbiditäten wie auch eine umfassende Differentialdiagnostik beinhalten.
Des Weiteren wird empfohlen, die ICF im Gesundheitswesen zu etablieren. Um die aufwendigen diagnostischen Verfahren im Bereich ASS vorhalten zu können, sollen angemessene Vergütungssätze bereitgestellt werden 3 . Zur Anwendung der ICF im Gesundheitssystem ist hervorzuheben, dass im Rahmen des Beteiligungsprozesses mehrfach formuliert wurde, dass diese in der klinischen und außerklinischen medizinischen Versorgung insbesondere bei der Veranlassung weiterführender Hilfen bzw. der Vermittlung in rehabilitative Angebote zu selten zur Anwendung käme. Gleichzeitig wird die ICF im Rahmen der Umsetzung des BTHG im Rehabilitationsbereich zunehmend mehr Geltung zugewiesen. In Bayern fehlt hierzu jedoch noch eine Konkretisierung z. B. bei der Bedarfserhebung und der Umsetzung des Gesamtplanverfahrens über die Bayerischen Bezirke als Träger der Eingliederungshilfe.
Empfehlung 3 – autismus-spezifische Therapie
Die WHA Resolution 67/8 fordert, dass eine „rechtzeitige Erkennung und Behandlung von Autismus und anderen Entwicklungsstörungen entsprechend den nationalen Umständen sicherzustellen“ sei 5 . Hierzu sollen die Gesundheits- und Sozialsysteme Dienstleistungen für Familien und Einzelpersonen bereitstellen. Diese Aussage wird unterstützt durch Punkt (10) der o. g. Resolution, in dem gefordert wird, dass psychologische Unterstützung und Betreuung für Familien sowie Betroffene bereitzustellen seien. Da Autismus als Entwicklungsstörung beschrieben wird, die von Geburt an und über die ganze Lebensspanne besteht, können sowohl psychoedukative Elterntrainings und familienunterstützende Maßnahmen sowie (psycho-, heil-) therapeutische Maßnahmen von der Kindheit bis ins höhere Lebensalter erforderlich sein 11 . Die AWMF S3-Leitlinie Therapie bewertet evidenzbasierte Therapien und formuliert entsprechende Handlungsempfehlungen dazu. Für eine systematische Darstellung der gesamten Literatur zu einzelnen evidenzbasierten Therapieverfahren/-methoden wird auf diese Leitlinie verwiesen 9 ). In Bayern gibt es derzeit kaum Einrichtungen, die zeitnah nach der Diagnosestellung eine spezifische Versorgung anbieten können.
Folgende Ergebnisse wurden im Handlungsfeld ‚Behandlung der Kernsymptomatik, inkl. Komorbiditäten‘ im Rahmen der Entwicklung von empfehlungen für eine Autismus-Strategie-Bayern für das Gesundheitssystem erarbeitet:
Die Ausweitung von ambulanten, autismus-spezifischen Therapieangeboten nach SGB V, nach den Vorgaben der S-3 Leitlinie Therapie von ASS 9 soll mit Nachdruck befördert werden. Bestehende Strukturen der kinder- und jugendpsychiatrischen, erwachsenenpsychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung sollen dazu genutzt, optimiert und ausgebaut werden.
Im Bereich der therapeutischen Versorgung soll eine Flächendeckung zur verbesserten Erreichbarkeit angestrebt werden, um eine regelmäßige und den jeweiligen Bedürfnissen entsprechende Therapie zu gewährleisten. Wenn nötig, sollte die Erreichbarkeit über mobile Dienste gesichert werden.
Für die Auswahl der therapeutischen Interventionen wird auf die S3-Leitlinie Therapie 9 verwiesen. Wissen über die spezifischen Angebote sollte durch systematische Weiterbildung von Fachkräften erweitert werden.
Der Zugang zu psychotherapeutischen sowie psychiatrischen Angeboten sollte allein aufgrund einer gestellten ASS-Diagnose und unabhängig vom Grad der Behinderung ermöglicht werden.
Empfehlung 4 – psychiatrische Versorgung
Im Kontext der kinder-, jugend- und erwachsenenpsychiatrischen Versorgung gilt es zu beachten, dass durch Studien ein hoher Bedarf an Versorgung autistischer Personen belegt ist. Im Kindes- und Jugendalter ist eine hohe Komorbidität mit AHDS, soziale Ängstlichkeit, Tic- und Zwangsstörungen nachgewiesen. Ebenso finden sich gehäuft Ess- und emotionale Störungen. Im Gegensatz zu früheren Annahmen, dass Substanzkonsumstörungen (SKS) eher selten auftreten, zeigen neuere Studien, dass SKS sehr wohl bei Menschen mit ASS vorkommen können 12 , es liegen dazu jedoch wenig gesicherte Daten vor. Hier wird seitens der Autor:innen eine gezielte Exploration empfohlen. Croen et al. weisen darauf hin, dass bei Erwachsenen mit Autismus signifikant mehr Depressionen, Angstzustände, bipolare Störungen, Zwangsstörungen, Schizophrenie und Suizidversuche vorzufinden seien, als bei Erwachsenen ohne ASS 13 .
Für Krisensituationen wird in der Literatur darauf hingewiesen, dass grundsätzlich die Frage nach potenziell auslösende Umweltbedingungen und psychosoziale oder physischer Stressfaktoren der erste Schritt bei der Bewertung von Verhaltensstörungen und psychiatrischen Darstellungen für alle Altersgruppen sein sollten. Eine Umgebung, die autismus-spezifische Erfordernisse nicht berücksichtigt, kann Auslöser für zusätzliche Krisensituationen sein und dadurch eine Behandlung erschweren 14 . Um dem zu begegnen, empfiehlt zum Beispiel die französische Autismus-Strategie möglichst mobile psychiatrische Teams zu etablieren, welche auch zu Hause oder in sozialen Einrichtungen notwendige Interventionen durchführen können [vgl.14].
Folgende zentralen Ergebnisse wurden zur‚kinder- jugend- erwachsenenpsychiatrischen Versorgung‘ im Rahmen der Entwicklung von Empfehlungen für eine Autismus-Strategie-Bayern für das Gesundheitssystem erzielt:
Es wurde explizit darauf hingewiesen, dass die klinische Versorgung in den jeweiligen voll- und teilstationären Versorgungseinheiten die Besonderheiten von Menschen mit ASS berücksichtigen sollte (architektonisch z. B. Ruhebereiche, Einzelzimmer, angepasste Lichtverhältnisse; Wissensmanagement, z. B. Schulung des Behandlungsteams im alltäglichen Umgang).
Die wechselseitigen Beeinflussungen des körperlichen und psychischen Wohlbefindens, aber auch mögliche medikamentöse Nebenwirkungen sollen durch die Schaffung interdisziplinärer Versorgungsstrukturen und Verbesserung der Kooperation zwischen medizinischen, psychologischen, (sozial-)pädagogischen und anderen Berufsgruppen berücksichtigt werden.
Auf die Notwendigkeit ambulant psychiatrischer Krisendienste und deren Zuständigkeit sowie Kompetenzerweiterung zur Krisenintervention bei Menschen mit ASS wird hingewiesen.
Insbesondere sollen komorbide Problembereiche wie ADHS, Angst- und Zwangsstörungen, Depressionen, suizidale Syndrome und mögliche Substanzkonsumstörungen beachtet werden. Auch die Prüfung des Bedarfs der Bereitstellung mobiler psychiatrischer Teams z. B. über aufsuchend tätige Institutsambulanzen, in den Regionen wurde empfohlen 3 . Dies könnte auch im Rahmen der klinischen Akutversorgung über eine Stationsäquivalente Behandlung (StäB) erfolgen.
Diskussion
Die Ergebnisse zeigen, dass es im Rahmen des komplexen methodischen Vorgehens gelungen ist, konkrete Empfehlungen für die Weiterentwicklung des Versorgungssystems auszusprechen. Es liegen Erkenntnisse vor, die sowohl durch den qualitativen Erarbeitungsprozess als auch durch die Reflexion der verfügbaren Literatur gestützt werden. Durch die aktive Beteiligung verschiedenster Akteure aus unterschiedlichen Versorgungskontexten und Regionen in Bayern konnten regionale Besonderheiten bei der Formulierung der Empfehlungen und Maßnahmen berücksichtigt werden.
Footnotes
Interessenkonflikt Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Fazit.
Die Autor:innen dieses Beitrages sehen in den aufgezeigten Ergebnissen einer Autismus-Strategie-Bayern eine Chance zur qualitativen und quantitativen Weiterentwicklung der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit ASS und deren Angehörigen. Die Empfehlungen der Strategie gehen auf weitere (o.g.) Handlungsfelder ein, welche hier nicht dargestellt werden. Zur Vertiefung ist der Abschlussbericht zu den Empfehlungen für eine Bayerische Autismus-Strategie öffentlich zugänglich [siehe 3]. Zusammenfassend stellen die Autor:innen zur Weiterentwicklung des Versorgungs-(Gesundheits-)systems für Menschen mit ASS und deren Angehörigen im Kontext der gesundheitlichen Versorgung fest:
Notwendig ist die Förderung einer systematischen Aufklärungsarbeit für alle im Gesundheitswesen tätigen Professionen, die zur Sensibilisierung über das gesamte Autismus-Spektrum beiträgt, sowie eine Wissenserweiterung durch Förderung von ASS spezifischen Forschungsprojekte in der Grundlagen- und Versorgungsforschung.
Zugang zu wissenschaftlich fundiertem, autismus-spezifischem Wissen für Fachkräfte z. B. im Rahmen von Aus-, Fort- und Weiterbildungen inkl. Studiengängen ist herzustellen.
Der Zugang zu Hilfen, Ausbau von fachspezifischen Angeboten zur Früherkennung und Diagnostik, Auf- und Ausbau einer systematischen und flächendeckenden Verfügbarkeit von Autismus-Diagnostikstellen entsprechend der AWMF S3 LL ASS ist zu verbessern.
Der Zugang zu niederschwelligen Beratungsleistungen muss erleichtert werden.
Die therapeutische Versorgung von Menschen mit ASS entsprechend der AWMF S3 LL ASS, sowohl im Kinder-, Jugendlichen- und Erwachsenenbereich unter Berücksichtigung innovativer Versorgungsansätze und begleitender Koordination der Hilfen durch ein fachliches Casemanagement ist zu verbessern.
Eine angemessene Vergütung für diagnostisch/therapeutische Leistungen aller beteiligter Berufsgruppen ist sicherzustellen 3 .
Grundsätzlich wird eine Weiterentwicklung des Versorgungssystems für die Menschen mit ASS empfohlen, die nicht nur die medizinische Versorgung, sondern alle Lebensbereiche umfasst. Dies soll einer Vernachlässigung von besonders hilfebedürftigen Menschen aufgrund vorhandener Barrieren entgegenwirken und ist sowohl aus fachlichen, wirtschaftlichen wie auch ethischen Erwägungen erforderlich. Auch der bereits vorhandene normative Rahmen auf internationaler als auch nationaler Ebene fordert entsprechende Bemühungen.
Es bleibt abzuwarten, wie die politisch verantwortlichen Institutionen die vorgelegten Maßnahmeempfehlungen bewerten und welche davon in eine konkrete Umsetzung überführt werden können.
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